Kapitel 3
HARLEY
Als ich die Main Street erreiche, lehne ich mich vor einem Diner gegen die Wand und atme tief durch. »Süße, das ist vielleicht das Schwerste, was Mommy je machen musste. Nun ja, von der Geburt abgesehen. Aber dafür habe ich dich bekommen. Das war es allemal wert.«
Kichernd tätschelt mir Calista die Wangen – wie eben im Restaurant. Ich liebe die Tatsache, dass sie mich unwissentlich davor bewahrt hat, komplett durchzudrehen, nachdem ich einen weiteren Fakt über ihren Vater herausgefunden habe. Er ist ein Lügner.
»Oh, diesen Blick kenne ich.« Zu meiner Rechten taucht eine blonde Frau auf. Sie trägt eine türkisfarbene Diner-Uniform mit gepunkteten rosa Borten am Ausschnitt und an den Ärmeln. »Kommen Sie rein. Kuchen geht aufs Haus.«
Ihr Lächeln ist einladend. Nachdem ich gerade von einer Horde Fremder wertend begutachtet wurde, könnte ich durchaus jemanden im Team Harley gebrauchen. Außerdem hat sie Kuchen. Auf ihrem schwarzen Namensschild steht in Weiß Karen geschrieben.
»Danke. Kuchen klingt großartig, aber ich bezahle dafür.« Ich folge ihr hinein.
»Können Sie es fassen, dass wir so spät noch Schnee haben? Aber so ist das nun mal, wenn man in Alaska lebt. Sind Sie neu in der Stadt?«
Karen schnappt sich eine Speisekarte und trägt einen Hochstuhl zu einem der hinteren Tische. »Darf ich?«, fragt sie und streckt die Arme nach Calista aus.
Langsam wird sie schwer. Die Dame scheint mich zu verstehen, obwohl sie mich nicht kennt. »Danke«, murmle ich, reiche ihr Calista und schlüpfe aus meinem nassen Mantel.
»Oh, wie niedlich sie ist. Ich sage meiner Tochter schon die ganze Zeit, dass ich endlich ein Enkelkind will.«
»Sagen
ist ja wohl untertrieben. Sie hat sich erst verlobt. Gib ihr ein wenig Zeit.« Der Mann hinter der Theke dreht sich lächelnd zu uns um. Er will Karen ganz offensichtlich necken.
Sie winkt ab und verdreht die Augen. Er nickt, als wollte er sagen: »Glaub mir.«
Sie sind süß.
»Wie auch immer.« Sie schließt den Sicherheitsgurt und fährt Calista durchs Haar. »Welchen Kuchen hätten Sie denn gern?«
Ich werfe einen Blick in die Speisekarte. Selenes Essen war besser als gedacht, aber irgendwie habe ich Hunger. Vielleicht ist es auch nur emotionaler Hunger. Ist das nicht immer so? »Ich nehme eine Portion Pommes. Und wie wäre es mit Blaubeerkuchen?«, frage ich Calista, die den Mann hinterm Tresen anstarrt.
Er hält sich die Hände vors Gesicht und streckt ihr dann die Zunge heraus. Calistas Lachen klingt durch das Restaurant.
»Und ich
bin diejenige, die unbedingt ein Enkelkind will.« Lachend schüttelt Karen den Kopf. »Bin sofort wieder da. Etwas zu trinken? Kaffee?«
»Ja, bitte. Aber entkoffeiniert.« Die Zeiten, als ich nach dem Abendessen noch Koffein konsumieren konnte, sind lange vorbei. Wenn sich das Leben nur noch um ein achtzehn Monate altes Kind dreht, muss man früh ins Bett und früh wieder raus.
Sie nickt und geht.
Ich höre, wie der Mann zu Karen sagt, wie süß Calista sei. Und das ist sie. Ich krame in meiner Handtasche nach ihrem Stoffbuch und lege es ihr hin. Sofort legt sie den Finger auf die aufgestickte Kuh und sagt: »Muh.«
»Oh, sie kennt schon die Tiere?« Karen stellt mir die Tasse hin und schenkt Kaffee ein. »Ich weiß noch, wie besorgt ich war, ob meine Tochter alle Entwicklungsstufen rechtzeitig erreichen würde.«
»Ja. Ich hätte nie gedacht, dass ich ihr das Alphabet so früh aufsagen und hoffen würde, dass sie es sich merken kann. Ich meine, sie geht noch nicht mal aufs Klo.«
Karen lacht. »Der Druck, der auf Müttern lastet, ist hoch.« Als ich nach dem Zucker greife, begutachtet sie meine Hand. »Vor allem auf alleinerziehenden Müttern.«
Ich ziehe die Hand zurück. Diese Frau ist neugierig. Ich darf niemandem trauen in dieser Stadt. Was habe ich mir nur dabei gedacht?
»Können wir unsere Bestellung auch mitnehmen?«, frage ich.
Sie runzelt die Stirn und sieht den Mann hinterm Tresen an, der uns bestimmt ebenfalls anstarrt. Das hier ist nicht Seattle. Wir sind hier in einer alaskischen Kleinstadt. Wahrscheinlich wissen sie bereits, dass ich auf der Suche nach dem Vater meiner Kleinen ein Restaurant gestürmt habe. Nachrichten verbreiten sich hier bestimmt rasant.
»Tut mir leid. Ich wollte nicht unverschämt sein.« Karen legt die Hand auf ihre Brust. »Ich war auch alleinerziehend. Ich wollte nur helfen. Das ist alles. Tut mir leid, wenn ich zu weit gegangen bin. Aber bleiben Sie doch bitte hier im Warmen. Essen Sie in Ruhe Ihre Pommes. Brian kann sich
solange um Calista kümmern, damit Sie mal einen Moment für sich haben.«
Ihr herzliches Lächeln bestätigt mein Bauchgefühl, das ich draußen hatte. Sie ist eine nette Frau. Ich höre immer auf mein Bauchgefühl. Deshalb habe ich Denver, ähm, Rome damals auch mit nach Hause
genommen. Mann, daran werde ich mich erst noch gewöhnen müssen. Wie viele Briefe habe ich in den letzten zwei Jahren begonnen zu schreiben, die immer an Denver gerichtet waren?
»Danke«, sage ich, damit sie endlich aufhört, mich mitleidig anzusehen.
Normalerweise nehme ich es nicht ernst, wenn mich jemand wie sein persönliches Sozialprojekt behandelt. Aber sie war auch alleinerziehende Mutter. Sie versteht, dass ich in den letzten achtzehn Monaten nur Ruhe hatte, wenn ich in der Schule oder bei der Arbeit war. Nicht, dass ich etwas daran ändern wollen würde.
Lachend wirft Calista den Kopf in den Nacken. Ich lächle und frage mich, wie sie diese Stadt und ihre Bewohner sieht. Alles, was wir kennen, ist anders. Trotzdem gibt es immer noch nur uns beide.
Mein Handy piept in der Windeltasche, also wühle ich danach.
MIRANDA:
Hast du die Tat vollbracht?
ICH:
Das klingt, als wäre es eine spaßige Angelegenheit
.
MIRANDA:
Kannst du reden?
ICH:
Nein. Zu viele Ohren. Später?
MIRANDA:
Aber hast du ihn gesehen?
ICH:
Falls du damit Rome und nicht Denver meinst, ja
.
MIRANDA:
Wie meinst du das?
ICH:
Denver IST Rome. Sie sind Zwillinge, die mit den Frauen, mit denen sie schlafen, gern Spielchen spielen
.
MIRANDA:
Heißt das, sie haben mitten in der Nacht Rollen getauscht?
Manchmal wundere ich mich über Miranda.
ICH:
Das hätte ich gemerkt
.
MIRANDA:
Könnte doch sein, wenn sie eineiige Zwillinge sind. Du pennst ein, er schleicht sich aus dem Zimmer und wird von seinem IDENTISCHEN Bruder abgelöst. Was meintest du, wie oft ihr es in dieser Nacht getrieben hättet? Ich dachte immer, du übertreibst. Ich meine, ein Mann
…
ICH:
Danke, dass du mir einen Einblick in dein verrücktes Gehirn gewährt hast
.
MIRANDA:
Jederzeit. Meine Wahnvorstellungen sind auch deine Wahnvorstellungen
.
ICH:
Ich glaube, er hat eine große Familie
.
MIRANDA
:
Haben eineiige Zwillinge dieselbe DNA? Woher willst du wissen, ob es Rome oder Denver ist?
Ich verdrehe die Augen. Meiner besten Freundin fällt es schwer, nicht vom Thema abzukommen.
ICH
:
Keine Ahnung. Aber da ich nur mit EINEM geschlafen habe, mache ich mir darüber keinen Kopf
.
MIRANDA:
Wie geht’s Calista? Ich vermisse mein pausbackiges Mädchen
.
Jetzt ist Calista diejenige, die sich die Hände vors Gesicht hält. Sie ist der Traum eines jeden Kidnappers. Man spielt nur mit ihr Verstecken, und schon liebt sie einen. Der Mann steht wieder hinter der Bar und tut, als würde er auf einer Rolltreppe stehen oder eine Treppe hinabsteigen. Jetzt fährt er wohl die großen Geschütze auf.
ICH:
Es geht ihr gut. Hat schon Fans
.
MIRANDA:
Natürlich hat sie schon Fans. Ich sag’s dir. Sie wird mal eine Herzensbrecherin
.
Nickend tippe ich eine Antwort.
ICH:
Ich muss aus dieser Stadt verschwinden
…
Scheiß drauf. Ich klicke auf ihre Nummer, und sie geht sofort ran.
»Ich kann dir nicht weiterschreiben. Ich bin müde, und meine Finger tun weh«, jammere ich.
Karen serviert mir die Pommes und deutet wortlos auf die Ketchup-Flasche auf dem Tisch. Dann setzt sie sich, nimmt eine Gabel, spießt ein kleines Stück Kuchen auf und hält es Calista vor den Mund.
Calista reißt die Augen auf. Dabei warne ich sie immer wieder vor Fremden und dass sie keinem trauen soll, den wir nicht kennen.
»Du klingst erschöpft«, sagt Miranda.
»Bin ich auch. Aber bald bin ich wieder zu Hause.«
»Wann?«, fragt Miranda. Ich merke, dass sie mich auf Lautsprecher gestellt hat. Im Hintergrund höre ich Musik, Seufzen und Stöhnen.
»Sind wir allein?«, frage ich.
»Keine Sorge. Mein Patient trägt Kopfhörer.«
Ich kichere.
Sie ist in Seattle und wieder einen Schritt näher an ihrem Ziel, anerkannte Masseurin zu werden, während ich hier in Alaska sitze und versuche, einen Typen, der mir nicht mal seinen richtigen Namen verraten hat, dazu zu bringen, mir seine DNA zu geben.
»Ich will gar nicht wissen, wie du es überhaupt geschafft hast, mir zu schreiben. Ich lasse dich mal weitermachen. Wir können morgen noch mal plaudern.« Die Pommes rufen schon nach mir. Nach dem, was mir das Leben angetan hat, habe ich sie mehr als verdient.
»Ja, ich sollte besser auflegen. Ich glaube, dem Typen ist nicht klar, dass er hier nicht in einem Massagesalon mit Happy End ist.«
Ich höre seine Stimme und frage mich, ob er seine Ohrstöpsel tatsächlich drin hatte oder nicht. Sie fangen an zu streiten. Ich lege lieber auf, um in Ruhe meine fettigen Pommes zu genießen. Na ja, Ruhe ist übertrieben, denn Brian hat sich nun auch noch zu uns gesetzt, um Calista gemeinsam mit Karen zu bespaßen. Calista benimmt sich, als wäre sie das unkomplizierteste Baby aller Zeiten.
Versucht mal, ihr Zucchini oder grüne Bohnen zu geben. Dann werdet ihr schon sehen, wie unkompliziert sie ist.
»Eine Freundin?«, fragt Karen und blickt auf mein Smartphone.
»Ja.« Ich tunke eine Pommes in Ketchup.
Ich sehe mich um. Sie muss sich doch bestimmt noch um andere Gäste kümmern. Aber die anderen Sitzecken sind alle leer. Dann hat sie
wohl alle Zeit der Welt.
»Ist sie von hier?«
»Nein.« Ich schüttle den Kopf.
»Man-da?« Quietschend deutet Calista auf mein Handy, als das Foto meiner Freundin auf dem Display aufleuchtet.
Schnell drücke ich den roten Hörer, bevor Brian und Karen ihrer Blickrichtung folgen können.
»Sind Sie neu in Lake Starlight?«, fragt Karen zögerlich. Anscheinend hat sie Angst, mich zu verscheuchen.
»Ich bin nur für ein paar Tage hier.«
»Das habe ich mir gedacht. An die Kleine könnte ich mich erinnern.« Karen rückt näher an Calista heran und zieht die Nase kraus.
Ich lächle. Brian kommt mir irgendwie bekannt vor. Kenne ich ihn? Natürlich nicht.
Da sitzen wir nun, während ich meine Pommes esse und Calista uns unterhält. Manchmal ist es einfacher, wenn sie dabei ist. Dann muss ich keine seltsamen Gespräche führen.
»Übernachten Sie im Glacier Point?«, fragt Brian. »Wir kennen den …«
»Cozy Cottage B & B«, sage ich, bevor mir klar wird, dass ich ihnen gerade meinen Aufenthaltsort verraten habe.
Okay, Benson. Cool bleiben. Wir sind hier nicht bei Law & Order
.
»Oh, Selene ist die Beste. Er ist mit ihr zur Highschool gegangen.« Karen deutet auf Brian.
»Sie war schon immer ein wenig exzentrisch, aber nett. Sie werden Ihren Aufenthalt sicherlich genießen«, sagt er. »Außerdem befindet sich die Unterkunft am Stadtrand. Da haben Sie Ihre Ruhe vor den ganzen Touristen.«
»Touristen? Ist Lake Starlight dafür denn groß genug? Es wirkt so klein.« Ich stopfe mir noch mehr Pommes in den Mund und wundere mich, warum ich Fragen stelle, die mich nicht interessieren.
Karen sieht Brian an. »Die Menschen lieben Kleinstädte. Da wir immer noch Schnee haben, ist das Glacier Point bestimmt komplett ausgebucht. Wyatt hat mir erst neulich erzählt, dass sie noch nie so viele Buchungen hatten wie diesen Winter …«
Karen nickt. Es ist offensichtlich, dass sie den Besitzer des Glacier Point kennen.
»Und mit den ganzen Läden in der Innenstadt wird das neue Restaurant meines Neffen bestimmt jede Menge Aufmerksamkeit bekommen. Er hat in Europa eine Ausbildung zum Koch gemacht, bevor er wieder zurückgekommen ist.«
»Neffe?« Ich verschlucke mich und muss husten.
Brian wartet kurz, bis ich mich wieder gefangen habe, bevor er fortfährt. »Ja. Er hat es noch nicht eröffnet. Die ganze Familie ist heute Abend dort, aber Karen wurde kurzfristig angerufen. Also leiste ich ihr Gesellschaft.«
»Ich habe dir gesagt, dass du bleiben sollst«, erwidert sie und schüttelt den Kopf, als wollte sie mir sagen, dass sie es mehr als einmal versucht hat.
»Nicht ohne dich. Wir machen das zusammen.« Er tätschelt ihr Knie, und sie sieht ihn an, als wäre er ihr Retter in der Not.
Wie sich das wohl anfühlt? Keine Ahnung. Ich musste mich schon immer auf mich selbst verlassen.
»Wie heißt das Restaurant?«, frage ich.
Es gibt doch bestimmt zwei Restaurants, die bald eröffnen, heute aber eine Privatfeier geschmissen haben, oder?
»Terra & Mare.«
»Denver, ähm, Rome ist Ihr Neffe?«, frage ich, greife nach Calistas Buch und werfe es in die Windeltasche.
»Beide, ja.« Er lächelt wie ein stolzer Vater. »Kennen Sie sie?« Sein Blick fällt auf Calista.
Ich schnappe mir unsere Jacken, schultere die Tasche und will
Calista aus dem Hochstuhl heben, doch sie ist immer noch angeschnallt.
Immer wieder schreit sie »Mama, Mama« und fängt an zu weinen.
»Moment.« Karen löst den Gurt. »Entgeht uns gerade irgendwas?«
Ich hebe Calista aus dem Stuhl und setze sie auf meine Hüfte. Mein Herz hämmert wie verrückt.
»Danke für alles«, sage ich, krame Geld aus meiner Handtasche und lege es auf den Tisch.
»Warten Sie«, ruft mir Karen hinterher, doch ich drücke die Tür auf und verschwinde so schnell wie möglich.
Erst als wir um die Ecke gebogen sind, bleibe ich stehen, stelle Calista auf den Boden und gehe in die Hocke, um ihr den Mantel anzuziehen. »Wärst du für mich nicht das Wichtigste auf der Welt, wären wir jetzt nicht hier.«
Calista fällt in meine Arme und legt den Kopf an meine Schulter. Ich nehme sie hoch und rufe ein Uber. Ich wünschte, der Fahrer könnte mich noch heute Abend zurück nach Seattle bringen. Erwachsen zu sein ist scheiße!