Die Sonne kam heraus, als Daisy die Hotelauffahrt hinunterging. Sie hatte sich mit Barney Usher um exakt 13 Uhr an der Hauptpforte verabredet. Der Tonfall seiner Briefe ließ sie nicht daran zweifeln, dass Barney pünktlich sein würde.
Und ja, da war er und wartete schon auf sie. Er lehnte gegen eine der bemoosten Steinsäulen, trug einen marineblauen Sweater zu einem weißen Hemd und dunkelblauen Hosen.
Und eine der Nieren ihres verstorbenen Ehemannes pochte in seinem Innern.
Na ja, vielleicht pochte sie nicht, aber sie tat brav das, was Nieren eben so tun.
Als sie näher kam, sah Daisy, dass Barney Usher jünger als 26 wirkte. Das Sonnenlicht glänzte auf in seinem leuchtend blonden Haar. Er hatte ein süßes, jugendliches Gesicht, dunkle, hoffnungsvoll geschwungene Augenbrauen und große, braune Augen mit langen Wimpern, wie ein Cockerspanielwelpe.
Angesichts seines hübschen Äußeren musste sie sich einfach fragen, ob er vielleicht schwul war. Ha, das würde Steven richtig ärgern!
»Mrs. Standish?«, begrüßte er sie erwartungsvoll. Einen Augenblick lang fühlte sich Daisy versucht, über ihre Schulter zu blicken. Selbst als sie noch mit Steven verheiratet gewesen war, musste sie sich immer erst daran erinnern, dass dies ihr offizieller Name war. Es war regelrecht eine Erleichterung, zu MacLean zurückzukehren.
»Nennen Sie mich Daisy.« Sie lächelte ihm zu und fragte sich, ob er wohl ebenso nervös war wie sie. Was für eine seltsame Situation.
Aber Barney Usher schien der Gedanke an Nervosität gar nicht gekommen zu sein. Er schüttelte ihre Hand, und sein Gesicht strahlte beglückt auf.
»Ich bin Barney – aber das wissen Sie ja schon. Danke, dass Sie sich mit mir treffen … Sie wissen ja gar nicht, wie viel mir das bedeutet … Die Chance zu haben, Ihnen persönlich danken zu können … Was Sie getan haben, war so wunderbar, und ich bin so dankbar … «
»Ist ja gut, aufhören«, platzte es aus Daisy heraus. Gehorsam brach er mitten im Satz ab. »Hören Sie, Sie haben mir schon in Ihrem ersten Brief gedankt. Sie haben mir auch in Ihrem zweiten und dritten und vierten Brief gedankt. Das reicht nun wirklich.«
»Aber ich wollte … «
»Schluss! Ich weiß, wie dankbar Sie sind. Aber ich habe nichts Heldenhaftes getan und allmählich wird es mir peinlich. Wollen wir also damit aufhören?« Sie legte den Kopf schräg und lächelte. »Bitte?«
»Na gut.« Barney nickte und lächelte ebenfalls. »Es tut mir Leid. Ach ja, die hier sind für Sie.« Er öffnete seine Umhängetasche und zog die Schachtel mit den Black Magic-Pralinen heraus. »Es ist nicht viel, aber ich wollte nicht die ganze Strecke mit dem Zug Blumen mitnehmen, die wären nur verwelkt oder zerdrückt worden. Ich hatte gehofft, dass es einen Blumenladen im Dorf gibt, aber den gibt es nicht, also habe ich die hier im Tante-Emma-Laden gekauft. Ich wünschte, ich hätte mehr mitbringen können, aber … «
»Black Magic ist meine Lieblingssorte«, log Daisy tapfer. »Danke schön. Ich danke Ihnen aufrichtig, ein perfektes Mitbringsel, ich danke Ihnen, danke schön, danke schön, danke schön.«
Wenn Barney lachte, sah er aus wie Prinz William.
»Okay, schon verstanden. Ich verspreche, die Klappe zu halten. Und ich werde mich nie wieder bedanken. Ich mag es denken, aber ich werde es nicht aussprechen. Sie haben mein Wort darauf.«
Zuerst besuchten sie das Grab. Barney starrte stumm auf Stevens Grabstein, zweifellos dankte er ihm mental. Daisy, die schon befürchtet hatte, er könnte in Tränen ausbrechen, war froh, als er es nicht tat.
Schließlich sagte Barney leise: »Sie müssen ihn sehr geliebt haben.«
Es schien nicht der richtige Augenblick um »Überhaupt nicht, im Gegenteil, ich habe ihn abgrundtief gehasst« zu sagen. Stattdessen murmelte Daisy: »Er war mein Ehemann.« Natürlich ein feiger Rückzieher, aber dennoch die Wahrheit.
»Herrliche Blumen.« Barney nickte in Richtung der frischen Rosen. Offenbar dachte er, sie hätte die Blumen dort abgelegt.
»Ja«, stimmte Daisy ihm zu.
»Sie müssen ihn schrecklich vermissen.«
»Ach, Sie wissen ja, wie es ist. Das Leben geht weiter.« Daisy brachte es einfach nicht über sich, ihm die Wahrheit zu sagen. Dieser Besuch diente Barneys Wohl, nicht dem ihren. Wenn sie ihm das Märchen mies machte, wäre das so, als würde man einem Kleinkind erzählen, Aschenputtel sei letzten Endes in einem Frauenhaus für geschlagene und misshandelte Ehefrauen gelandet.
Sie schob die Hände in ihre Jackentaschen und fröstelte.
»Wir könnten doch ins Hotel gehen«, schlug sie vor. »Wir trinken etwas und unterhalten uns.«
Gemeinsam schritten sie die Auffahrt hoch. Barney war von Colworth Manor schwer beeindruckt.
»Wie herrlich!« Er schüttelte bewundernd den Kopf. »So etwas habe ich noch nie zuvor gesehen. Was für ein phantastischer Ort.«
Es war, als begleitete man einen Dreijährigen in die Höhle des Weihnachtsmannes. Während Daisy ihn durch die Eingangshalle zur Bar führte, sah er sich mit großen, staunenden Augen um. Die eichengetäfelten Wände, der säulengeschmückte Kamin und die Kronleuchter machten wirklich Eindruck auf ihn.
»Kaffee oder etwas Richtiges?«, fragte Daisy.
»Kaffee wäre prima. Ich trinke nicht«, erklärte Barney.
Mein Gott, natürlich nicht. Wahrscheinlich durfte er aus medizinischen Gründen nichts trinken. Sie versetzte sich innerlich einen Tritt.
»Wenn Sie möchten, zeige ich Ihnen später das Hotel.«
Er wirkte begeistert. »Gern, wenn Sie nicht zu beschäftigt sind.«
»Und wie wäre es mit Essen? Wenn Sie hungrig sind, könnten wir zu Mittag essen.«
»Das ist wirklich nett von Ihnen«, meinte Barney. »Aber ich möchte Ihnen nicht lästig fallen.«
Daisy bekam Schuldgefühle. Es war keineswegs nett von ihr, sie versuchte nur verzweifelt, sich etwas auszudenken, damit die Zeit schneller verging. Wenn jemand aus dem fernen Manchester anreiste, um einen zu sehen, dann schien es nicht fair, ihm nur Kaffee und einen Keks anzubieten, zehn Minuten höflich zu plaudern und ihn dann wieder des Wegs zu schicken. Das wäre gemein.
Wenigstens ging es an der Bar mittlerweile relativ friedlich zu. Daisy setzte sich Barney auf einem der Sofas, die den Kamin flankierten, gegenüber und verkündete frohgemut: »Hier sind wir also. Ist es nicht nett?« Sofort fühlte sie sich uralt. Mein Gott, wie gönnerhaft und lächerlich. Sie klang wie eine 75-jährige altjüngferliche Tante in kratzigen Wollschlüpfern.
Barney erwiderte verständnisvoll: »Das ist ziemlich schwierig für Sie, oder?«
»Für mich? Aber nein!« Sie schüttelte heftig den Kopf. »Gar nicht. Warum sollte es schwierig sein?«
Er betrachtete sie mitfühlend. »Es muss sich seltsam anfühlen. Seltsamer als für mich.«
»Na ja«, räumte Daisy ein, »es ist schon ein wenig merkwürdig. Aber nicht auf schlimme Weise«, fügte sie rasch hinzu, falls er sich beleidigt fühlen sollte.
»Wie wäre es, wenn ich Ihnen etwas über mich erzähle?«, bot Barney an. Plötzlich schien er der Erwachsene zu sein, der alles unter Kontrolle hatte. Eifrig fuhr er fort: »Ich plaudere ein wenig über mich, und dann können Sie über sich reden und über Ihren Ehemann Steven … aber nur, wenn Sie wollen. Und dann gehe ich wieder. Wie klingt das?«
Daisy wurde klar, dass er diese Begegnung zweifelsohne von langer Hand geplant hatte. Es bedeutete ihm so viel, natürlich hatte er alles genau durchorganisiert. Dankbar und erleichtert nickte sie ihm zu. »Das klingt gut.«
Gemeinsam betrachteten sie daraufhin die Fotos, die er mitgebracht hatte.
»Das bin ich mit sieben«, erklärte Barney. »Das ist meine Mum. Sie lässt Sie übrigens herzlich grüßen. Und das sind wir vor etwa drei Jahren. Wir sind auf unserem Balkon und es war ein stürmischer Tag, darum spielen Mums Haare verrückt.«
»Ein Balkon«, neckte Daisy. »Das ist aber todchic. Und man sehe sich nur diese Aussicht an!«
Barney lächelte. »Es ist der 27. Stock einer Hochhausanlage, nur deshalb haben wir eine Aussicht. Und nein, todchic kann man es nicht gerade nennen, aber es ist mein Zuhause. Na ja, es war mein Zuhause.« Er zog schwungvoll das nächste Foto heraus. »Aber jetzt wohne ich hier. Ich teile mir eine Wohnung mit ein paar Freunden von der Arbeit.«
Daisy studierte das neue Foto von Barney und drei anderen Jungs, die lachend auf einem Sofa saßen.
Es bestand nun wirklich keine Gefahr, dass jemand das abgebildete Wohnzimmer als todchic bezeichnen könnte. Es war eine typische Junggesellenbude, mit übervollen Aschenbechern und Bierflaschen und das Sofa fleckig und zerrissen.
Barney lächelte entschuldigend. »Es ist schon etwas. Aber meine Kumpels sind großartig. Bis letztes Jahr hätte ich nie gedacht, dass ich mal so normale Sachen machen könnte wie Discos besuchen oder Mädchen treffen. Ich war so lange im Krankenhaus und habe das alles verpasst, da kommt es mir wie ein Wunder vor. Ich habe so viel Glück, dass mir dieser Neuanfang geschenkt wurde.«
Daisy bekam einen Kloß im Hals. Gleich darauf wurde der Kloß noch größer, als er ihr das dritte Foto zeigte.
»Das bin ich an meinem achtzehnten Geburtstag. Ich hatte eine schwierige Phase hinter mir, darum sehe ich ein wenig schwächlich aus.«
Die Untertreibung des Jahrhunderts.
Das Foto war im Krankenhauszimmer aufgenommen worden. Barney, totenbleich und mit eingefallenen Wangen, war an eine riesige Maschine angeschlossen, aber er lächelte und streckte einen Plastikbecher in die Kamera. Geburtstagskarten hingen über dem Bett, und Freunde und Angehörige hatten sich um das Bett versammelt, hielten unsicher Teetassen und Teller mit Geburtstagstorte in der Hand.
»Nicht die wildeste Party aller Zeiten«, meinte Barney fröhlich. »Ich musste mich einer Blutwäsche unterziehen und war mit Medikamenten vollgepumpt. Mein Tantchen brach alle fünf Minuten in Tränen aus, weil sie glaubte, ich stünde an der Schwelle des Todes, und meine Neffen bettelten darum, nach Hause gehen zu dürfen, weil ihnen vom Krankenhausgeruch schlecht wurde.«
Daisy hätte ihn am liebsten umarmt. »Sie haben einiges nachzuholen.«
»Und wie!« Barneys Augen funkelten. »Ich führe das Leben, das ich nie zu bekommen erwartet hatte, und ich werde keinen einzigen Tag davon verschwenden.«
Beim Mittagessen im Speisesaal erkundigte er sich bei Daisy nach Steven, und sie erzählte ihm alles, was er hören wollte. Daisy, die für alle Eventualitäten gewappnet war, zog ein paar Fotos von Steven aus ihrer Handtasche und überließ sie Barney einige Minuten zur aufmerksamen Betrachtung. Weil sie fürchtete, dass er erneut sein ›Mein Gott, wie müssen Sie ihn vermissen‹ anstimmen könnte, erklärte sie: »Und jetzt will ich alles über Ihre Arbeit hören!«
Barney arbeitete für den Staat. Er war Verwaltungsangestellter im Verkehrsministerium. Ziemlich langweilig, aber er war dankbar, eine Stelle zu haben, und die Leute in seinem Büro waren in Ordnung. Daisy, die ihn schamlos ausfragte, fand heraus, dass eine der jungen Sekretärinnen in ihn verknallt war, aber ansonsten hatte er momentan keine Freundin. Er wartete darauf, dass ihm die richtige Frau begegnete.
»Meine Kumpel halten mich für verrückt«, vertraute Barney ihr mit einem schüchternen Lächeln an. »Sie glauben, ich sollte alle Mädchen in Manchester vög … äh … auf einen Kaffee einladen, um die verlorene Zeit aufzuholen. Aber das will ich nicht. Irgendwo da draußen ist die Richtige für mich, und auf sie möchte ich warten. Auf diese Weise wird es etwas Besonderes, finden Sie nicht auch?«
Gott segne ihn! Gott segne sein kleines Herz! Ich esse hier mit der letzten Jungfrau von Manchester zu Mittag, dachte Daisy.
Brenda, Daisys Sekretärin, trat mit einer entschuldigend nach oben gebogenen Augenbraue an ihren Tisch.
»Daisy? Tut mir Leid, dass ich stören muss, aber mein Dienst endet gleich. Könntest du nur kurz die Anzeige für die Lokalzeitung absegnen? Dann kann ich sie durchfaxen, bevor ich gehe.«
Daisy nahm das Blatt Papier entgegen und scheuchte die fleißige Brenda davon. »Keine Sorge, du kannst ruhig gehen. Ich faxe die Anzeige selbst durch.«
Nach dem Mittagessen führte sie Barney durch das Hotel. Er genoss jedes Detail.
»Und vergessen Sie das Fax nicht«, rief er Daisy in seinem weichen Manchestersingsang in Erinnerung, als sie den Ballsaal verließen.
»Stimmt, das sollte ich wohl besser gleich erledigen. O Gott, ignorieren Sie sie einfach«, zischelte Daisy, als sie an der Bar vorbeikamen, wo sich die lärmende Autorengruppe mittlerweile um das Klavier versammelt hatte. »Und ignorieren Sie vor allem den peinlichen Mann mit der grünen Fliege und der lauten Stimme. Nach ein paar Glas Whisky spielt er gern Pavarotti.«
Barney murmelte mit großen Augen: »Ist er einer Ihrer Gäste?«
»Schlimmer. Er ist mein Dad.«
Aber natürlich war es völlig unmöglich, Hector zu ignorieren. Als er sie entdeckte, stürmte er aus der Bar und begrüßte Barney wie den verlorenen Sohn. »Sie müssen Barney sein! Wie wunderbar, Sie kennen zu lernen. Und gut sehen Sie aus! Können Sie singen?«
»Ich weiß, dass ich ihn umbringen muss«, rief eine Frauenstimme gereizt in Barneys Rücken. »Ich weiß nur nicht, wie.«
»Tranchiermesser? Schrotflinte?«, schlug eine zweite Stimme vor. »Oder wie wäre es, wenn du ihn einfach von einem Hochhaus schubst?«
»Weißt du, daran habe ich auch schon gedacht, aber ich möchte nichts allzu Unsauberes. Zertrümmerte Schädel und verstreute Gedärme sind nicht mein Ding. Außerdem suche ich etwas Schnelles und Schmerzloses – schließlich ist er kein schlechter Mensch. Eigentlich ist er sogar ganz niedlich. Ich werde ihn schrecklich vermissen.«
Barneys Mund klappte auf. Er drehte sich um und starrte die beiden verhuschten Frauen an, die keine zwei Meter entfernt ins Gespräch vertieft waren. Sie schienen Mitte fünfzig und diskutierten ernsthaft, wie man irgendeinen armen Kerl meucheln konnte, der … Grundgütiger … ganz niedlich war.
»Kommen Sie«, drängte Hector und schlug Barney auf die Schulter. »Ein so gut aussehender Mann wie Sie muss doch singen können! Wie wäre es mit ›Mackie Messer‹?«
»Du kannst ihn ja vergiften«, schlug die verhuschtere der beiden Frauen hinter Barney vor. »Ein Tropfen Zyanid würde schon reichen.«
»Hervorragende Idee! Weißt du, genau das werde ich wohl tun. Wo bekomme ich jetzt etwas Zyanid her?«
»Keine Panik«, flüsterte Daisy Barney grinsend ins Ohr. »Sie schreiben Kriminalromane.«
Barney tat so, als sei ihm das die ganze Zeit klar gewesen. Puh!
»Vielleicht ein Duett?« Hector ließ nicht locker. »›New York, New York‹? Den Text kennen Sie doch sicher.«
»Ich kann nicht besonders gut singen.« Barney wirkte besorgt.
»Kein Problem«, erklärte Hector. »Ich bin sensationell. Maestro, bitte!«, bellte er in Richtung des Thrillerautor-Pianisten.
Das Lied endete, und das Publikum applaudierte heftig, was zeigte, wie betrunken alle waren. Lachend kehrte Barney zu Daisy zurück.
»Sagen Sie nicht, ich hätte Sie nicht gewarnt«, meinte sie.
Er schüttelte verwundert den Kopf. »Wie ist es, wenn man so einen Dad hat?«
»Es ist peinlich!« Daisy hielt kurz inne und fügte fröhlich hinzu: »Aber niemals langweilig.«
»Vergessen Sie das Fax nicht.« Barney zeigte auf das Blatt Papier, das sie immer noch in der Hand hielt.
»Mein Gott, stimmt. Ich mache das am besten gleich. Möchten Sie hierbleiben oder mitkommen?«
Der Pianist stimmte ›Perfect Moment‹ an. Eine enorme Blondine griff sich mit schwer beringten Fingern an die Brust, öffnete den Mund und schmetterte falsch, dafür in einem tremolierenden Falsett los.
»Wenn es Ihnen nichts ausmacht«, sagte Barney, »dann komme ich wohl lieber mit.«