Das Telefon klingelte, als Tara gerade die Tür zum Cottage öffnete. Ausnahmsweise hob sich dadurch nicht automatisch ihre Stimmung. Sie hatte Maggie vor dem Laden getroffen und zu hören bekommen, dass der Waschmaschinentechniker anrufen würde, um ihnen mitzuteilen, wann er mit dem wichtigen Ersatzteil eintreffen würde.
Sie beeilte sich folglich nicht, zog erst ihren Mantel aus und kickte ihre Schuhe unter den Couchtisch.
»Hallo?«
»Tara?«, fragte eine männliche Stimme. »Bist du das?«
Sie erstarrte, erkannte die Stimme sofort.
»Tara? Hallo? Bist du da?«
Tara hängte ein.
Warum? Warum rief er sie an? Wie konnte er es wagen, sie anzurufen? Welches verdammte Spiel spielte er mit ihr?
Leider konnte sie ihn das jetzt nicht mehr fragen, denn sie hatte ja eingehängt.
Zehn Minuten später wählte Tara die 1471, auch wenn sie sich hasste, weil sie so ein Kümmerling war. Der letzte Anruf, informierte sie eine Computerstimme hohnlächelnd, kam von einem Netzwerk, das keine Nummern übermittelte.
Das war ärgerlich, aber wahrscheinlich auch besser so.
Mittlerweile hatte Tara völlig die Fassung verloren. Sie öffnete eine Dose Tomatensuppe und schob zwei Scheiben Toast in den Toaster. Während sie darauf wartete, dass die Suppe heiß wurde, verspachtelte sie sieben Schokoladenkekse und führte die imaginäre Unterhaltung in ihrem Kopf, die sie am Telefon geführt hätte, wenn sie nicht sofort eingehängt hätte. Bei diesem Gespräch teilte sie ihm sarkastisch, geistreich und überaus wortgewandt mit, was sie von ihm hielt.
Phantasiegespräche waren etwas Großartiges: Man verhaspelte sich nie und behielt immer Oberwasser.
Das Telefon klingelte erneut, als Tara gerade den ersten Löffel Suppe zum Mund führte.
Sei nicht so dämlich, das wird jetzt der Waschmaschinenmann sein.
»H-hallo?« O Gott, warum musste ihre Stimme so verräterisch beben? Warum konnte sie nicht so gelassen sein wie in ihren Phantasiegesprächen?
»Tara, ich bin’s. Leg bitte nicht wieder auf. Schenk mir nur ein paar Minuten deiner Zeit.«
Mit einem Mund so trocken wie Maismehl sagte Tara: »Warum sollte ich?«
Hör auf! Ihr Gewissen griff sich ein Megaphon und brüllte sie an. Sofort.
»Ich muss mit dir reden«, flehte Dominic. »Bitte, Tara, ich weiß, du musst mich hassen, aber ich hasse dich nicht. Ich konnte nicht aufhören, an dich zu denken … Nachts kann ich nicht schlafen. Ich kann nicht mehr denken … das Schicksal muss uns wieder zusammengebracht haben.«
»Das Schicksal wohl kaum.« Irgendwie brachte Tara es fertig, ihre Zunge zu lösen. »Eher schon meine nicht existierenden Schauspielkünste. Wenn ich meinen Durchbruch in Hollywood gehabt hätte, würde ich nicht als Zimmermädchen in dem Hotel arbeiten, in dem du zufällig geheiratet hast.« Sie schwafelte, denn schwafeln konnte sie in einem Schockzustand am besten. Es war auch eine gute Möglichkeit, die Stimme des wütenden Gewissens mit dem Megaphon zu übertönen.
»Ich muss dich wiedersehen«, erklärte Dominic. Er war nicht der Schwafeltyp. »Bitte, Tara, am Telefon kann ich das nicht. Gib mir wenigstens die Chance, alles zu erklären.«
»Dominic, du bist verheiratet.«
»Ich weiß, ich weiß. Aber ich bitte dich ja nicht, mit mir zu schlafen. Ich will nur reden.« Er schwieg kurz. »Was machst du heute Abend?«
Heute Abend? Tara spürte, wie sich ihr die Nackenhaare aufstellten. Laut sagte sie: »Ist das dein Ernst?«
»Absolut.«
»Aber … wo bist du?«
»Zu Hause.«
»In Berkshire?« Sie schüttelte ungläubig den Kopf.
»Das liegt ja nicht in Tibet«, entgegnete Dominic amüsiert. »Nur sechzig Meilen von Tür zu Tür. Sag ja, und ich bin in weniger als einer Stunde da.«
In der Zwischenzeit hatte Taras Gewissen aufgegeben. Es saß auf einem niedrigen Mäuerchen, schlug mit den Fersen gegen die Steine und rauchte eine Zigarette. All die Enttäuschungen der letzten Wochen spulten sich im Schnelllauf durch Taras Gehirn ab. Die ununterbrochenen Zurückweisungen hatten ihr eingetrichtert, dass sie eine wertlose, unattraktive Frau war, deren Gesellschaft ungefähr so lustig war wie eine Tasse Lebertran. Und nun flehte Dominic nicht nur darum, sie zu treffen, sondern war bereit, dafür sogar eine Fahrt von 120 Meilen auf sich zu nehmen. Wenn das Selbstwertgefühl auf einem solchen Tiefstand dümpelt, dann empfindet man so etwas eindeutig als schmeichelnd. Tara wusste, dass es schwachsinnig war, aber sie war ihm dankbar. Und wie Dominic ja schon gesagt hatte, wollte er nicht mit ihr schlafen, nur mit ihr plaudern.
»Wie bist du an diese Nummer gekommen?« Mein Gott, sie hoffte nur, dass er nicht im Hotel angerufen hatte.
»Du sagtest, du wohnst im Dorf bei deiner Tante. Da habe ich die Auskunft angerufen.«
»Na gut.« Tara holte tief Luft. »Um sieben. Vor dem Pub.«
»Es ist eiskalt«, sagte Dominic. »Du wirst frieren. Warum darf ich dich nicht zu Hause abholen?«
Ein lächerlicher Frosch hüpfte in Taras Hals. Dominic machte sich Sorgen, dass sie frieren könnte! Aber sie wollte sich keine Gardinenpredigt von Maggie anhören. Wenn ihre Tante erfuhr, mit wem sie sich traf, würde sie das nie und nimmer gutheißen.
»Danke, aber wir treffen uns vor dem Hollybush.«
Er war da, Schlag sieben, und wartete auf sie. Tara fühlte sich wie eine Agentin, als sie sich zweimal versicherte, dass die Luft auch wirklich rein war, bevor sie in seinen Wagen stieg.
Zehn Minuten später setzten sie sich an einen Ecktisch in einem ruhigen Pub in Lower Hinton, mehrere Meilen von Colworth entfernt. Dominic, der ziemlich braun war, trug einen dicken marineblauen Rollkragenpulli und Armani-Jeans. Die Härchen auf seinen gebräunten Unterarmen waren von der karibischen Sonne gebleicht.
»Wie waren die Flitterwochen?« Tara hatte Angst, jemand könnte sie hören, darum zischelte sie im Flüsterton wie ein Spion.
»Ach, ganz gut, denke ich. Na ja, eigentlich nicht gut«, räumte Dominic ein. Er spreizte die Hände und schüttelte den Kopf. »Im Grunde war es eine Katastrophe.«
»Warum?«
Er sah ihr direkt in die Augen. »Kannst du das nicht erraten? Ich musste ständig an dich denken. Ich habe sogar von dir geträumt. Tara, ich weiß, ich habe mich bei unserer letzten Begegnung wie ein Idiot verhalten. Ich bin in Panik ausgebrochen, als Annabels Schwester uns im Gartenhaus erwischte. Es war falsch von mir, dir die Schuld dafür in die Schuhe zu schieben. Aber es ging alles so schnell und ich machte mir große Sorgen um Annabel. Stell dir vor, wie sie sich gefühlt hätte, wenn ich die Hochzeit abgeblasen hätte. Wer weiß, zu was sie dann fähig gewesen wäre.«
»Du hast mir erzählt, dass du sie liebst«, erwiderte Tara.
Dominic fuhr sich mit den Fingern durch das blonde Haupthaar. In seinen gequälten Augen lag echtes Bedauern.
»Vielleicht tue ich das ja. Auf gewisse Weise. Annabel ist ein reizendes Mädchen. Sie hat nichts falsch gemacht. Aber eigentlich fühle ich mich eher wie ihr Beschützer, wie ein großer Bruder, der sich um seine jüngere Schwester kümmert.«
»Seine stinkreiche, jüngere Schwester«, rief ihm Tara anzüglich in Erinnerung.
»Denkst du, dass ich sie deswegen geheiratet habe? Damit liegst du völlig daneben.« Dominic schüttelte traurig den Kopf. »Ich habe Annabel trotz ihres Geldes geheiratet, nicht wegen ihres Geldes. Wir haben uns immer gut verstanden und ich dachte wirklich, wir könnten zusammen glücklich werden. Aber meine Gefühle für Annabel lassen sich nicht einmal ansatzweise mit dem vergleichen, was ich für dich empfinde.«
Meine Güte, es war ihm ernst. Das war Furcht einflößend, aber gleichzeitig fühlte sich Tara ein klitzekleines bisschen stolz. Unter dem Tisch zitterten ihre Knie wie nervöse Rennhunde.
»Aber ich bin ein Nichts. Nur ein Zimmermädchen mit … «
»Falsch. Ganz falsch«, unterbrach Dominic. »Du bist du. Wir sind immer phantastisch miteinander ausgekommen, oder etwa nicht? Wie ich schon sagte, kam ich nur mit deiner Besessenheit für die Schauspielerei nicht zurecht. Nur aus diesem Grund habe ich unsere Beziehung beendet. Aber jetzt schauspielerst du nicht mehr … Ich schwöre bei allem, was mir heilig ist, dass ich völlig durch den Wind bin. Du kannst dir nicht vorstellen, wie mir zumute ist. Wenn ich das nur gewusst hätte.«
»Aber du hast es nicht gewusst«, entgegnete Tara, der allmählich schwummrig wurde. »Und jetzt ist es zu spät. Du bist verheiratet.« Sie klang wie eine Schallplatte mit einem Sprung, aber wie sollte sie es sonst ausdrücken?
»Als ob du mich daran erinnern müsstest.« Dominic blickte verbittert. »O ja, und wie ich verheiratet bin. Nur mit der falschen Frau.«
Sie kamen um 22 Uhr 30 zurück nach Colworth. Dominic fuhr vor dem Hollybush vor und wartete mit laufendem Motor. Annabel verbrachte den Abend mit ihrer Mutter, hatte Tara erfahren, und würde gegen Mitternacht zurückkehren.
»Ich möchte dich küssen«, sagte Dominic, »auch wenn ich weiß, dass ich es nicht sollte.«
Die Lichter des Pub strahlten ins Auto. Tara konnte sein schiefes Lächeln erkennen, in dem unendliches Bedauern lag. Einen verrückten Augenblick lang – nur eine Nanosekunde – wünschte sie, er hätte es nicht gesagt. Wenn er sie einfach geküsst hätte – nichts Unanständiges, nur ein züchtiger Kuss auf die Wange –, dann hätte sie überrascht tun können.
Aber jetzt hatte er sie um Erlaubnis gefragt, und natürlich konnte sie unmöglich ja sagen. Um Himmels willen, er war ein verheirateter Mann! Noch dazu ein frisch verheirateter Mann! Nur eine Schlampe ohne jedwede Moral würde etwas derart Verruchtes zulassen. Mein Gott, wahrscheinlich lag noch Konfetti in seinen Koffern.
»Nein, besser nicht.« Taras Herz pochte voll Adrenalin und geheimer Freude. Na bitte, sie besaß also doch sittliches Empfinden! Dominic wollte sie küssen, und sie hatte abgelehnt, und das war auch gut so.
»Es war wunderbar, dich heute wiederzusehen.« Dominics Stimme wurde weich. »Ich kann mich nicht erinnern, wann ich mich das letzte Mal so amüsiert habe.«
Tara wurde schlagartig klar, dass sie sich auch nicht erinnern konnte. Er hatte Recht: Es war ein wunderbarer Abend gewesen. Sie hatten geredet, gelacht und sich an alte Zeiten erinnert. Und natürlich nichts Unrechtes dabei getan.
»Oder hast du etwa jede Sekunde davon gehasst?« Dominic klang neckisch.
Tara lächelte, hob eine Augenbraue und erwiderte im selben Tonfall: »Was soll ich darauf denn sagen?«
»Sag mir, dass du mich wiedersehen willst.«
O Gott.
»Ich weiß nicht … «
»Bitte.« Dominic griff nach ihrer Hand, seine warmen Finger schlossen sich um ihre. »Du ahnst gar nicht, wie viel mir das bedeuten würde.«
»Aber du bist … «
»Tara, würdest du bitte damit aufhören? Ich weiß, dass ich verheiratet bin. Aber wir können doch trotzdem Freunde sein, oder? Alte Freunde, die sich hin und wieder auf einen Drink und ein nettes Gespräch treffen. Wäre das denn so verkehrt?«
Sie atmete langsam aus, war sich nicht länger sicher. War es verkehrt?
»Ich weiß nicht recht«, räumte Tara ein. Sie war innerlich zerrissen. »Möglicherweise ist das keine so gute Idee.«
»Na schön, vergiss es einfach.«
Dominics Erwiderung kam so unerwartet, dass sie zusammenzuckte. Er klang traurig und resigniert, aber fest entschlossen, sich an ihr Urteil zu halten. Prompt wünschte Tara, sie hätte nichts gesagt.
»Die Sache ist die«, fing sie zögernd an. »Andere Leute könnten das missverstehen.«
»Ich weiß. Ist irgendwie nicht fair, oder? Wir wollen doch nur reden. Wenn du ein Kerl wärst oder ich ein Mädel, dann gäbe es überhaupt kein Problem. Wir könnten uns so oft treffen, wie wir wollten. Aber nur weil ich keine Frau bin, willst du mich nicht mehr sehen. Eigentlich ist das sexistisch von dir. Ich sollte dich vor das Menschenrechtstribunal bringen.«
Er nahm sie auf den Arm, versuchte sie aufzuheitern. Tara lächelte, aber er hatte Recht. Es war wirklich nicht fair.
»Ich gehe jetzt. Du musst dich auf den Rückweg machen.«
»Heim zu meiner Frau.« Dominic schnitt eine Grimasse. »Gott, weniger als einen Monat verheiratet und schon sinkt mir das Herz in die Hose, wenn ich nur daran denke, vor meiner Frau so zu tun, als sei alles in Ordnung.« Traurig fügte er hinzu: »Ist dir klar, dass du die Einzige bist, die die Wahrheit kennt? Ich kann mit niemandem sonst reden.«
Tara empfand tiefes Mitleid mit ihm. Das war das Problem mit Männern: Sie konnten Straßenkarten lesen und Reifen wechseln, aber sie waren nicht in der Lage, ihre innersten Gefühle mit anderen Männern zu teilen. Das war genetisch einfach nicht vorgesehen. Sie konnten gefühlvoll über Sport reden, aber echte Gefühle waren ein Tabuthema. Tratschen und sich Freundinnen anvertrauen zu können war das Beste am Frausein, dachte Tara. Das und Mascara.
»Hör mal, du hast ja meine Telefonnummer. Wenn du je verzweifelt bist, dann weißt du, wo du mich finden kannst.« Sie sprach hastig, als ob die Worte dann nicht zählten, öffnete die Beifahrertür und sprang heraus.
»Du bist phantastisch, aber das weißt du ja.« Dominic lächelte sie dankbar an. »Ehrlich, du bist eine erstaunliche Frau. Du hast keine Ahnung, wie viel mir dieser Abend bedeutet hat.«
Mit rosa Wangen wegen der Kälte, aber einer wohligen Wärme in ihrem Innern betrat Tara das Cottage. Maggie hatte das große Kissenmachen überkommen. Maggies individuell nach Kundenwunsch gefertigte Kissenbezüge, die sie in einem der Souvenirläden des Dorfes verkaufte, waren bei den Touristen aus Übersee der große Verkaufsschlager.
»Was denkst du?« Maggie hielt einen der fertigen Kissenbezüge hoch. Er zeigte die Umrisse zweier Menschen auf der Colworth Bridge, die auf den Fluss schauten. Maggie, eine Zauberin an der Nähmaschine, arbeitete freestyle. Um das einfach ausgeführte Tableau herum hatte sie die Worte Hank und Emmy-Lou, England 2002 eingestickt.
»Ist das nicht absolut süß?«, imitierte Maggie den Singsang der Amerikaner. Manchmal konnte sie einfach nicht anders, als sich über ihre Kunden lustig zu machen. »Natürlich sind sie im richtigen Leben viel fetter. Aber so wollten sie es haben, also wird es sie glücklich machen.« Sie tätschelte zufrieden den Kissenbezug, sah auf und sagte. »Du siehst auch ziemlich glücklich aus. Wo warst du?«
»Ach, nur auf einen Drink. Mit einem der Jungs, die ich letzte Woche in Bristol getroffen habe.«
Maggie hob eine Augenbraue. »Und? Wirst du ihn wiedersehen?«
»Hm, bin mir nicht sicher. Vielleicht.« Tara spürte, wie ihr heiß wurde. Hastig zog sie ihren Mantel aus. »Soll ich Wasser aufsetzen?«
»O ja, eine Tasse Tee wäre jetzt himmlisch.«
Maggie räumte die Utensilien für die Kissenfertigung auf. Tara eilte in die Küche und warf Teebeutel in die Becher. Sie konnte unmöglich die Wahrheit sagen: Maggie wäre geschockt und entsetzt, wenn sie wüsste, mit wem Tara den Abend verbracht hatte. Und Daisy gegenüber durfte sie es auch nicht erwähnen. Der heutige Abend würde ihr Geheimnis bleiben.
Wenigstens hatte sie sich prima amüsiert. Sie war mit Komplimenten überschüttet worden und hatte immer und immer wieder zu hören bekommen, wie großartig sie war.
Und sie und Dominic hatten wirklich nichts anderes getan, als sich zu unterhalten.
Was sollte daran falsch sein?