9. Kapitel

»Dieser Haufen bringt mich immer wieder zum Staunen«, murmelte Rocky, als sich Daisy zu ihm hinter die Bar gesellte, um ihm zur Hand zu gehen. »Ich dachte immer, Schriftsteller seien stille, verhuschte Typen, die Tweed tragen und keiner Fliege etwas zuleide tun können. Unfassbar, dass sie derart viel Lärm machen und so viel trinken. Ich sage dir, diese Bücherwürmer wissen, wie man feiert.«

»Wahrscheinlich freuen sie sich einfach, wenn sie mal ins Freie dürfen.« Anders als Rocky senkte Daisy ihre Stimme nicht. Das war ohnehin sinnlos. Die Autorengruppe, die sich alle drei Monate im Hotel zu Mittagessen und Klatsch und Tratsch traf, netzwerkte wie verrückt und kreischte beim Anblick jedes Neuankömmlings kollektiv auf. Mit echten Menschen reden zu können, anstatt nur über fiktive Menschen zu schreiben,

»Vergiss nicht, das ich über Mittag eine Stunde frei habe«, rief Daisy ihm in Erinnerung, während sie diverse Schweppes-Flaschen in eine Reihe von Gläsern entleerte.

»Von eins bis zwei, ich weiß.« Rocky warf Eiswürfel in einen Tumbler und fragte zögernd: »Äh … freust du dich darauf?«

Mein Gott, war das jetzt zu krass? Er hatte keine Ahnung. Es war eine dieser merkwürdigen Situationen, die in keinem Etikettehandbuch erwähnt wurden. Nicht, dass er je eines gelesen hätte.

»Ich weiß nicht, ob ich mich wirklich darauf freue.« Sie zog eine Schnute. »Kommt vermutlich darauf an, wie der Typ ist. Er war scharf darauf und ich wollte ihn nicht enttäuschen.«

»Eine Art Blind Date.« Rocky wünschte, er hätte das nicht gesagt. Wie kam er nur immer auf so einen Quatsch?

Aber Daisy grinste ihn an. »Du weißt schon, dass du ein hoffnungsloser Fall bist, oder? Dieser Termin um 13 Uhr ist alles andere als ein Blind Date. Und jetzt solltest du dich besser an das halten, was du am Besten kannst: Drinks servieren.«

»Ich weiß.« Rocky entschuldigte sich mental aus tiefstem Herzen. »Tut mir Leid.«

»Themawechsel: Sehe ich gut aus?«

Genug der Entschuldigungen. Er musterte Daisy, die sich neben ihm drehte, mit professionellem Auge. »Du siehst einfach schrecklich aus!«

 

Barney Usher kam zu früh. Viel zu früh. Der Zug aus Manchester hatte Bristol Parkway pünktlich um elf Uhr erreicht. Er war in ein Taxi gesprungen und kam exakt um 11 Uhr 23 in Colworth an.

Das bedeutete, er hatte über eineinhalb Stunden totzuschlagen. Barney fühlte sich wie ein Kind, das am Weihnachtsmorgen um fünf Uhr früh aufwacht und genau weiß, dass seine Eltern ihm unter Androhung körperlicher Züchtigung strikt untersagt hatten, sie vor sieben Uhr zu wecken.

Die Tatsache, dass ihm auch übel war, lag zum Teil darin begründet, dass er die letzten zwanzig Minuten in einem geschlossenen Taxi mit seinem eigenen Aftershave zugebracht hatte. In seinem nervösen Zustand hatte er viel zu viel Kouros aufgelegt.

Der Taxifahrer grinste ihn wissend an, als Barney zahlte und ein großzügiges Trinkgeld aufschlug.

»Wir treffen uns wohl mit einer Dame, was?«

Barney, der über ein Jahr auf diesen Tag gewartet hatte, erwiderte gefühlvoll: »O ja.«

Jetzt, da er endlich in Colworth war, konnte er sich entspannen und er freute sich, jeden Zentimeter des Dorfes zu erforschen.

Niedliche Cotswold-Steinhäuser zierten die meandernde Hauptstraße. Ein Fluss floss durch die Dorfesmitte, und sanfte Hügel erhoben sich zu beiden Seiten. Auf Barney, der durch und durch Stadtmensch war, wirkte alles unglaublich pittoresk, wie aus einem Disney-Film. Kaum zu glauben, dass hier echte Menschen wohnten, aber das taten sie. Eine echte Frau trat in diesem Augenblick aus ihrem Cottage an der Hauptstraße und ging in Richtung des Dorfladens, wobei sie einen dieser Einkaufstrolleys für alte Leute hinter sich her zog.

Barney fragte sich, warum Einkaufstrolleys immer karierte Bezüge hatten.

Gleichzeitig wunderte er sich, wie entspannt die alte Frau schien. Jeder Rentner, der in Manchester aus seiner Bleibe trat, würde schon längst die Straße entlanghasten, in ständiger Angst, von irgendeinem Psychopathen oder verrückten Drogenabhängigen überfallen zu werden. Doch diese Frau blieb tatsächlich stehen, um eine fette Angorakatze auf dem Gartenmäuerchen ihres Nachbarn zu streicheln.

Barney ließ sich bei der Erkundung des Dorfes Zeit und genoss jede Sekunde. Es gab drei Souvenirläden und einen Tante-Emma-Laden, in dem auch die Post untergebracht war. Eine Kirche. Ein Pub. Und eine erstaunliche Anzahl an Touristen, wenn man bedachte, dass es erst 11 Uhr 30 war und

Und natürlich gab es noch das Hotel.

Barney hatte seine Hausaufgaben gemacht, er wusste, dass Colworth als eines der schönsten Dörfer Englands galt. Aber es haute ihn dennoch um, wie phantastisch es an einem eiskalten Morgen Ende Januar aussah.

Schon wegen des Aftershave war er froh, durch das Dorf laufen zu können. Schließlich wollte er einen guten Eindruck auf Daisy Standish machen und sie nicht dazu bringen, sich im nächstbesten Blumenbeet zu übergeben.

Barney sah zum hundertsten Mal auf seine Armbanduhr und beschloss, dem Tante-Emma-Post-Laden einen Besuch abzustatten.

Als er auf den Laden zuging, öffnete sich die Tür und eine junge Frau manövrierte unter Schwierigkeiten einen Kinderwagen auf den Bürgersteig. Barney sah zu, wie sie sich abmühte, die Räder nach vorn auszurichten, aber irgendetwas klemmte.

»Tut mir Leid, ich bin Ihnen im Weg«, keuchte die Frau und prüfte, ob sie auch wirklich die Bremse gelockert hatte. »Die verdammten Räder haben sich verhakt. Ich weiß nicht, wieso.«

Sie war jung und hübsch, mit großen, grauen Augen und dunkelbraunen, schulterlangen Haaren. Das Baby war dagegen ziemlich blond mit strahlend blauen Augen, die blendend zu seinem einteiligen Schneeanzug passten. Es fühlte sich von dem vielen Schieben und Ruckeln sehr gut unterhalten, winkte mit seinem Ribena-Fläschchen und kreischte verzückt.

»Moment, ich weiß, woran es liegt.« Barney ging in die Knie und folgte einem Wollstrang aus den Fäustlingen des Babys, der sich fest um eines der vorderen Räder geschlungen hatte. »Das Vorderrad wurde erdrosselt. Halten Sie mal still … «

Der Wollfaden war schlammverkrustet und ölig. Vorsichtig löste er ihn vom Rad. Als er sich dabei nach vorn beugte, spürte er, wie ihm etwas Kaltes in den Nacken tropfte.

»Ach herrje, Freddie, lass das! Gib es mir!«, rief die junge Frau, und das Baby brüllte empört auf. Über Barneys Kopf

»Schon erledigt.« Triumphierend setzte er sich auf die Fersen und hielt das befreite Stück Wollschnur vom Fäustling in der Hand. Das Baby langte danach, ließ dabei das Fläschchen fallen, sah, wie sich die Überreste seines Johannisbeersaftes in den Rinnstein ergossen, und fing prompt an zu heulen.

»Trottel!«, rief die junge Frau und fügte rasch in Richtung Barney hinzu: »Nicht Sie! Sie habe ich nicht gemeint! O nein, jetzt sind Sie mit Ribena getränkt. Wie peinlich!«

Sie wühlte in der Tasche, die am Griff des Kinderwagens baumelte, und zog ein Päckchen Babyfeuchttücher hervor. Barney wischte sich damit über Gesicht und Nacken. Das Baby, dessen Schreilautstärke sich inzwischen verdoppelt hatte, trommelte mit den Fersen gegen die Fußstütze und wies mit den Fingerchen entgeistert auf das Ribena-Fläschchen.

»Es tut mir wirklich Leid. Wenn Freddie erst mal anfängt, kann ihm nichts Einhalt gebieten«, entschuldigte sich die junge Frau überschwänglich. »Sie wollten mir nur helfen, und jetzt sehen Sie sich an. Ich fühle mich schrecklich.«

»Alles in Ordnung, ehrlich«, versicherte ihr Barney. »Und der Kleine regt sich nur auf, weil er seinen Saft verschüttet hat. Ich kaufe ihm einen neuen, dann ist er gleich wieder guter Dinge.« Barney drohte dem Winzling spielerisch mit dem Finger. Er mochte Kinder. Als er anfing zu schielen und eine Grimasse zu schneiden, war Freddie so fasziniert, dass er tatsächlich aufhörte zu plärren. Gleich darauf fiel ihm jedoch wieder ein, warum er geschrien hatte, und es ging von neuem los. Barney lachte.

»Mein Gott, Sie sind so was von nett«, staunte die junge Frau.

»Ich habe drei Neffen und vier Nichten«, klärte Barney sie auf. »Was Kinder angeht, habe ich reichlich Erfahrung. Warten Sie hier – gehen Sie nicht weg.«

Zwei Minuten später kam er mit zwei

»Also wirklich.« Die junge Frau hob protestierend die Hände, als sie die Black Magic-Schachtel sah. »Ich kann Ihnen unmöglich erlauben, mir Pralinen zu schenken.«

»Eigentlich habe ich die Pralinen auch gar nicht für Sie besorgt.« Barney grinste, als sie daraufhin errötete.

»Tut mir Leid. Ignorieren Sie mich einfach. Ich bin ein Idiot.«

»Hier bitte, nicht alles auf einmal trinken.« Barney schob den Plastikstrohhalm in den Ribena-Flaschenhals und platzierte das Fläschchen vorsichtig in Freddies rundliche Händchen. Das brachte ihm ein fröhliches Gurgeln ein, gefolgt von einem gewaltigen Rülpser.

»Er sagt danke«, übersetzte die dunkelhaarige Frau.

»Ich weiß. Seine Hände sind übrigens kalt.«

»Wem sagen Sie das.« Sie rollte in gespielter Verzweiflung mit den Augen. »Er behält seine Fäustlinge keine zwei Minuten an.«

»Die kann er später haben.« Barney ließ den Milky-Riegel und das zweite Saftfläschchen in die Tasche mit Freddies Windeln und Babyfeuchttüchern gleiten.

»O Gott, Sie haben Ribena auf dem Hemd! Der Kragen ist vollgetränkt.« Sie wirkte entsetzt.

Barney konnte es nicht sehen, aber fühlen. »Vielleicht können wir den Saft irgendwo auswaschen.« Es war sein bestes weißes Hemd. Er hatte es extra für diesen Tag gekauft. Ihm kam der Gedanke, dass diese hübsche Frau hier im Dorf wohnen musste und ihm anbieten könnte, sie nach Hause zu begleiten, um dort sein Hemd auszuwaschen. »Ich bin mit jemandem im Hotel verabredet«, fügte er als Erklärung hinzu. »Da möchte ich so gut wie möglich aussehen.«

»Mir fällt da etwas ein.« Gedankenlesen gehörte jedoch nicht zu den Stärken der jungen Frau. »Das Pub am Ende der Straße hat schon geöffnet. Dort können wir uns um Ihr

Barney zwang sich, nicht enttäuscht zu sein. Natürlich konnte sie keinen Wildfremden zu sich nach Hause einladen. Soweit es sie betraf, konnte er durchaus ein axtschwingender Wahnsinniger sein.

Oder sie war verheiratet. Nur weil so gut wie alle Frauen, die er von zu Hause kannte, allein erziehende Mütter waren, musste das nicht heißen, dass es nicht noch ein paar Frauen gab, die ihre Familiengründung auf traditionelle Weise betrieben.

Barneys Magen tat einen Sprung, als er auf ihre linke Hand sah. Kein Ring, abgesehen von einem großen, spiralförmigen Silberring an ihrem Daumen. Also nicht verheiratet. Obwohl sie durchaus mit einem Lebensabschnittsgefährten zusammenleben konnte, dem es nicht gefiel, wenn sie unbekannte Männer nach Hause schleppte, um ihnen lila Flecke aus dem Hemd zu waschen.

Barney hoffte, dass dem nicht so war.

Das Pub, das lächerlich malerische Hollybush Inn, öffnete früh, um den Touristen Kaffee und überteuerte Croissants anzubieten. Gott sei Dank musste niemand, zumindest keine Dame, auf die Toilette. Nachdem er sich seines marineblauen Sweaters und seines brandneuen Hemdes entledigt hatte, sah Barney zu, wie die dunkelhaarige Frau den Kragen unter dem Heißwasserhahn auswusch. Sie gab Flüssigseife aus dem Plastikspender auf den Kragen und rieb ihn anschließend mit aller Kraft. Freddie entdeckte in seinem Kinderwagen zu seiner großen Verzückung, dass er heiße Luft aus der Maschine an der Wand herauslocken konnte, wenn er mit seinen fetten Fingerchen wedelte.

Fünfzehn Minuten später war das Hemd trocken.

»Wir haben ein Vermögen an Heißluft verbraucht«, sagte Barney. »Jetzt sollten wir wenigstens zwei Tassen Kaffee trinken.«

Freddies Mutter sah bedauernd auf ihre Uhr. »Ich kann nicht, wir müssen weiter. Zahnarzttermin.« Sie schnitt eine Grimasse, dann zupfte sie sein Hemd zurecht. »Zumindest

Sie hatte natürlich Recht. Ein paar Minuten lang hatte er völlig vergessen, was ihn hergeführt hatte.

»Danke«, sagte Barney.

Freddies Mutter grinste breit. »Es war mir ein Vergnügen.«

 

Tara hatte die Hälfte ihrer Schicht hinter sich und putzte gerade auf Automatikpilot Fliesen. Ihr Körper mochte schwungvoll arbeiten, aber ihr Geist weilte anderswo, grübelte in einer Dauerschleife verärgert über die entsetzliche Entdeckung der vergangenen Nacht nach.

Es war ganz und gar furchtbar gewesen. Gerade hatte sie noch auf dem Sofa gelegen und beglückt irgendein rührseliges Mädchen in einer EastEnders-Episode jammern hören: »Warum werd’ ich ständig sitzengelass’n? Was is’n verkehrt mit mir, hä?« Im nächsten Augenblick war Tara ein merkwürdig schleichendes Gefühl heimtückisch den Rücken hochgekrochen. Ruckartig überkam sie dann die Erkenntnis, dass es sich um ein Gefühl der … Vertrautheit handelte.

EastEnders war vergessen. Tara zählte mental ihre ehemaligen Freunde ab. O Gott, war sie wirklich ein solcher Loser?

Es hatte den Anschein. Immer noch zählend erreichte Tara ihr sechzehntes und fünfzehntes Lebensjahr, ihre frühen Ausgehjahre.

Da war Trevor, mit der außergewöhnlichen Hoch-Tief-Stimme – Gott, wenn er sprach, klang es wie Jodeln. Dann Dave mit den lustigen Ohren, aber einem süßen Lächeln. Und Andy Buckingham, der zwar der Star der Fußballmannschaft an der Schule war, der aber dünne Storchenbeine und ein behaartes Muttermal auf der Wange hatte. Keinen von ihnen hätte man als perfekt bezeichnen können und doch …

»Hi, ich bin’s.« Daisy lugte um die Badezimmertür. »Hast du Lust, heute Abend auszugehen? Wir könnten ein paar Clubs in Bath unsicher machen.«

Als Tara nicht reagierte, warnte sie: »Wenn du die

»Jeder Junge, mit dem ich jemals ausgegangen bin, hat mit mir Schluss gemacht«, brach es aus Tara heraus. »Jeder einzelne, verblödete, dämliche Freund, den ich jemals hatte! Das ist mir erst letzte Nacht klar geworden. Ich habe sogar alle Namen schriftlich aufgelistet, damit ich nicht versehentlich einen vergesse. Mein Gott, kannst du dir das vorstellen? Es ist so demütigend. Ich habe nie Schluss gemacht, immer war ich diejenige, mit der Schluss gemacht wurde!«

»Komm schon, jetzt übertreibst du aber.« Daisy versuchte sie zu trösten. »Das kann nicht stimmen.«

»Es stimmt wohl!«

»Was ist mit deiner Schulzeit?«

»Gerade zur Schulzeit! Mein Gott, was bin ich für eine armselige Gestalt«, jammerte Tara.

»Na gut, wir beheben das.« Daisy übernahm die Kontrolle. »Heute Abend fahren wir nach Bath. Du kannst haufenweise Männer ansprechen und deine Telefonnummer an jeden Einzelnen von ihnen verteilen. Und wenn irgendeiner von denen anruft und dich auf einen Drink einladen möchte, kannst du schnöde ›Nein!‹ zu ihm sagen. Würdest du dich dann besser fühlen?«

»Das zählt nicht.«

»Klar zählt das. British Telecom verdient was und du übst nein sagen.«