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Der Kanyon rotierte um seine Längsachse.

Cabrillo hätte eigentlich abgeworfen werden müssen.

Aber seine mit Adrenalin aufgeladenen Beine pressten sich noch stärker gegen den Korpus des drehfreudigen Torpedos, und sein eiserner Griff, mit dem er sich in die Gummibeschichtung krallte, hielt ihn an Ort und Stelle unverrückbar fest.

Und trotz der überraschend schnellen Rotation hörte Juan das charakteristische metallische Knacken der beiden mechanischen Arme der Nomad . Die beiden Vehikel wichen augenblicklich auseinander.

Die eine Umdrehung des Kanyon hatte die gewünschte Wirkung gehabt. Aber das AI -Programm hatte noch einen weiteren Trick auf Lager. Ein explosiver Blitzstart beschleunigte den Torpedo auf eine atemberaubende Geschwindigkeit.

Juan blieb kaum genug Zeit, den Kopf einzuziehen und auf die Gummibeschichtung zu pressen. Nur einen winzigen Moment später, und sein Genick wäre gebrochen wie die mechanischen Arme der Nomad .

Linda Ross’ Stimme krächzte in seinem Helmlautsprecher und verstummte, als er den Übertragungsbereich der drahtlosen Funkverbindung verließ. Das Tiefseetauchboot blieb weit hinter ihm in der Heckwelle des Kanyon zurück. Juan war nun ganz allein mit der Aussicht auf einen rasenden Torpedoritt in die Hölle.

Mit reiner Willenskraft hielt er sich mit der linken Hand fest, während er den Oberkörper gerade weit genug anhob, um mit der anderen Hand die Haftmine in ihrer Tasche zu ergreifen, die er sich um den Leib geschnallt hatte.

Die Haftmine war kurz vor dem Zweiten Weltkrieg entwickelt worden. Es war eine kleine Mine, konstruiert, um ein Schiff zu versenken, indem sie mit starken Magneten unterhalb der Wasserlinie an dem stählernen Schiffsrumpf befestigt wurde. Juan hatte sich eine modernisierte NATO -Version dieser Waffe beschafft.

Um auszuführen, was er sich zurechtgelegt hatte, musste er einen Punkt unterhalb der Wasserlinie aufsuchen – am besten sehr weit unterhalb. Die Waffe, die er soeben aus ihrer Tasche geholt hatte, war mit einigen der stärksten Magneten ausgestattet, die man auf dem Planeten finden konnte. Nun brauchte er nichts anderes zu tun, als die Haftmine gut einen Meter weiter nach vorn zu bewegen, auf die von der Gummibeschichtung befreite Metallfläche zu kleben und alles Weitere ihr und ihrer explosiven Technik zu überlassen.

Die nahezu unlösbare Aufgabe, mit der er jetzt konfrontiert war, bestand jedoch darin, die Mine von seinem Oberkörper auf die metallene Oberfläche zu verlagern, die er soeben freigelegt hatte. Bei der augenblicklichen Geschwindigkeit, mit der er durch den Bosporus getragen wurde, war dies vollkommen unmöglich. Der Wasserdruck, der sich ihm entgegenstellte, war zu groß, um die Mine das kurze Stück weit zu bewegen und sie am vorgesehenen Punkt zu verankern.

Seine einzige Chance ergäbe sich, wenn er es schaffte, sich auf seinem Platz zu halten und lange genug abzuwarten.

Wenn die AI -Software erwartungsgemäß funktionierte, konnte sie den Kanyon nicht ewig mit dieser Geschwindigkeit sich selbst überlassen und die programmierten Zeitvorgaben einhalten. Juan war überzeugt, dass dieser »Zwischenspurt« lediglich einen ausreichenden Abstand zur Nomad herstellen sollte – zweifellos wurde das U-Boot der Oregon vom AI -Programm als »Behinderung« identifiziert. Sobald es aber feststellte, dass diese Behinderung den erfolgreichen Abschluss der Mission nicht mehr gefährdete, würde es den Kanyon abbremsen und zum ursprünglichen Zeitplan zurückkehren.

So wie Juan es sich ausgerechnet hatte, reagierte der Kanyon schließlich auch. Der Torpedo drosselte das Tempo bis auf fünf Knoten.

Obgleich er jetzt langsamer unterwegs war, war der Wasserdruck, gegen den Juan sich behaupten musste, noch immer enorm. Die Haftmine an Ort und Stelle zu deponieren, erforderte nach wie vor seine ganze Kraft. Er hob sie mit beiden Händen an und setzte sie auf die freigelegte Metallfläche. Er betätigte den Schalter, um die Magneten zu aktivieren, und die Mine wurde mit einem metallischen Laut auf der Torpedohülle fixiert.

Cabrillo wandte sich um. Die abgebrochenen metallenen Arme der Nomad hatten das Torpedogehäuse hinter ihm noch immer fest im Griff. Das U-Boot selbst kam mit Höchstgeschwindigkeit auf ihn zu, die Armreste hatte es wie ein um Gnade bittender Sünder erhoben. Er konnte Murphs und Lindas von hinten beleuchtete Köpfe in den Bullaugen weit hinter ihm kaum erkennen.

Jetzt musste er eine Entscheidung treffen. Die Haftmine wurde mit einem Zeitzünder zur Explosion gebracht. Durch Knopfdruck konnte er eine Wartezeit von einer oder fünf Minuten festlegen. Der längere Zeitraum verschaffte ihm das größere Sicherheitspolster. Die Druckwelle einer in nächster Nähe stattfindenden Explosion könnte ihn töten.

Aber fünf Minuten waren eine lange Zeit, vor allem, wenn sich ihre Kalkulationen als falsch erweisen sollten. Was wäre, wenn die Selbstzerstörungskoordinaten weniger als fünf Minuten weit entfernt waren?

Juans Entscheidung lag eigentlich auf der Hand. Er konnte unmöglich die Leben von sechzehn Millionen Menschen aufs Spiel setzen, nur um sein eigenes zu retten.

Er wählte die Sechzig-Sekunden-Phase in der Hoffnung, dass die Nomad bis dahin nahe genug wäre, damit er rechtzeitig vor der Explosion in ihr Schutz suchen könnte. Sie würde ihn vor der Druckwelle abschirmen – solange sie weit genug von ihr entfernt waren. Anderenfalls würde er auch Murphs und Lindas Leben riskieren.

Juan ließ die Haftmine los, entspannte die Beine und ließ zu, dass der Schwung den tonnenschweren Kanyon zwischen seinen Beinen herausrutschen ließ. Eine Woge der Erleichterung erfasste ihn, während sein Körper sich bereits von den übermenschlichen Anstrengungen der letzten Minuten zu erholen begann. Er war vollkommen ausgepumpt, unfähig zu irgendeiner Aktion, und wenn es auch nur der Versuch wäre, schwimmend das Weite zu suchen. Egal, dachte er. Das Schwimmen würde er dem Kanyon überlassen.

Die schwarzen Konturen des langen Torpedos glitten langsam vor ihm her, und euphorische Leichtigkeit erfüllte ihn. Von allen verrückten Missionen, die er je durchgezogen hatte, war diese vielleicht die extremste, und doch hatte er es geschafft, sie zu einem erfolgreichen Ende zu bringen. Ein Gefühl des Triumphs breitete sich in ihm aus …

Bis ein Ruck durch sein rechtes Bein ging, das an den Kanyon gefesselt war, während er durch das trübe Wasser pflügte.

Juan hatte es zwar geschafft, den Kanyon auszuschalten. Aber jetzt sah es so aus, als habe er damit auch sein eigenes Ende besiegelt.