Juan drehte am Verschlussrad der Lukentür und betrat die Kammer hinter dem Maschinenraum, die den Mechanismus der Schiffssteuerung der Cybele beherbergte. Er ließ den Lichtkegel seiner taktischen Stablampe über die hydraulischen Zylinder und Gestänge wandern, die das Steuerruder des Schiffes nach entsprechenden elektronischen Befehlen von der Kommandobrücke bewegten. Auch wenn die Kontrollen nach der EMP -Attacke ihrer Funktion beraubt waren, behielten die Ruder noch immer ihren alten Kurs bei. Falls Juan die Cybele nicht aufhalten konnte, gelänge es ihm vielleicht trotzdem, ihr Steuerruder zu bewegen und das Schiff von Izmir wegzulenken.
Er suchte die Kammer mit seiner Stablampe ab, bis der Lichtstrahl von einem Messingrad reflektiert wurde. Es befand sich in Hüfthöhe am Ende des Lenkmechanismus.
»Da bist du ja, mein Liebling«, murmelte Juan, als er mit wenigen schnellen Schritten das Rad erreichte. Es zu drehen, erforderte keine Mühe. Juan bewegte es in die Einhundertachtzig-Grad-Position, die auf einer Skala eingezeichnet war, die die Ruderstellung anzeigte. Nach wenigen Meilen würde der Stellungswinkel des Ruders bewirken, dass das Schiff auf eine Kreisbahn einschwenkte. Aber bis dahin würde Murphs Dauerbeschuss längst seine Wirkung gezeigt haben.
Juan wischte den Schweiß weg, der in seinen Augen brannte. In der kurzen Zeit, seitdem er die Kammer betreten hatte, war die Temperatur wegen des Feuers merklich angestiegen, und schwarzer Qualm wogte über seinem Kopf und verhüllte die Decke des Raums.
Eben gerade hatte Cabrillo die Stadt vor dem sicheren Untergang bewahrt. Jetzt musste er nur noch sich selbst vor einem Ende in den Flammen retten.
***
Juan verließ den Raum, in dem die Rudermechanik des Schiffes untergebracht war, durch die Lukentür und prallte regelrecht gegen eine Wand aus glühender Hitze. Tobende Flammen umloderten den Dieselmotor, als wäre dieser eine besänftigende Opfergabe für einen zornigen Meeresgott.
Cabrillo bedeckte sein Gesicht mit den – durch Handschuhe geschützten – Händen, um den beißenden Rauch, der den Maschinenraum mittlerweile bis in den letzten Winkel ausfüllte, von seinen Augen fernzuhalten. Ein weiterer Treffer durch einen von Murphs Wolframstahlpfeilen ließ den Schiffsrumpf erklingen wie eine Totenglocke anlässlich einer – seiner – Beerdigung.
Er rannte zu der entfernten Stahlwand mit der Leiter, über die er wieder nach oben an Deck gelangte. Im Lärm der lodernden Flammen im Maschinenraum entging ihm beinahe das gedämpfte, raubtierhafte Knurren hinter ihm, während ein schweres Gewicht auf seine rechte Schulter krachte. Ein stechender Schmerz raste durch seinen Arm, der sofort vollständig gelähmt war.
Cabrillo wirbelte halb gebückt herum und duckte sich im letzten Moment vollends weg, als die massive Rohrzange mit nur wenigen Zentimetern Abstand über seinen Kopf hinweg schwang und lediglich von einem Rohrbündel hinter ihm aufgehalten wurde. Im Falle eines Treffers hätte sie ihm den Schädel zerschmettert.
Obgleich Nase und Mund des Mannes von der Sauerstoffmaske verhüllt wurden, erkannte Juan die stechenden grünen Augen und das faltige, glatt rasierte Gesicht von Sokratis Katrakis aus den Fotos in seiner Polizeiakte auf Anhieb wieder. Trotz seines vorgerückten Alters wirkte der Grieche verblüffend beweglich und stark.
Aus Angst vor der drohenden Explosionsgefahr war Juan zwar nicht bereit, seine Pistole auf dem Schiffsdeck abzufeuern, er würde in dem brennenden Maschinenraum aber auch nicht zögern, seine Waffe einzusetzen, um Katrakis davon abzuhalten, ihn zu töten.
Da sein Schussarm momentan nicht zu gebrauchen war, griff Juan mit der linken unversehrten Hand um seinen Oberkörper herum zu dem Holster auf seiner rechten Seite. Normalerweise konnte er seine Waffe innerhalb weniger als einer Sekunde ziehen und damit schießen. Doch der Pistolengriff befand sich in der für seine linke Hand ungünstigsten Position – nämlich genau genommen auf dem Kopf im Futteral des Holsters. In den wenigen Sekunden, die er brauchte, um sein Handgelenk zu drehen, damit er die Waffe fest und sicher ergreifen konnte, hatte Katrakis die Zange mit beiden Händen hoch über seinen Kopf erhoben, um mit ihr wie mit einer Axt zuzuschlagen.
Juan gewahrte die drohende Gefahr aus dem Augenwinkel und wich mit einem knappen Schritt zur Seite einem Schlag aus, der ihn niedergestreckt hätte, während er die Pistole erhob, um zu feuern. Die Zange streifte Juans Finger. Der brennende Schmerz lockerte seinen Griff, die Pistole rutschte klappernd über das Deck.
Katrakis riss die Zange bis in Brusthöhe hoch. Doch anstatt damit zuzuschlagen, stieß er sie Juan wie ein Schwert entgegen. Der massive Stahl rammte Cabrillos Brustbein, aber seine kugelsichere Weste verhinderte, dass der Knochen brach. Dennoch raubte ihm der Aufprall den Atem und trieb ihn zurück. Er stolperte so weit, bis er mit dem Rücken gegen die Wand krachte.
Katrakis griff ein weiteres Mal an und holte mit der Rohrzange zu einem letzten tödlichen Schlag aus.
Der rechte Arm war nutzlos und die linke Hand verletzt, also konnte Juan nichts anderes tun, als eine Schulter herunterzunehmen – und loszustürmen.
Er überwand den Abstand schneller, als Katrakis mit der Zange ausholen und zuschlagen konnte. Der Ellbogen des Griechen bohrte sich in Juans breiten Rücken, doch die Zange kam kaum mit seinem Oberkörper in Berührung. Juans Beine pumpten wie bei einem Kurzstreckensprint, während er mit seiner Schulter den mageren Oberkörper des Griechen traf. Das Gewicht und die Kraft des jüngeren Mannes waren für die deutlich kleinere Gestalt des Älteren zu viel. Juan rammte dessen Wirbelsäule gegen einen Stützbalken, sodass er die Zange fallen ließ.
Während Katrakis noch immer mit wackligen Knien am Stützbalken lehnte, holte Juan aus, um ihn mit dem linken Ellbogen zu treffen, aber der Grieche verpasste ihm zwei schnelle Treffer und hämmerte seine knochigen Fäuste seitlich gegen Juans Gesicht. Mit tränenden Augen und einem schrillen Klingeln in den Ohren wischte Juan mit dem Ellbogen Katrakis’ wirbelnde Fäuste beiseite. Der erste Versuch verfehlte noch sein Ziel. Cabrillo holte jedoch abermals aus und legte sein ganzes Gewicht in diesen Rammstoß. Sein Ellbogen vollzog den Kontakt, krachte gegen den Hals des Griechen und zerschmetterte seinen Kehlkopf.
Katrakis fasste sich an den Hals, rang nach Luft, die nicht eindringen wollte, und stolperte zur Seite weg. Juan folgte ihm, schlang seinen intakten linken Arm um seine Taille, um ihn zu Boden zu ziehen und endgültig außer Gefecht zu setzen, ehe er eine andere Waffe finden konnte.
In diesem Moment warf sich Katrakis in Juans Griff herum und streckte seine zu Klauen gekrümmten Finger nach Juans Gesicht aus, um ihm die Augen aus den Höhlen zu drücken. Juan verpasste ihm einen wuchtigen Kopfstoß auf die Nase. Blut explodierte in der Sauerstoffmaske des alten Mannes, während er rückwärtstaumelte, die Arme weit ausgebreitet, um das Gleichgewicht zu halten.
Was misslang. Stattdessen stürzte er in die prasselnden Flammen, die den Dieselmotor verschlangen. Der mit Methan getränkte Overall des Griechen loderte auf wie eine Schweißflamme.
Was immer an Schmerzensschreien Katrakis noch über die Lippen brachte, sie wurden von dem schmelzenden Plastikmaterial seiner Sauerstoffmaske erstickt, während er zu Boden stürzte und sich im rasenden Feuer wälzte.
Juan Cabrillo verließ die grässliche Szene im Laufschritt und stützte seine betäubte Schulter mit der ramponierten Hand. Er ließ seine Pistole zurück. Selbst wenn er sie fände, den Abzug könnte er ohnehin nicht betätigen. Wichtig war in diesem Moment nur, das qualmende Inferno schnellstens hinter sich zu lassen, bevor es ihn erstickte.
Immer zwei Stufen auf einmal nehmend, rannte er die Treppe hinauf zum Deck hoch über ihm und zu dem, was immer ihn dort erwartete.