Fünfzehn Minuten auf der Autobahn, mehr brauchte es nicht, um das Frenchay Hospital am Stadtrand von Bristol zu erreichen.
Es war 15 Uhr 45. Der Himmel verdunkelte sich von Aschgrau zu Holzkohlengrau, und in den diversen Gebäuden, die zum Krankenhaus gehörten, gingen die Lichter an. Daisy folgte der Beschilderung, die den Weg zur Intensivstation wies. Krankenhauspersonal und Besucher liefen herum, als sei nichts geschehen.
Wie konnte Steven sich nur mit einer anderen treffen?
Der behandelnde Arzt war unglaublich freundlich. Er erklärte die Funktionen der verschiedenen Geräte um Stevens Bett. Das hier war der Ventilator, der sich um seine Atmung kümmerte. Die kleinere Maschine war das EKG, das seinen Herzschlag überwachte. Der Klip an seinem Finger war ein Puls-Oximeter. Der intravenöse Zugang ermöglichte die Zuführung der Medikamente, die er benötigte, und die Infusion versorgte ihn mit Flüssigkeit.
Die Intensivstation war von einer strahlenden Helligkeit. Alles war weiß mit Ausnahme der Kittel des Personals; die waren hellblau. In ihrer roten Samtbluse, dem schwarzen Lederrock und den schwarzen Pumps fühlte sich Daisy total fehl am Platz. Sie versuchte mit aller Kraft, sich auf die Worte des Arztes zu konzentrieren. Sie wusste, es war von entscheidender Bedeutung, ihn zu verstehen, wie bei einer Abiturklausur, die man nicht verpatzen durfte.
Nur schien es eine Abiturklausur in einer Sprache zu sein, die sie nie gelernt hatte. Die Worte hörte sie wohl, allein, sie ergaben keinen Sinn. Außer dem Teil, dass Stevens Zustand kritisch war.
Der Piepser des Arztes ging los.
»Setzen Sie sich doch einen Moment.« Der Arzt zog einen Plastikstuhl heran und drückte ihn in ihre Knie. »Halten Sie seine Hand. Reden Sie mit ihm. Sie können so lange bleiben, wie Sie möchten. Ich komme später wieder vorbei. Okay?«
Er eilte zur nächsten Krise und ließ Daisy allein mit Steven. Na ja, nicht wirklich allein. Vier Meter weiter saßen zwei Krankenschwestern, die sie diskret im Auge behielten.
Daisy setzte sich auf den bockelharten Plastikstuhl und nahm, wie befohlen, Stevens Hand.
Er wirkte lächerlich gesund. Ein schmales, weißes Tuch bedeckte seine Lenden, abgesehen davon war er nackt. Gebräunt und muskulös und offensichtlich in guter Kondition – stolz auf seinen Körper und das zu Recht. Die vielen Stunden im Fitnessstudio hatten sich bezahlt gemacht. Es war der Körper eines Mannes in allerbester Verfassung. Er wirkte überhaupt nicht schwer verletzt.
Daisy blinzelte und riss sich zusammen. Was genau sollte sie doch gleich wieder tun? Ach ja, mit ihm reden.
Aber was sollte sie sagen? Bestimmt nicht ›Du verlogener, untreuer Hurensohn!‹. Nein, das hatte der Arzt ganz sicher nicht im Sinn gehabt.
Nach zwanzig Minuten stand Daisy auf und wollte gehen.
»Warten Sie doch im Raum für die Angehörigen«, drängte die freundliche Schwester, die gerade Stevens Blutdruck prüfte. »Ich bringe Ihnen eine schöne Tasse Tee.«
Daisy fragte sich, warum die Leute immer zu diesem Spruch Zuflucht nahmen. Es mochte ein wirklich schauderhafter Tee sein, aber man nannte es trotzdem eine schöne Tasse Tee.
»Ist schon in Ordnung, es geht mir gut. Ich will nur kurz frische Luft schnappen.«
»Ist gut, meine Liebe, tun Sie das. Sollen wir jemand für Sie benachrichtigen?«
»Danke, nein.« Daisy lächelte und zeigte auf ihre Tasche. »Ich habe mein Handy dabei. Ich mache gleich ein paar Anrufe.«
In dem hallenden Gang vor der Station musste sie aus dem Weg springen, als ein Pfleger mit einem Jungen im Rollstuhl vorbeijagte. Eine junge Frau in Jeans und einem marineblauen Parka studierte aufmerksam das Anschlagsbrett. Das Neonlicht an der Decke flackerte und unterstrich ihre Blässe. Daisy zögerte. Die Frau sah sie abrupt an, und beinahe schuldbewusst wandte Daisy sich ab.
Sie zog ihr Handy aus der Tasche, drückte eine Reihe von Tasten und sagte: »Hi, ich bin’s. Ich verlasse jetzt das Krankenhaus und bin um fünf zu Hause.«
Weniger als eine Minute, nachdem sie die Doppeltür mit der Aufschrift AUSGANG aufgestoßen hatte, glitt Daisy in den Flur zurück. Die junge Frau im Parka lungerte nicht mehr vor dem Anschlagsbrett herum.
Daisy lugte durch das Glasfenster der Außentür zur Intensivstation. Sie sah die junge Frau vor der Innentür, die zur Station selbst führte.
Die freundliche Schwester unterhielt sich mit ihr, und sie schluchzte, als ob ihr das Herz brach.
Daisy fühlte sich auf absurde Weise eifersüchtig, als ihr klar wurde, dass die Schwester ebenso nett zu der Parka-Frau sprach wie zu ihr, nur dass sie ihr keine schöne Tasse Tee anbot, sondern ein Taschentuch.
Jetzt bemerkte Daisy auch den Verband am linken Handgelenk der Parka-Frau.
Sie lehnte sich gegen die Außentür, die sich daraufhin einen Spaltbreit öffnete. Daisy hörte, wie die Schwester mit warmer, tröstender Stimme sagte: »Es tut mir schrecklich Leid, meine Liebe, aber Sie dürfen nicht hinein. Das dürfen nur Angehörige.«
Die junge Frau war am Boden zerstört. Wenn sie nicht gerade weinte, war sie bestimmt hübsch, dachte Daisy automatisch. Möglicherweise war es angesichts der Umstände unangemessen, aber ihr schoss unwillkürlich der Gedanke durch den Kopf, dass die junge Frau zwar hübsch sein mochte, aber nicht so hübsch wie sie.
Daisy ließ die Tür wieder zufallen. Jetzt brauchte sie wirklich frische Luft. Es war auch an der Zeit, Hector tatsächlich anzurufen und nicht nur so zu tun. Er würde sich längst fragen, wohin sie verschwunden war.
Stevens Zustand verschlechterte sich im Laufe der Nacht. Um elf Uhr am nächsten Vormittag wurde Daisy, mit ausgetrocknetem Mund und benommen durch den Schlafmangel, aus der Intensivstation in das Büro für schlechte Nachrichten geführt. Es war sofort klar, dass es sich um das Büro für schlechte Nachrichten handelte, es gab nämlich bequeme Sessel.
Der Facharzt, ein Mann in den Fünfzigern mit einem zerknitterten, karierten Hemd unter seinem makellos weißen Kittel, sagte: »Mrs. Standish, es tut mir Leid. Wir haben eine zweite Reihe Tests durchgeführt und sie bestätigen unsere Befürchtungen. Ihr Ehemann hat sich extrem schwere Kopfverletzungen zugezogen. Es gibt keinerlei Anzeichen für eine Gehirntätigkeit.«
O Gott.
O Gott.
»Aha.« Daisy nickte und sah aus dem Fenster. Draußen goss es in Strömen. »Im Grunde ist er also schon tot.«
»Ich fürchte ja.«
Auf dem Schreibtisch vor ihr stand eine Schachtel mit Zellstofftüchern. Natürlich für die Tränen. Daisy, der ihre eigene Unfähigkeit zu weinen peinlich war, sagte: »Tja, danke für alles, was Sie getan haben.«
Der Facharzt räusperte sich. »Ich möchte noch etwas mit Ihnen, als Stevens nächster Angehöriger, besprechen. Über die Gelegenheit, anderen Menschen eine Chance auf Leben zu ermöglichen.« Er legte seine langen Finger auf ein Formblatt und schob es ihr zu. »Ich weiß nicht, ob Sie und Ihr Gatte sich jemals über das Thema Organspende unterhalten haben, aber unserer Erfahrung nach ist es für die Angehörigen in künftigen Jahren oft ein großer Trost, wenn sie wissen, dass … «
»Sie möchten Stevens Organe zu Transplantationszwecken verwenden?« Daisys Augenbrauen schossen erstaunt nach oben. »Obwohl er Krebs hat? Ist das nicht riskant für die Empfänger?«
Der Arzt runzelte die Stirn. »Krebs? Tut mir Leid, ich kann Ihnen nicht ganz folgen.«
»Seine Krebserkrankung. Ich dachte, es steht alles da drin.« Daisy zeigte auf die Krankenakte, die geöffnet auf dem Schreibtisch lag. »Er sagte, er habe einen der Ärzte hier aufgesucht … na ja, ich dachte, es sei hier im Krankenhaus gewesen. Aber vielleicht hat er sich ja an eine Privatklinik gewandt.«
Das Stirnrunzeln des Arztes wurde ausgeprägter. »Einen Moment bitte.«
Daisy wartete allein in dem Büro für schlechte Nachrichten und sah zu, wie der Regen gegen die Fenster prasselte. Da sie ihre Gedanken nicht sammeln konnte, konzentrierte sie sich stattdessen auf die Regentropfen, die über die Scheiben nach unten glitten.
Ein paar Minuten später kehrte der Arzt zurück.
»Ich habe mit Stevens Hausärztin gesprochen. Sie hat Ihren Ehemann seit über zwei Jahren nicht gesehen und er konnte ohne Überweisung kein anderes Krankenhaus aufsuchen. Ich denke, wir können mit Sicherheit von einem Missverständnis ausgehen«, schloss er sanft. »Ihr Ehemann leidet nicht an Krebs.«
Daisy fand die Krankenschwester, nach der sie suchte. Sie verstaute gerade Nierenschalen in einer Schleusenkammer.
»Der Chefarzt hat mir über Stevens Zustand Bescheid gesagt«, verkündete Daisy, und die freundliche Schwester stellte sofort die Schalen beiseite.
»Ach, meine Liebe, es tut mir ja so Leid. Soll ich Ihnen eine schöne Tasse Tee machen?«
»Danke, nein.«
»Sie sind wirklich tapfer.«
Insgeheim hielt es Daisy für wahrscheinlicher, dass sie auf die Schwestern der Intensivstation ziemlich merkwürdig wirkte.
»Ich wollte Sie nach der jungen Frau fragen, die gestern Nachmittag hier war. Die Frau, die bei Steven im Auto saß, als er den Unfall hatte.«
Über die Wangen der Krankenschwester zog sich eine leichte Röte. Was Daisys Vermutung bestätigte.
»Die Sache ist die«, fuhr Daisy fort, »ich habe gehört, wie Sie zu ihr sagten, dass sie nicht zu ihm dürfe, weil sie keine Angehörige sei. Aber unter diesen Umständen … na ja, es würde doch nicht schaden, oder? Sie könnten sie ein paar Minuten zu ihm lassen und ich halte mich solange im Hintergrund.«
Der Teint der Schwester hatte mittlerweile Ähnlichkeit mit Erdbeereis. »Sie ist nicht hier, meine Liebe. Ich bat sie, nach Hause zu gehen.«
Daisy sah die Schwester lange an. »Ich wette, sie hat Ihnen ihre Telefonnummer gegeben.«
Der Gesichtsausdruck der Schwester bestätigte das. Na ja, das war nur natürlich.
»Rufen Sie sie an«, bat Daisy. »Ich weiß nicht, wer sie ist, und ich will sie auch nicht sehen. Aber wenn sie Stevens Freundin ist, dann sollte sie sich von ihm verabschieden dürfen.«