Als draußen ein Gewehrschuss fiel, schreckte Charlotte zusammen.
Der Schütze tauchte hinter Benjie auf und scheuchte den Doktoranden ins Zelt. Er gehörte zu den ICCN -Ökowächtern. Vermutlich war er es, der Ndaye bei seiner Suche nach dem Biologen begleitet hatte.
Ndaye ging zu seinem Teamkollegen, gefolgt von dem Schamanen und dessen Lehrling.
Auch Jameson näherte sich Benjie. »Was ist da los?«
Der Student blinzelte furchtsam. »Sie kommen!«
Charlotte gesellte sich zu ihnen. »Wer …?«
Ein auf- und abschwellendes Heulen durchschnitt den grollenden Donner. Ein Chor von Stimmen antwortete, was sich anhörte, als wären die Angreifer überall. Charlotte bekam eine Gänsehaut.
»Wir müssen von hier verschwinden«, sagte Benjie. »Die werden gleich ins Zelt stürmen.«
Jameson fasste den Biologen beim Arm. »Was haben Sie gesehen?«
Gewehrfeuer lenkte sie ab. Der Wachsoldat nahm seine Waffe von der Schulter und legte sie an. Plötzlich traf ihn etwas im Rücken, und er verschwand. Schreiend schlug er von außen gegen die Zeltwand. Dunkles Blut spritzte auf das Gewebe.
Benjie wich zurück. Charlotte ergriff Disankas Arm und zog sie mitsamt dem Kind weiter nach hinten.
An der Zeltklappe ließ Ndaye sich mit angelegter Waffe auf ein Knie nieder. Er feuerte einen Schuss ab, dann einen zweiten, gezielt auf die beiden Kämpfer, die sich vom Zelt weggewälzt hatten. Das Geschrei des Soldaten mündete in ein Gurgeln, dann verstummte er.
Fluchend zog Ndaye sich zurück und schob den Schamanen und dessen Lehrling nach hinten.
Woko blickte über Ndayes Schulter hinweg. »Nyani …«
Charlotte runzelte die Stirn. Sie kannte das Wort, doch es ergab in dem Zusammenhang keinen Sinn.
Wie zum Beweis des Gegenteils zwängte sich ein massiges Tier durch den Eingang. Es reichte ihr nur knapp bis an die Hüfte, wog aber bestimmt über fünfzig Kilo. Sein zotteliges grau-grünes Fell war pitschnass und verdreckt. Es setzte sich auf die Hinterbeine und stützte sich mit dem Unterarm ab. Seine großen Augen funkelten zornig. Dann riss es die hundeartige Schnauze auf und kreischte, bleckte die fingerlangen Reißzähne und entblößte das rosige Zahnfleisch.
Nyani bedeutete Pavian .
Während ringsumher weitere Schreie ertönten, feuerte Ndaye auf das Tier und traf es an der Schulter. Der Pavian wurde herumgewirbelt – dann sprang er den Ökowächter an. Ndaye feuerte erneut. Der Kopf des Pavians ruckte nach hinten, und er brach zusammen.
Ndaye setzte über den blutigen Körper hinweg und schloss den Reißverschluss des Eingangs, was nicht bedeutete, dass sie jetzt in Sicherheit gewesen wären. »Wir können hier nicht bleiben.«
»Ich … ich habe versucht, Sie zu warnen«, sagte Benjie beinahe atemlos.
Charlotte musterte das tote Tier. Schattenhafte Gestalten trampelten um das Zelt herum. Ein Affe sprang aufs Zeltdach, sodass sie unwillkürlich den Kopf einzog. Ringsumher wurde geheult und gebrüllt. Es hörte sich an, als wären Hunderte Paviane ins Lager eingefallen.
Dieses Verhalten konnte sie sich nicht erklären. Die Anwesenheit von Pavianen war nicht ungewöhnlich. In den vergangenen Tagen war es immer wieder vorgekommen, dass sich ein pelziger Dieb einschlich, Essen vom Tisch stibitzte oder ein Lager plünderte. Die graupelzigen Affen – Papio anubis oder Grüner Pavian – kamen im ganzen Kongo vor. Ganz ungefährlich waren sie nicht. Sie hatte gelesen, Paviangruppen könnten einen Leoparden töten. Doch solange sie nicht gereizt wurden, stellten sie keine Gefahr dar, und dass man die Diebe mit Geschrei vertreiben konnte, hatte sie selbst erlebt.
Jetzt galt das anscheinend nicht mehr.
»Was sollen wir tun?«, fragte Jameson.
Vereinzelte Schüsse von der anderen Seite des Lagers durchschnitten das Geheul. Charlotte wechselte einen besorgten Blick mit Ndaye. Zwei ihrer Teamkollegen waren noch dort draußen. Sie hatten den letzten ICCN -Truck bewacht und für die Evakuierung vorbereitet. Jetzt versuchten sie vermutlich, die Stellung zu halten und die Patienten zu schützen.
Sie stellte sich den belagerten Truck vor, ihr einziges Fluchtfahrzeug. Doch sie kannte die bittere Wahrheit.
Zu Fuß werden wir es nicht bis dorthin schaffen.
Ndaye war anscheinend zum gleichen Schluss gelangt. Er löste das Funkgerät von der Hüfte und hielt es sich an den Mund. Auf Französisch befahl er den Soldaten loszufahren, solange es noch möglich war, und dem anderen Fahrzeug zu folgen.
Jameson sprach ein wenig Französisch und hatte mitbekommen, worum es ging. Er fasste Ndaye beim Arm. »Was soll das? Befehlen Sie ihnen hierherzukommen. Sie sollen uns abholen.«
Ndaye schüttelte ihn ab und sagte mit enervierender Gelassenheit: »Non. Sie würden überwältigt werden, bevor sie hier ankommen. Es ist besser, wenn sie losfahren. Vielleicht wäre es für uns sogar ganz hilfreich.«
»Inwiefern?«, fragte Jameson.
Ein Motor sprang dröhnend an, dann knirschte das Getriebe. Lautes Hupen war zu hören, ein plärrender Morsecode, der allmählich leiser wurde. Die Hupbotschaft war nicht für die Zeltinsassen bestimmt, sondern für die draußen herumtrampelnde Horde.
Ein weiterer Pavian sprang aufs Zelt und rumorte darauf herum, dann folgte er dem Truck. Das Gejohle, die Schreie und das Geheul entfernten sich. Die Mehrheit der Bande folgte anscheinend dem Wagen.
Sie versuchen, die Affen wegzulocken …
»Uns bleibt nicht mehr viel Zeit, um uns in Sicherheit zu bringen«, flüsterte Ndaye.
Charlotte biss die Zähne zusammen und lauschte. Man hörte noch ein paar Affen an der Vorderseite des Zelts rumoren, wo sie grunzend Kisten umwarfen.
Wie viele mögen das wohl sein?
Charlotte kam näher und zeigte zur Rückseite des Zelts. »Wie wär’s, wenn wir versuchen würden, das überflutete Dorf zu erreichen? Ein paar Häuser haben Holzwände und ein Blechdach.«
Sie musterte die drei anderen. Sie kam sich vor, als wäre sie in die Geschichte von den drei kleinen Schweinchen versetzt worden und dränge ihre Schicksalsgenossen dazu, ihre unzureichende Zuflucht aufzugeben und etwas Besseres zu suchen.
Wenn es hier nur ein Backsteinhaus gäbe …
Benjie nickte. »Das ist ein guter Vorschlag. Paviane können schwimmen, aber das tun sie nur im Notfall. Die Fluten könnten sie davon abhalten, uns in den Fluss zu folgen.«
»Dann los«, sagte Ndaye. »Aber leise.«
Er ging zur geschlossenen Zeltklappe, doch Woko packte ihn beim Arm und schüttelte den Kopf. »Hapana.«
Der Schamane wandte sich um und ging nach hinten. Auf einmal hielt er ein langes Messer in der Hand. Damit schlitzte er das Gewebe von oben nach unten auf. Die entstandene Öffnung zog er auseinander und bedeutete den anderen, hindurchzusteigen.
»Endelea« , drängte er.
Jameson eilte zum neuen Ausgang. Er wäre liebend gern hindurchgetreten – doch er wollte nicht der Erste sein. Er packte Byrne und schob den Schweizer Sanitäter zur Öffnung. Byrne schlängelte sich hindurch. Erst als er sah, dass es draußen anscheinend sicher war, schloss Jameson sich ihm an.
Charlotte schnappte sich ein Skalpell vom Tisch, dann half sie Disanka und deren Jungen und folgte den beiden, wobei sie darauf achtete, möglichst kein Geräusch zu machen.
Jameson und Byrne kauerten neben dem Zelt. Das regengepeitschte Lager lag im Dunkeln, stellenweise erhellt von Laternen, die vom Generator mit Strom versorgt wurden. Donner grollte, und ferne Blitze ließen die schwarzen Wolken aufleuchten. Zumindest hatte der Regen die meisten Ameisen fortgeschwemmt.
Die Hand ums kleine Skalpell gelegt, schaute Charlotte sich um.
Hinter den Zelten und provisorischen Hütten zeichnete sich schattenhaft das Dorf ab. Der Fluss spiegelte die eskalierende Schlacht am Himmel wider, sie tauchte für Augenblicke auf und verschwand gleich wieder.
Woko und Faraji gesellten sich zu ihnen. Der Junge hatte die Hände um die Riemen des Rucksacks mit der kostbaren Kuba-Maske gelegt. Ndaye folgte Benjie nach draußen und musterte die kleine Schar.
Jameson trat unruhig von einem Bein aufs andere. Offenbar hätte er sich liebend gern davongemacht, blickte aber immer wieder auf Ndayes Gewehr, die einzige Waffe, über die sie verfügten. Auf diese Rückversicherung wollte der Kinderarzt nicht verzichten.
Ndaye gab das Zeichen zum Abmarsch.
Sie gingen durchs Lager, mieden die Lichtinseln und wichen den tieferen Pfützen aus, damit sie mit dem Platschen nicht die Paviane anlockten.
Charlotte blickte sich immer wieder um und spitzte die Ohren, doch das ständige Donnergrollen und das Regenprasseln überlagerten alle anderen Geräusche. Sie versuchte, möglichst leise zu atmen. Dann blitzte es einmal über ihren Köpfen auf. Der nachfolgende Donner ließ die Pfützen erzittern.
Zu ihrer Linken bewegte sich etwas auf einem Zelt. Ein großer Schatten richtete sich aus der Hocke auf und wurde kurzzeitig erhellt. Er wirkte viel größer als ein Pavian. Oder sie hatte vor lauter Angst schon Halluzinationen. Rechts von ihr regte sich etwas auf einem mit einem Netz abgedeckten Kistenstapel.
Wachposten …
Sie musste sich nicht lange fragen, ob sie bemerkt worden waren. Das kleinste Mitglied ihrer Gruppe schrie plötzlich laut. Der Donner hatte das Kind anscheinend erschreckt. Disanka beugte sich über den Jungen. Jameson stürzte sich mit ausgestreckten Armen auf sie, als wollte er das Kind notfalls erwürgen.
Disanka rettete sich an Charlottes Seite.
Doch es war bereits zu spät.
Der Wachposten an der linken Seite heulte. Sein Ruf wurde vom zweiten Pavian noch lauter aufgenommen. Hinter ihnen stieg ein Schrei aus mehreren Kehlen auf.
Aus zu vielen Kehlen …
Sie rannten los und verteilten sich. Charlotte blieb in der Nähe von Disanka und deren Sohn. Sie folgte Jameson und Byrne. Als sie um eine Hütte bogen, kam ihnen ein Schatten entgegen. Byrne wurde angerempelt und fiel in den Morast. Ein großer Pavian attackierte ihn. Der Sanitäter versuchte, ihn mit dem Arm abzuwehren, der dadurch in den Bereich des kräftigen Gebisses kam. Der Handgelenkknochen knirschte. Der Pavian ruckte mit dem Kopf, die Hand flog in hohem Bogen davon und verspritzte Blut.
Byrne schrie.
Dann knallte es zwei Mal ohrenbetäubend laut, die Kugeln pfiffen dicht an Charlottes Ohr vorbei. Fellfetzen flogen umher, doch das Tier schnellte hoch und verschwand. Charlotte wandte den Kopf und erwartete, Ndaye zu sehen, erblickte stattdessen aber einen kleineren ICCN -Ökowächter in gleicher Uniform. Er lief an ihr vorbei. Offenbar kam er vom Truck. Vielleicht hatte er sich versteckt, als der Wagen losgefahren war, weil er ihnen helfen wollte.
Der Mann rannte zu Byrne und zog den Sanitäter auf die Beine. Byrne stützte den verletzten Arm und taumelte, als der Ökowächter ihn mit sich zerrte.
Jameson hatte nicht gewartet und war bereits ein gutes Stück weiter. Er hatte den Dorfrand erreicht, wurde aber erst dann langsamer, als er auf den überfluteten Bereich stieß.
Charlotte lief ihm mit Disanka hinterher.
Von hinten näherten sich heulende, schnatternde Paviane.
Charlotte keuchte, das Herz klopfte ihr bis zum Hals.
Wir müssen es schaffen …
Zur Linken schrie jemand. Sie wandte den Kopf. Fünfzehn Meter entfernt lag Faraji bäuchlings im Morast; zwei Affen zerrten an ihm. Der Junge wälzte sich umher und wehrte sich, vor allem darauf bedacht, seinen blauen Rucksack zu schützen.
Sie schob Disanka dem ICCN -Ökowächter entgegen. »Bringen Sie sie in Sicherheit. Folgen Sie dem Arzt.«
Dann packte sie das Skalpell fester und lief zu Faraji hinüber.
Woko erreichte seinen Lehrling als Erster. Mit einem Fußtritt verscheuchte er einen der beiden Paviane. Der andere wälzte sich fauchend zur Seite und bleckte die langen Reißzähne. Weitere Affen tauchten unter durchdringendem Geheul aus der Dunkelheit auf und näherten sich den beiden.
Im Laufen machte sie hinter ihnen Ndaye aus. Er hatte das Gewehr angelegt, doch aus Angst, jemanden versehentlich zu treffen, zögerte er zu schießen. Benjie kauerte hinter dem Ökowächter.
Bevor Charlotte den Schamanen erreicht hatte, breitete Woko die Arme aus und wirbelte herum. Gelbes Pulver stob von seinen Fingerspitzen, was wie Zauberei wirkte. Charlotte aber wusste, dass es aus dem Fläschchen im Kuba-Kasten stammte. Bevor der Regen das Pulver aufnehmen konnte, verteilte sich ein feiner Nebel über den beiden.
Die Paviane versuchten trotzdem anzugreifen, schreckten aber laut schreiend zurück. Mehrere flüchteten.
Woko nutzte die Gelegenheit und packte Faraji beim Kragen. Er zog den Jungen auf die Beine und versetzte ihm einen Stoß. Der Junge lief auf Ndaye zu, die Hand um den einen verbliebenen Rucksackriemen gelegt. Den anderen hatten die Affen zerrissen.
Ein paar einzelne Paviane stürmten ihm hinterher.
Ndaye feuerte und traf den Verfolger, der dem Jungen dicht auf den Fersen war.
Woko hatte zu lange gewartet. Der Regen hatte das Pulver zu schnell absorbiert. Die Paviane reckten witternd die Nasen, dann warfen sie sich auf den Schamanen. Sie sprangen ihn von allen Seiten an und kletterten an ihm hoch.
Ein Blitz ließ ihre Reißzähne weiß aufleuchten. Woko schaute in ihre Richtung, in seinen Augen spiegelten sich die Blitze.
Dann hüllte ihn gnädige Dunkelheit ein.
Lautlos brach Woko unter dem Gewicht der Affenübermacht zusammen. Etwas funkelte auf, als es durch eine Lichtinsel flog. Es landete vor Charlotte im Morast.
Mit der freien Hand hob sie das Fläschchen auf. Hinter dem zerfetzten Körper des Schamanen prallte Faraji gegen Ndaye. Der Ökowächter fing den Jungen auf und schob ihn Benjie entgegen. Dann feuerte Ndaye einmal in die Luft und entfernte sich, um die Paviane abzulenken.
»Laufen Sie!«, rief er ihr zu.
Inmitten des Donnerns und des Geheuls wandte sie sich ab und folgte Jamesons Gruppe. Es widerstrebte ihr, dass sie sich aufteilten, doch sie hatten keine Wahl.