28. Kapitel

»Schnell, komm nach unten«, bellte Tara und steckte ihren Kopf in den Pausenraum der Belegschaft. Barney schreckte zusammen. »Paula Penhaligons Mann ist gerade mit einer Schrotflinte aufgetaucht und spielt am Empfang verrückt. Er droht, ihr das Hirn wegzupusten!«

Barney sprang instinktiv auf, die Augen vor Entsetzen geweitet. Mein Gott, wie entsetzlich.

»Was ist?« Er starrte Tara verständnislos an, weil sie in der Tür stand und ihm den Weg versperrte. Wie konnte sie in einem solchen Augenblick nur lachen?

Ach je.

»Barney, du bist so süß!« Mittlerweile krümmte sich Tara vor Lachen. »Du wärst wirklich nach unten gerannt, um ihr zu helfen, nicht wahr?«

Sie hatte ihn schon wieder hereingelegt. Das zweite Mal an diesem Tag. Wenn sich das herumsprach, würde er zum Gespött des Hotels.

»Wenn du mir das nächste Mal verklickern willst, dass ein Verrückter mit einer Waffe im Foyer steht, dann bleibe

»Ich weiß, aber Rocky hat mir erzählt, was du zu ihm gesagt hast, und da konnte ich einfach nicht widerstehen.« Tara wischte sich die Augen. »Ich war eben in Paula Penhaligons Suite. Sie ist nicht verprügelt worden, du Dumpfbacke.«

»Doch, ist sie.« Barney nickte heftig. »Ich habe sie bei Tageslicht gesehen. Ihre Augen waren geschwollen.«

»Aber seltsamerweise völlig faltenfrei«, beendete Tara den Satz. »Barney, sie hatte ein Facelifting. Deshalb ist sie hergekommen, du Einfaltspinsel. Um sich von der OP zu erholen.«

»Ein Facelifting?« Barney war schockiert, aber auch erleichtert. Wenigstens wurde Paula Penhaligon nicht verprügelt.

»Sie ist 48 und plant ein Comeback. Das Facelifting soll ihr Selbstvertrauen heben. Außerdem ist sie auf der Suche nach einem neuen Mann.« Tara blinzelte ihm zu. »Wer weiß, ein hübscher Bursche wie du könnte genau ihr Geschmack sein.«

»Du legst mich kein drittes Mal herein«, sagte Barney. Plötzlich kam ihm ein anderer Gedanke. »Du wirst doch Daisy nichts von der Schrotflinte erzählen, oder? Ich möchte nicht, dass sie mich für einen Trottel hält.«

Tara sah ihn an. Was für ein süßer Junge, er machte sich ernsthaft Sorgen. »Du warst bereit, einen unserer Gäste vor einem bewaffneten Verrückten zu beschützen. Daisy wäre enorm beeindruckt.«

»Bitte sag ihr nichts.«

Tara hatte Mitleid mit ihm und gab nach. »Ist gut, ich verspreche es. Im Austausch für eine Gefälligkeit.«

»Was für eine Gefälligkeit?« Barney war jetzt vorsichtig, aber leider nicht vorsichtig genug, um den Rest seines Mittagessens zu schützen.

»Lecker – Thunfisch und Mayonnaise. Das mag ich am liebsten.« Sie nahm das letzte Sandwich von seinem Teller und biss kräftig hinein.

Barney zeigte auf die Flaschen mit

O Gott, wie schrecklich! Tara begann zu husten und zu würgen und spuckte den halbzerkauten Bissen in ihre offene Hand.

»Reingefallen«, sagte Barney mit engelsgleichem Lächeln.

 

Auf seinen Spaziergängen über das Hotelgelände ging Hector am liebsten den bewaldeten Weg am Fluss entlang. Schneeglöckchen und Krokusse reckten schon ihre Köpfe aus dem Boden. Bald würden die Kätzchen an den Haselsträuchern sprießen. Die Glockenblumen würden sich die Ehre geben und bis April den unteren Teil des Hügels mit einem blauen Schleier überzogen haben. Hector seufzte zufrieden auf und dachte, wie gut es doch war, dass er diesen Ort gekauft hatte.

Das Handy in seiner Barbour-Tasche klingelte. Nur einmal.

Er sah auf das Sichtfeld und lächelte. Dieses System hatten er und Maggie entwickelt. Wenn der Zeitpunkt ungünstig war, beließ er es dabei und sie würde verstehen. Wenn die Luft rein war, rief er sie zurück.

Da die Luft kaum reiner sein konnte als in diesem Augenblick, gab er ihre Nummer ein. Aus Sicherheitsgründen hatte er sie nicht gespeichert.

»Hallo.« Maggie klang sowohl genervt als auch erleichtert. »Du wirst nicht glauben, was für einen miesen Vormittag ich hinter mir habe.«

Hector lächelte. »Wo liegt das Problem?«

»Lass mich nur so viel sagen: Wenn du heute Abend in den Nachrichten hörst, dass eine Bombe im Hauptsitz von Carver hochgegangen ist, dann weißt du, wer sie gezündet hat.«

»Ich habe dir schon oft gesagt … «

»Und ich habe dir geantwortet, dass du mir nicht noch eine kaufen wirst. Jedenfalls habe ich gerade einen Berg Handwäsche erledigt. Und Tara kommt nicht vor fünf nach Hause. Da habe ich mich gefragt, was du gerade so machst?«

Hector zögerte. Maggie musste eindeutig aufgeheitert

»Offen gesagt bin ich gerade ziemlich beschäftigt.« Hector legte Bedauern in seine Stimme und drehte den Oberkörper, um zu sehen, ob der Rücken noch schmerzte. Aua – und wie. »Aber morgen Nachmittag sieht es gut aus«, meinte er zuversichtlich. Bis dahin würde es seinem Rücken wieder besser gehen.

»Morgen?« Er hörte die Enttäuschung in Maggies Stimme und fühlte sich einen Moment lang emotional zerrissen. Aber das war dumm, rief sich Hector in Erinnerung, sie hatten ja keine emotionale Beziehung. Er räusperte ich. »So gegen vierzehn Uhr?«

»Morgen will ein australisches Pärchen vorbeikommen, um seine Kissen abzuholen. Sie konnten mir keine genaue Uhrzeit nennen.« Maggie klang frustriert. »Wenn sie vor 13 Uhr hier sind, schön. Aber vielleicht kommen sie auch erst gegen 16 Uhr.«

»Na gut.« Hector klang tröstend. »Mit etwas Glück kommen sie vormittags. Und sobald die Luft rein ist, rufst du mich an.« Er hörte, wie es vor ihm in den Büschen raschelte. »Hör mal, ich muss jetzt los. Wir sprechen uns morgen. Bye.«

In Sekundenschnelle hatte er das Handy ausgeschaltet und in seiner Jackentasche verstaut. In einem Dorf wie Colworth konnte man gar nicht vorsichtig genug sein; ein einziger Ausrutscher, und ihr anstößiges Geheimnis würde auffliegen. Hector wusste, es sollte im Grunde nicht anstößig sein, aber irgendwie war es das doch.

Es raschelte erneut in den Büschen, und wer immer es war, kam auf dem schmalen, zugewucherten Pfad auf ihn zu. Im nächsten Augenblick hörte er, wie jemand nach Luft schnappte und einen unterdrückten Schrei ausstieß.

Er war doch hoffentlich nicht über ein Paar gestolpert, das sich Sex im Freien hingab? Bestimmt nicht, es war Februar – viel zu kalt für ein derart verwegenes Unterfangen.

Mein Gott, dachte Hector, ich werde langsam alt.

Dann hörte er die Worte: »Blödmann! Runter von mir!«, ausgestoßen von einer weiblichen Stimme, die eher gereizt als verängstigt klang. Gefolgt von: »du gottverdammtes, blödes Ding.«

Als Hector um die Biegung des Pfades kam, sah er eine elegante Rothaarige, die mit einem Brombeerbusch kämpfte. Ein langer, spitzer Zweig hatte sich tentakelgleich um ihr linkes Bein geschlungen, und als sie sich nach unten beugte, um sich zu befreien, hatte es ihr cremefarbener Schal irgendwie fertig gebracht, sich in einem Zweig weiter oben zu verfangen. Als sie Hector entdeckte, zuckte sie zusammen und betrachtete ihn einen Moment lang argwöhnisch, dann seufzte sie gottergeben auf.

»Hoffentlich sind Sie kein Paparazzo. Wenn Sie einen Fotoapparat dabeihaben, ist meine Glaubwürdigkeit für immer dahin.«

Hector grinste. »Sie haben Glück, ich bin der schlechteste Fotograf der Welt. Lehnen Sie sich an meine Schulter.« Er beugte sich vor und hob ihr linkes Bein vom Boden. »Je mehr Sie dagegen ankämpfen, desto mehr verheddern Sie sich.«

»Ich fühle mich wie ein Pferd, dessen Hufe inspiziert werden«, beschwerte sich die Frau gutmütig. »Aua, Vorsicht – mein Knöchel.«

Es dauerte eine Weile, aber zu guter Letzt konnte Hector sie aus ihrer misslichen Lage befreien. Nachdem er den Brombeerzweig von ihrem bestrumpften Bein gelöst hatte, entriss er ihren Schal dem Griff der Zweige weiter oben.

»Mein Gott.« Paula Penhaligon schüttelte den Kopf. »Es war wie der Angriff der fleischfressenden Urzeitliane. Und dabei wollte ich mich hier eigentlich entspannen.«

Sie trug hoffnungslos unpraktisches Schuhwerk. Ihre hellen Strümpfe hingen ihr in Fetzen an den Beinen. »Beim

»Es wird kein nächstes Mal geben, das kann ich Ihnen versichern.«

»Ich bitte Sie, das ist der Weg des Feiglings.« Er entfernte ein Brombeerblatt aus ihrem Haar. »Wenn Sie vom Pferd fallen, müssen Sie als Erstes sofort wieder in den Sattel.«

»Ich glaube wirklich nicht, dass das Landleben zu mir passt.« Paula Penhaligon fasste sich abwehrend an ihren Kopf – ein Blatt aus ihren Haaren zu ziehen, war eine seltsam intime Geste, aber da er bereits ihren Knöchel in Händen gehalten hatte, konnte sie jetzt kaum Protest einlegen. »Danke, dass Sie mir geholfen haben, aber jetzt kehre ich am besten sofort zum Hotel zurück.«

»Sie sind doch eben erst angekommen«, tadelte Hector. »Geben Sie dem Ort eine Chance. Es gibt hier viel zu sehen.«

»Was für eine Begeisterung für die Natur.« Ihr Tonfall klang trocken. »Vermutlich sind Sie deshalb hier – um mit den Wundern der Schöpfung Gottes zu kommunizieren.« Sie betrachtete seine abgetragene Barbour-Jacke, die Cordhose, die grünen Hunter-Gummistiefel und fügte hinzu: »Sie sind doch Gast des Hotels?«

»Eigentlich nicht. Aber ich liebe diesen Ort.« Er zeigte auf das Gestrüpp an nackten Zweigen vor dem Fluss. »Darum ertrage ich den Gedanken nicht, dass Sie überstürzt nach London zurückkehren und all Ihren chicen Stadtfreunden erzählen, wie schrecklich Sie es hier fanden. Haben Sie überhaupt Schuhe ohne Absatz mitgebracht?«

Paula zögerte. Er schien charmant und war zweifelsohne attraktiv, aber sie hatte nicht die leiseste Ahnung, wer er war.

Ausflüchte suchend fragte sie: »Warum?«

»Wenn ja, dann könnten Sie sie anziehen und ich nehme Sie mit auf einen schönen, leichten Spaziergang – ich kann Sie sanft an die Natur heranführen.« Seine braunen Augen zwinkerten. »Und vielleicht können wir danach einen Tee trinken.«

Das war schwer. Wohnte er im Dorf? Konnte sie ihm vertrauen?

»Lieber nicht«, erwiderte Paula. »Aber danke für das Angebot.«

»Gut, kein Problem.« Er lächelte gewinnend und steckte die Abfuhr locker weg. »Aber wenn es Ihnen nichts ausmacht, begleite ich Sie zum Hotel zurück. Sie sollten etwas Antiseptikum auf Ihren Knöchel geben. Die Brombeerkratzer an Ihrem linken Bein haben geblutet.«

»Sie müssen mich nicht begleiten«, sagte Paula.

»Keine Sorge, ich tue Ihnen keinen Gefallen. Ich wollte sowieso in der Bar ein Bier trinken.«

Vielleicht war er der Dorfsäufer, charmant, aber arbeitsunwillig, ein Alkoholiker, der seine Tage damit verschwendete, zwischen seinen Saufgelagen durch die Landschaft zu streifen.

Auf dem Rückweg überquerten sie die Steinbrücke. Paula erkundigte sich neugierig: »Wissen Sie, wer ich bin?«

»Abgesehen davon, dass Sie eine Frau sind, die die Natur verabscheut?« Die Lachfältchen um seine Augen wurden sichtbar. »Ich mag ja wie ein Bauerntrampel aussehen, aber mein Schädel ist nicht mit Stroh ausgestopft.«

Bis sie den Hoteleingang erreichten, hatte sie erfahren, dass er pensioniert war, Golf liebte und gern Klavier spielte. Und er hatte sich unverblümt nach den schwachen Blutergüssen um ihre Augen erkundigt, woraufhin sie antwortete, dass sie unversehens in die Kulissen gelaufen sei.

»Tja, hier trennen sich unsere Wege.« Ihr freundlicher Retter wies auf die Bar zur Linken. »Es war nett, Sie kennen zu lernen. Wenn Sie sich mir später anschließen wollen, nur zu.«

Paula schenkte dem Mann ihr bestes professionelles Lächeln.

Offen gesagt fand sie, dass die Ansprüche des Hotels ziemlich niedrig sein mussten, wenn Besucher in Gummistiefeln Zutritt zur Bar bekamen. Auch wenn es die chicen Grünen von Hunter waren.

Zu ihrer Erleichterung war der Empfangsbereich halb leer, als sie eintraten. Prompt ging die Tür zum Büro der Geschäftsführerin auf.

»Um Himmels willen!« Daisy MacLean starrte die beiden entsetzt an. Ihr Blick fiel auf Paulas zerrissene Strümpfe und das blutende Bein. »Dad, kann man dich keine fünf Minuten allein lassen? Was um alles auf der Welt hast du unserem wichtigsten Gast angetan?«

 

In ihrem Zimmer zog Paula die absurd unangemessene Stadtkleidung aus. Tja, sie hatte nicht gewusst, dass ihr Aufzug absurd sein würde, als sie sich auf den Weg gemacht hatte. Natürlich war sie davon ausgegangen, dass die Wege rund um das Hotel asphaltiert waren.

Kurz darauf betrat sie in engen Lederhosen, einem Angorapulli und sorgfältig neu geschminkt die Bar.

Hector MacLean war bereits dort. Er hatte sein Landmann-Outfit schneller als sie gegen ein chices, schwarz-grün gestreiftes Hemd, schwarze Hosen und auf Hochglanz polierte, handgefertigte Schuhe ausgetauscht und saß an einem der Fenstertische, eine Kanne Kaffee vor sich.

»Sie haben gelogen«, schmollte Paula, als er aufstand, um sie zu begrüßen.

»Im Grunde nicht. Sie haben gefragt, ob ich ein Gast sei.«

»Na gut, aber Sie haben mich hinters Licht geführt. Warum haben Sie nicht einfach gesagt, dass Ihnen das Hotel gehört?«

Hector goss schwarzen Kaffee in ihre Tasse. »Sie hätten es früh genug herausgefunden. Ich wollte einfach eine Weile inkognito bleiben und herausfinden, ob ich auch allein mit meiner Persönlichkeit überzeugen kann.« Er sah auf und lächelte reuig. »Traurigerweise hat das nicht funktioniert.«

»Das ist unfair. Ich hielt Sie für einen Trinker. Aber auch für einen sehr netten Menschen«, fügte Paula hastig hinzu.

»Jetzt erscheine ich bestimmt viel netter, wo Sie wissen, dass mir dieses Hotel gehört. Zumindest sind Sie jetzt bereit, sich mir in der Bar anzuschließen. Und dabei könnte ich immer noch ein hoffnungsloser Säufer sein«, sagte Hector. »Sie kennen mich nicht gut genug, um das auszuschließen.«

»Sie haben Dennis, den wackeren Wackeldackel, erfunden

»Ich möchte nur wissen, ob ich Sie überreden kann, mich heute Nachmittag auf einen richtigen Spaziergang zu begleiten.« Hector beäugte ihre Schuhe mit den moderaten Absätzen. »Ich bin immer noch fest entschlossen, Sie der glorreichen Natur etwas näher zu bringen.«

»Ernsthaft? Haben Sie eine Ahnung, wie viel diese Stiefel kosten? Sie sind von Ferragamo«, erklärte Paula geduldig. »In solchen Stiefeln läuft man nicht.«

»Na gut.« Er zuckte resignierend mit den Schultern. Zwei Abfuhren an einem Tag waren für jeden Mann mehr als genug. »Ich gebe auf.«

Paula wollte gar nicht, dass er aufgab. Sie stellte ihre Kaffeetasse ab.

»Ich bin eher eine Gehwegperson.« Sie lächelte kokett. »Ich wollte morgen einige Einkäufe in Bath erledigen. Wenn Sie Zeit haben, würde ich mich über etwas Gesellschaft freuen.«

»Einkaufen?« Jetzt sah Hector alles andere als begeistert aus.

»Nicht zu viel, das verspreche ich. Und wir könnten anschließend zusammen zu Mittag essen«, fügte Paula als Bestechungsversuch hinzu. Plötzlich wollte sie unbedingt den kommenden Tag mit diesem Mann verbringen. Er wäre genau der Richtige, und jetzt, da sie wusste, wer er war, schien er nur umso attraktiver.

Und er war interessiert, o ja, das war er.

»Großartig«, sagte Hector. »Ein bisschen Einkaufen, ein schönes langes Mittagessen. Ich denke, das kriege ich hin. Und wer weiß«, fügte er mit einem Lächeln hinzu. »Vielleicht kaufe ich Ihnen sogar ein ordentliches Paar Laufschuhe.«