»Die arme, alte Tara wurde gestern Abend versetzt.« Christopher gab hinter der Theke ein Ts-ts-ts von sich und nahm Daisys Geld.
»Nicht nur versetzt«, stimmte Colin eifrig mit ein. »Da saß sie nun im Pub und wartete auf ihn und er fuhr einfach vorbei, krawumm, mit einer anderen im Auto!«
Neuigkeiten verbreiteten sich in Colworth rasend schnell. Daisy hatte von dem Drückeberger bereits von Hector gehört, der – bizarrerweise – Tara und Maggie gestern Nacht überredet hatte, ihn auf einer Dachssuche zu begleiten.
Da kam Barney in den Laden, Daisy lächelte ihn an. »Was macht das Cottage?«
»Einfach klasse. Wir sind absolut glücklich.«
»Seine Freundin ist gestern eingezogen«, verkündete Christopher. »So süß. Einer jungen Liebe holder Traum.« Spielerisch versetzte er Colin einen Stoß. »Weißt du noch, als wir so waren?«
»Ich würde sie Ihnen gern vorstellen.« Eifrig drehte sich Barney zu Daisy. »Wenn Sie nichts anderes vorhaben, könnten Sie doch gleich mitkommen?«
Vince war aus Schottland zurück, und Daisy hatte ein paar Stunden frei.
»Ich habe nichts vor. Klingt verlockend«, sagte sie zu Barney, weil es ihm offensichtlich so viel bedeutete.
Barney strahlte und bezahlte für seine Milch und das geschnittene Brot. »Phantastisch. Sie sind unser erster richtiger Gast!«
Maggie nähte gerade an einem Kissen, als Hector anrief.
»Maggie, ich wollte nur Bescheid geben, dass ich es morgen doch nicht schaffe. Paula hat ein paar Freunde eingeladen. Ich dachte, ich sage dir das lieber, damit du nicht wartest.«
»Wie rücksichtsvoll von dir, danke«, warf Maggie hastig ein, bevor er sich entschuldigen konnte. »Und mach dir keine Sorgen, ich habe ohnehin eine Million Kissen zu nähen.«
Mein Gott, wie oft hatte sie ihm in letzter Zeit eigentlich gesagt, es sei alles in Ordnung und er solle sich keine Sorgen machen?
Am Anfang hatte sie die Situation akzeptiert, weil ein halber Laib Brot besser war als gar kein Brot. Aber diese Hälfte war in letzter Zeit drastisch geschrumpft. Ganz ehrlich, eigentlich war nur noch eine Scheibe übrig.
»Ich habe das Gefühl, dich im Stich zu lassen.« Hector zögerte, klang unbeholfen. »Hör mal, darf ich dir wenigstens etwas Geld schicken?«
»Nein!« Maggie zuckte zusammen, als sich die Nähnadel schmerzhaft in ihre Handfläche bohrte. »Nein, Hector. Ich will dein Geld nicht und du solltest dir darüber auch keine Gedanken mehr machen. Wir hatten ein kleines Arrangement, das ist alles. Jetzt, da du jemand anderes getroffen hast, brauchst du meine … Dienste … nicht länger.« Sie schloss die Augen, zwang sich, das schändliche Wort auszusprechen.
»Aber … «
»Hector, lass uns ehrlich sein, wir wussten doch beide, dass dieser Fall früher oder später eintreten würde. Du hast jetzt Paula. Warum belassen wir es nicht dabei?«
Langes Schweigen. Maggie merkte, wie heftig sie zitterte. Dennoch war es nötig gewesen. Vielleicht hatte sie es nicht besonders gut gesagt, aber sie hatte zumindest die Botschaft übermittelt.
Die Nähnadel hatte tief in ihre Hand gestochen. Ein Blutstropfen quoll heraus. Sie sah hinunter, und Tränen wallten in ihren schmerzenden Augen auf.
Das war es also, sie hatte die letzten Brotkrümel einfach weggewischt.
»Ich weiß, was du meinst.« Man musste es Hector zugute halten, dass er wenigstens den Anstand besaß, enttäuscht zu klingen. »Vermutlich hast du Recht. Ich kann nur nicht … «
»Ich muss los. Da ist jemand an der Tür«, log Maggie. »Wir sehen uns. Dir und Paula alles Gute.« Sie knallte den Hörer auf die Gabel. Geschafft. Dilemma beseitigt.
Es schmerzte zu atmen, und sie fühlte sich elender denn je zuvor. Aber sie hatte es hinter sich gebracht. Die Affäre – das geschäftliche Arrangement – war vorüber und Hector hatte keine Ahnung, welche Gefühle sie für ihn hegte. Und das war gut so, beschloss Maggie, während ihr die Tränen heiß über die Wangen liefen. Wenigstens war ihr ihre Würde geblieben.
Das heißt, falls niemand in diesem Moment durch ihr Fenster schaute und sich fragte, was diese jämmerliche Frau mittleren Alters so auf ihren Knien machte, mitten im Wohnzimmer, von Kissen umgeben, und warum sie sich die Augen wie ein Kleinkind ausheulte.
Freddie spielte auf dem Küchenboden zufrieden mit einer Auswahl bunter Plastikschüsseln von Ikea. Mel beendete den Abwasch. Dabei schaute Mel aus dem kleinen Bleifenster, um zu sehen, ob Barney schon zurückkam. In diesem Moment sackte ihr der Magen ab, wie ein Flugzeug, das in ein Luftloch fiel.
Barney kam den Weg zum Cottage hoch. Und er hatte Stevens Frau bei sich.
Scheiße, nicht jetzt, noch nicht. Entsetzt trat Mel vom Fenster zurück, verfluchte das grausame Timing und überlegte kurz, ob sie sich im Badezimmer einschließen sollte. Sie hatte geplant, Barney an diesem Abend alles zu beichten. Und sobald er ein oder zwei Tage Zeit gehabt hatte, sich an den Gedanken zu gewöhnen – und ihr zu verzeihen –, würde er Daisy MacLean aufsuchen und ihr die Situation in der ihm eigenen sanften Art und Weise auseinander setzen. Daisy mochte ihn offenbar, also wäre es besser, wenn es von Barney kam. Und dann hätte sie alle Unannehmlichkeiten hinter sich.
Tja, so hatte ihr brillanter Plan ausgesehen.
Es blieb keine Zeit, um noch irgendetwas zu tun. Die Holzpforte ging klappernd auf. Mel strich sich die Haare hinter die Ohren und wappnete sich. Sie war jedenfalls eingezogen und wohnte jetzt hier. Und Barney liebte sie. All das war nicht ihre Schuld, sie hatte es nicht absichtlich getan. Ihr Herz pochte. Mel hörte, wie die beiden knirschend den verschneiten Weg entlangschritten.
»Barney, das ist erstaunlich. Schon von außen sieht es tausendmal besser aus«, rief Daisy erfreut und bewunderte den frischen Anstrich von Haustür und Fensterrahmen. »Ich kann kaum erwarten, was Sie innen alles bewerkstelligt haben … bestimmt übertrifft es Blenheim Castle!«
Sie lachten beide. Barney öffnete die Haustür. Drei, zwei, eins, dachte Mel, und los geht’s …
Daisy blieb das Lachen im Halse stecken. Sie starrte die braunhaarige, junge Frau mit den wachsamen grauen Augen an und erkannte sie sofort.
Wie kam die denn hierher?
Barney schloss die Tür und rief fröhlich: »Ich habe die Milch mitgebracht. Und rate, wem ich im Laden begegnet bin? Mel, das ist Daisy!« Er packte Mels Arm und zog sie stolz an sich. »Daisy, darf ich Ihnen meine Freundin Mel vorstellen?«
Daisy nickte verblüfft und sagte. »Hallo.« Sie wollte eigentlich etwas ganz anderes sagen, aber offensichtlich hatte Barney keine Ahnung von der Beziehung zwischen ihnen beiden.
Auch Mel nickte und brachte die recht passable Imitation eines Lächelns zustande. »Schön, Sie kennen zu lernen.«
»Ich wollte Daisy zeigen, was wir am Cottage alles gemacht haben.« Barney gestikulierte ins frisch gestrichene Wohnzimmer mit den neuen Teppichen, das einfach, aber bequem möbliert war.
»Großartig.« Daisy sah wie betäubt in die Richtung, in die er zeigte. »Da haben Sie wirklich viel Arbeit hineingesteckt.«
»Sie haben ja noch gar nichts gesehen.« Seine Augen tanzten wie die eines aufgeregten Kindes. »Ich setze nur schnell Wasser auf. Wir trinken Tee und dann zeige ich Ihnen den Rest. Es dauert keine Minute.«
Kaum hatte er den Raum verlassen, murmelte Daisy: »Ich weiß nicht, was hier gespielt wird, aber Sie schulden mir eine Erklärung. Soll das ein Witz sein?«
Mel schüttelte den Kopf und drehte den silbernen Spiralring an ihrer linken Hand. »Ich schwöre, ich wusste nicht, wer er ist. Als ich es herausfand, war ich ebenso geschockt wie Sie. Ich wollte es Ihnen ja sagen, ich hatte das schon fest eingeplant«, sie wollte sich verteidigen und geriet ins Plappern, »ich wollte heute Abend vorbeikommen und alles erklären, damit Sie nicht geschockt sein würden.«
»Weiß Barney es?« Daisy kam gleich zur Sache; wie lange konnte es schon dauern, drei Tassen Tee zu brühen?
»Noch nicht.« Die junge Frau seufzte. »Ich wollte es ihm ebenfalls heute Abend erzählen.«
»Warum haben Sie das nicht schon früher getan?« Als ob sie das nicht wüsste.
»Ich hatte Angst. Ich wollte ihn nicht beunruhigen. Ich wollte nicht, dass er mich hasst … als er mich bat, zu ihm zu ziehen, da wusste ich, dass alles herauskommen würde … ich musste erst meinen ganzen Mut zusammennehmen.« Mel hob ihr Kinn und sah Daisy fest in die Augen. »Ich liebe ihn wirklich. Er hat meinem Leben wieder einen Sinn gegeben. Und Barney liebt mich.«
Daisy nickte langsam. Der anfängliche Schock ließ nach. Sie verstand, warum Mel sich davor gefürchtet hatte, es Barney zu sagen. Und ihr lief die Zeit davon.
»Na gut, hören Sie, ich werde jetzt noch nichts sagen. Sie können es Barney erzählen, sobald ich weg bin, und es mit ihm klären.« Daisy nickte der jungen Frau aufmunternd zu. Sie hatte das Gefühl, mehr als fair zu sein. Warum sah Mel nicht zufriedener aus? Ehrlich, diese Undankbarkeit heutzutage.
»Voilà!« Die Küchentür ging auf und Barney tauchte auf. Er strahlte über alle vier Backen und hielt nicht etwa drei Tassen Tee in der Hand, wie Daisy erwartet hatte, sondern ein Kleinkind mit porzellanblauen Augen und seidigem, weißblondem Haar.
Der vorige Schock ließ sich mit diesem einfach nicht vergleichen. Daisy hatte das Gefühl, als ob ihr der neue Teppich buchstäblich unter den Füßen weggezogen worden wäre.
Ein ungläubiger Blick zu Melanie Blake sagte ihr alles, was sie wissen musste. Der Junge, der eine gelbe Plastikschüssel schwang, war eine Bonsai-Ausgabe von Steven.
»Ich konnte nicht alles auf einmal tragen«, sagte Barney grinsend. Er hielt Daisy den Jungen hin und wackelte mit dessen winzigem Ärmchen. »Das ist Mels Sohn Freddie.«
Daisy scherte es nicht länger, ob sie nett war. Wohin hatten Vernunft und Freundlichkeit und Fairness sie schon groß gebracht? Die Nettigkeit segelte prompt aus dem Fenster.
»Ich muss gehen.« Sie brachte es nicht über sich, den Jungen anzuschauen. Sie konnte ja kaum atmen.
Barney wirkte bestürzt. »Gehen? Warum?«
»Fragen Sie doch Ihre Freundin.«
Mels Gesicht zeigte pure Verzweiflung. Gut! »Und wo Sie gerade dabei sind«, zischte Daisy, als sie an ihm vorbeimarschierte, »warum fragen Sie sie nicht nach dem Namen ihres Exfreundes?«
»Exfreund?« Barney war verwirrt. »Was für ein Exfreund?«
Daisy wusste, dass sie Barney erschreckte. Er war völlig unschuldig und konnte nichts dafür. Aber er musste die Wahrheit erfahren. »Mein Ehemann.« Einen Augenblick lang war sie von Zufriedenheit erfüllt, weil Mel sichtlich zusammenzuckte. »Der Mann, der ihr das Baby gemacht hat.«
Sie schlug die Haustür hinter sich zu. Daisys Gesicht fühlte sich steif an, als ob sie über Nacht eine Peelingmaske darauf vergessen hätte. Sie stapfte die Brocket Lane hinunter, sah das Gesicht des Kleinkindes wieder vor sich und verspürte eine solche Qual, dass es ihr buchstäblich den Atem raubte. Nicht daran denken, konzentriere dich auf etwas anderes, du musst es nur nach Hause schaffen, einfach nur nach Hause …