24. Kapitel

Das Lettonie war fabelhaft. Tara, die sich auch fabelhaft fühlte, sah sich in der opulenten Eingangshalle mit einem verzückten Schauder um. Colworth Manor war natürlich ebenso edel, aber dort kannten sie alle als Zimmermädchen und stellten ihr deprimierend zimmermädchenhafte Fragen, ob sie beispielsweise mehr Handtücher besorgen oder den Kamin ausfegen konnte.

Sie musste ein selbstgefälliges Grinsen unterdrücken, als sie in einem der deckenhohen, georgianischen Spiegel ihr Spiegelbild entdeckte. Tara genoss ihre Anonymität. Der Maître d’hôtel hatte sie für einen Aperitif in den Salon geführt und sie bereits mit ›Madame‹ angesprochen. Und sie sah wirklich umwerfend aus, auch wenn sie das selbst sagte. Jeder, der sie und Dominic zusammen sah, würde sie für ein wohlhabendes Paar halten, das nur die besten Restaurants frequentierte. Meine Güte, sogar ihre Haare – mit Gel angelegt und nicht wie üblich in chaotischen Stacheln abstehend – sahen chic aus.

»Ich liebe dieses Restaurant«, flüsterte Tara aufgeregt, als man ihnen die Drinks serviert hatte und sie daraufhin allein ließ, damit sie in Ruhe die Speisekarte studieren konnten. »Es ist so toll – huch, entschuldige!« Sie griff sich an den Bauch, der wie ein Zementmixer gegrummelt hatte.

»Du musst dich nicht entschuldigen. Du siehst wunderbar aus.« Dominic griff nach ihrer Hand, führte sie an seine Lippen und küsste sie. Er lächelte. »Ich habe mich schon die ganze Woche auf diesen Abend gefreut.«

Taras Herz strömte über vor Dankbarkeit. Ein Mann, der nett zu ihr war, gehörte zu ihren liebsten Sachen auf der Welt. Ein Mann, der sie an so einen Ort brachte, der ihr verliebt in die Augen sah und sie mit Komplimenten überhäufte, brachte ihr Innenleben völlig durcheinander.

Spontan beugte sie sich vor und küsste ihn – nur kurz, aber ziemlich sinnlich – auf die Wange. Das war womöglich nicht gerade das, was chice, wohlhabende Paare in Restaurants taten (»Mein Gott, eine öffentliche Zurschaustellung von Zuneigung, wie proll!«), aber das war ihr egal.

Dominic schien es auch nicht zu kümmern. »Du weißt gar nicht, was du mit mir anstellst.« Sein Mund kam dem ihren bei diesen Worten gefährlich nahe. »Mein Gott, Tara, du solltest mit der Warnung ›nicht jugendfrei‹ versehen werden, du bist so … Scheiße

»Vielen Dank auch.« Tara lachte, aber Dominic hörte ihr gar nicht zu. Abrupt schob er sie von sich und sprang auf die

Nanu?

Tara starrte ihm nach und fragte sich, ob das eine Art praktischer Scherz sein sollte. Als er die Luft angehalten und geflucht hatte, hatte sie zuerst geglaubt, er habe einen Krampf im Bein. Aber nun sah er sie nicht einmal an. Herrje, er verhielt sich, als ob sie gar nicht existierte.

Verblüfft folgte sie der Richtung seines panischen Blickes. Der Maître hatte soeben ein weiteres Paar in den Salon geführt, dem er nun aus den Mänteln half. Die Frau mittleren Alters sah sich nach einem geeigneten Sitzplatz um, als sie Dominic entdeckte und einen spitzen Schrei ausstieß. »Meine Güte, ich kann es nicht glauben! Gerald, sieh nur, wer hier ist!«

Tara glaubte es auch nicht. Dominic, dessen Gesicht plötzlich nur noch aus einem Lächeln zu bestehen schien, begrüßte die beiden mit offenherziger Freude.

»Marion, Gerald, was für ein Zufall! Annabel und ich haben erst heute Morgen von euch gesprochen. Wir haben euch seit der Hochzeit nicht mehr gesehen.«

Die Hochzeit, Mist! Tara glitt tiefer und griff sich eines der Hochglanzmagazine auf dem nebenstehenden Beistelltisch, schlug es auf und hielt es sich vors Gesicht.

»Mein lieber Junge, natürlich habt ihr uns noch nicht wieder gesehen. Ihr seid ja gerade erst aus den Flitterwochen zurück.« Marion zwinkerte Dominic zu. »Ach, und was für eine schöne Hochzeit! Einfach wundervoll. Ich habe geheult wie ein Schlosshund, nicht wahr, Gerald?«

Da warst du nicht die Einzige, dachte Tara.

»Ihr beide müsst unbedingt bald einmal zum Essen zu uns kommen«, verkündete Gerald jovial. »Dann könnt ihr uns erzählen, wie ihr euch ins Eheleben eingefunden habt.«

»Wir feiern heute unseren zweiunddreißigsten Hochzeitstag!« Marion klang stolz. »Darum sind wir im Lettonie. Aber was machst du hier, Dominic?«

Tara spürte, wie der Blick der älteren Frau über sie

»Ein Geschäftsessen«, meinte Dominic leichthin. »Ich habe mich mit zwei Kunden getroffen. Ihr habt sie knapp verpasst, sie mussten nach Taunton zurückfahren. Jetzt warte ich auf das Taxi, das mich nach Hause bringen soll.«

Tara schluckte. Ihre Zehen in den Pumps rollten sich ein. Der Artikel über Scheunenumbauten verschwamm vor ihren Augen, während sie zuhörte, wie Dominic dem Paar gut gelaunt versicherte, wie blendend sie aussahen, wie schön es sei, sie getroffen zu haben, und wie sehr ihm das Verheiratetsein gefiel. Schließlich verkündete er, dass sein Taxi mittlerweile eingetroffen sein müsse. Er verabschiedete sich, küsste Marion auf beide Wangen, schüttelte Gerald die Hand und marschierte hinaus in die Eingangshalle.

Tara thronte vor ihrem leeren Glas, mit einem heftig grummelnden Magen und schmerzenden, eingerollten Zehen.

Vor dem offenen Kamin saßen Marion und Gerald, plauderten glücklich, genossen ihre Drinks und gingen langsam – sehr, sehr langsam – die Speisekarte durch.

»Die Arme«, hörte Tara Marion in diesem weit tragenden Bühnenflüstern wispern, das bei Frauen in den Sechzigern so beliebt war. »Siehst du die Kleine da drüben, Gerald? Ich sage dir, sie ist versetzt worden!«

Heldenhaft verzichtete Tara auf eine Reaktion. Innerlich überlegte sie sich all die Dinge, die sie hätte sagen können. Sie blätterte im Country Life – was alles nur noch schlimmer machte – und zwang Marion und Gerald mental, endlich ihre Drinks zu kippen, zum Speisesaal zu hechten und ihr die Chance zu geben, hier zu verschwinden.

 

Als Tara über den dunklen Parkplatz ging, glaubte sie einen entsetzlichen Moment lang, Dominic sei tatsächlich in einem Taxi verschwunden.

Aber er war noch da und wartete auf sie im Wagen. Er

Wohin fahren wir?, fragte sich Tara, als er nach links, anstatt nach rechts abbog. Rechts ging es nach Bath.

»Das Red Rose ist nicht weit von hier. Da soll es wirklich nett sein«, sagte sie.

Dominic schüttelte den Kopf. Er blies seine Wangen auf und ließ die Luft geräuschvoll entweichen. »Nein, tut mir Leid, Süße, aber das mache ich nicht noch einmal durch. Seien wir ehrlich, Restaurants sind viel zu riskant. Man kann immer auf jemanden stoßen, den man kennt.«

»Und der deine Frau kennt«, murmelte Tara, gerade noch hörbar. Irgendwie schien es nicht fair. Sie war nicht ›die andere‹, aber sie fühlte sich bereits so. Voller Schuldgefühle, aber ohne den Sex, der dafür entschädigt. Und sie hatte die Rechnung für die Drinks zahlen müssen, bevor sie gehen konnte.

»Süße, ich bin genauso enttäuscht wie du.« Dominic griff nach ihrer Hand und drückte sie. »Aber wir sind gerade noch mal davongekommen. Ehrlich gesagt, könnte ich jetzt ohnehin nichts mehr essen.«

Tara unterdrückte das Verlangen, laut zu schreien. Für Dominic war das offenbar keine große Sache. Er aß ständig in todchicen Restaurants, eine Gourmetmahlzeit mehr oder weniger, darauf kam es ihm nicht an.

Aber Taras Magen war anders gestrickt und ließ sich nicht so leicht umpolen. Sie hatte die Speisekarte des Lettonie gelesen, sie hatte das sanfte Klicken von Besteck auf Tellern aus dem Speisesaal vernommen, die herrlichen Gerüche aus der Küche eingeatmet ...

Ihr Magen wartete jetzt auf Nahrungszufuhr und würde sich nicht abwimmeln lassen.

»Ich habe Hunger!« Ihre Stimme schwankte und hob sich um ein paar Oktaven. »Ich will, dass wir jetzt sofort etwas essen!«

 

Tara versuchte sich einzureden, dass es nicht wichtig war, nicht wirklich darauf ankam, dass Dominic sie in das vermutlich schlimmste Pub von ganz England ausgeführt hatte.

Aber es kam doch darauf an.

Das Brown Cow war eines dieser hässlichen, seelenlosen Etablissements aus den Sechzigern. Abgesehen von ein paar bärbeißigen Stammkunden an der Bar war das Pub leer. Jeder Schritt auf dem Linoleum hallte wie ein Schuss.

Dominic, der offenbar immer noch keinen Appetit verspürte, hatte das Tagesmenü bestellt, aß aber nichts. Tara zwang sich entschlossen durch die Würstchen mit Pommes. Die Pommes stammten aus der Mikrowelle, und die Wurst war zäher als ein Kauknochen für Hunde, aber sie hörte erst auf, als auch der letzte, entsetzliche Bissen vertilgt war. Sie wusste nicht, ob sie damit Dominic oder sich selbst bestrafte.

»Es tut mir Leid«, sagte er zum zwanzigsten Mal.

»Das muss es nicht. Mir geht es gut. Und das Ketchup war erstklassig.« Taras Stimme klang schneidend und kalt. Sie nahm einen Schluck lauwarmen Weißwein – mein Gott, war das wirklich Wein? – und sagte: »Ist dir aufgefallen, wie gut das Ketchup zu meinem Kleid passt?«

Es verstand sich von selbst, dass sie ihr bestes Kleid trug. Blutroter Samt mit Spaghettiträgern. Mit unglaublich tiefem Dekolleté, aber auf eine Weise, die eher elegant als billig wirkte und für das Lettonie perfekt geeignet war. Wohingegen sie im Brown Cow wie der letzte Trottel aussah. Abgesehen von Tara und Dominic trugen alle Gäste schlammverkrustete Gummistiefel.

»Ich bin lieber hier mit dir«, Dominic nahm ihre Hand, »als in einem Fünf-Sterne-Hotel mit Annabel.«

Einen Augenblick lang war Tara sprachlos. Irgendein pubertierender Teil in ihr hätte am liebsten gebrüllt, dass das gut und schön für ihn war, er hatte ja auch schon in genug Fünf-Sterne-Hotels genächtigt, während sie dort nur die Toiletten schrubbte.

»Ich habe es vermasselt, nicht?«, sagte Dominic traurig. »Du wirst mich nie wiedersehen wollen.«

Tränen wallten in Taras Augen auf. O Gott, wie konnte er das nur denken? Es war doch nicht seine Schuld.

»Du kannst es ruhig sagen«, forderte Dominic sie auf. »Nur zu, ich weiß, du fühlst dich im Stich gelassen. Sag mir, dass es vorbei ist.«

»Und dann?« Ihre Stimme war tief, ihre Fingerknöchel weiß.

»Dann lasse ich dich in Ruhe.« In seinem Blick lag tiefes Bedauern. »Und du wirst dein Leben ohne mich weiterführen.«

Ihr Leben, ha! Ein völlig beschissenes, spaßloses, männerloses Leben. Belauschte die Gummistiefelbrigade ihr Gespräch? Es war verdächtig ruhig an der Bar geworden.

»Dieser ganze Aufstand. Dabei haben wir nicht mal eine Affäre.« Tara brachte ein unsicheres Lächeln zustande. »O Gott, das ist doch albern. Natürlich will ich dich wiedersehen. Als Freund«, fügte sie hastig hinzu, falls ihr Tisch verwanzt war.

Die Stammkunden lachten kollektiv auf. Der Mann mit den schlammigsten Gummistiefeln stieß seinen Nachbarn in die Seite und rief anzüglich: »Ja klar. Als Freund. Und mit allem, was so dazugehört.«