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23. April, 23:28 CAT
Provinz Tshopo, Demokratische Republik Kongo

Noch nie hatte es Benjie so gefreut, recht zu behalten.

Keuchend watete er durchs dunkle Wasser. Ndaye und der Junge hatten ihn in ihre Mitte genommen. Sie hatten es eilig, weiter in das überflutete Dorf hineinzukommen. Am Rand der Wasserfläche kreischte ein Trupp Paviane, der vor dem angeschwollenen Fluss zurückschreckte.

Und das aus gutem Grund.

Die Strömung war stark. Bei jedem Schritt bestand die Gefahr, dass Benjie die Beine weggerissen wurden. Um nicht das Gleichgewicht zu verlieren, stützte er sich mit einer Hand an einer Holzhütte ab. Am Eingang ging er vorbei.

Nicht geeignet.

Die kleine Hütte hatte ein Dach aus Palmblättern, das vor einem eventuellen Angriff kaum Schutz bieten würde. Er hatte ein anderes Ziel ausgewählt – ein Haus mit verrostetem Blechdach und festen Wänden, das aus dem hüfttiefen Wasser aufragte.

Perfekt …

Er eilte darauf zu, behielt aber den Fluss im Auge.

Die starke Strömung und die Strudel waren nicht die einzige Gefahr. Es gab auch noch die Krokodile und Flusspferde. Er hoffte, dass das Unwetter diese Tiere auf höheres Gelände oder in tieferes Wasser vertrieben hatte.

Er versuchte, den Fluss zu lesen wie ein Buch, und hielt Ausschau nach Kräuselungen und Wasserfontänen.

Nichts.

Vielleicht wurden meine Gebete ja erhört.

Benjies Mutter setzte ihr ganzes Vertrauen in den Glauben und die wöchentliche Messe in der Jakobuskirche. Sie war felsenfest überzeugt, dass jeder Wunsch erfüllt wurde, wenn man nur fest genug dafür betete.

Leider hatte sich Benjie hinsichtlich seiner Wünsche nicht besonders klar ausgedrückt.

Hinter ihm wurde das Gekreische lauter.

Er warf einen Blick über die Schulter. Dunkle Gestalten sprangen von Dach zu Dach, unerreichbar für die Wasserfluten. Offenbar hatten die Paviane eine Methode entwickelt, um die Verfolgung fortzusetzen, ohne nass zu werden.

Auch Ndaye hatte es bemerkt. »Schneller!«

Benjies Arme und Beine durchteilten das Wasser, er kämpfte gegen die Strömung und seine Panik.

Schreie schallten hinter ihm durchs Dorf.

Endlich hatte er das Haus erreicht und bog um die Ecke. Ein dunkler Eingang zeichnete sich in der Wand ab. Er stürmte darauf zu, die anderen folgten ihm. An der Schwelle angelangt, hatte er zwei Enttäuschungen zu verkraften. Es gab keine Tür, das Haus war offen. Und es gab neue Bewohner, die hier vor dem Unwetter Zuflucht gesucht hatten.

Blitze zuckten über den Himmel und erhellten die sich an der Wasseroberfläche windenden Tiere. Sie füllten den ganzen Innenraum aus.

Schlangen …

23:31

An der anderen Seite des Dorfs band Charlotte Byrnes Unterarmstummel mit dem Gürtel ab. Sie hoffte, die Blutung damit zu stillen.

Byrne saß auf einem Hocker, den sie in dem überfluteten Haus gefunden hatten. Mit seinem Gewicht verhinderte er, dass er umfiel. Er zitterte am ganzen Leib. Seine Augen zeigten zu viel Weiß. Er stand unter Schock und drohte aufgrund der Schmerzen und des Blutverlusts das Bewusstsein zu verlieren.

Der ICCN -Ökowächter – ein Mann namens Kendi – hielt an der einen Spaltbreit offenen Tür Wache und blickte zum Fluss. Dort kreischten noch immer die Paviane, doch die Hütten am Ufer verdeckten ihm die Sicht.

Jameson stand dicht hinter Kendi. Der Kinderarzt hatte die Hände zu Fäusten geballt. Auch er zitterte im knietiefen Wasser, doch das kam nicht vom Schock.

Disanka stand reglos in der gegenüberliegenden Ecke und stillte ihren Sohn. Charlotte aber wusste, dass es weniger darum ging, das Kind zu sättigen, als vielmehr darum, es ruhig zu halten.

Für ihr Empfinden waren sie noch immer zu nahe am Ufer. Jameson hatte sie zur erstbesten Hütte mit Holzwänden und einer Tür mit Blechrahmen geführt. Sie schaute zum Strohdach hoch. Vor den kräftigen Pavianen würde es kaum Schutz bieten.

Sie konnte nur hoffen, dass die Affen nicht an sie herankamen.

Lautes Geheul erscholl am Ufer. Es wurde von anderen Affen aufgenommen und von hohlem Gebell untermalt. Der Lärm währte eine ganze Minute – dann brach er unvermittelt ab.

Charlotte spannte sich an.

Disanka blickte sie unverwandt an, die Augen glasig vor Angst.

Dann hörte Charlotte ein leises Stampfen und Klatschen, begleitet von Grunzlauten. Die Geräusche kamen rasch näher. Charlotte stellte sich schattenhafte Affen vor, die von Dach zu Dach sprangen.

»Sie kommen«, flüsterte am Eingang Kendi.

23:32

Nein, nein, nein, nein …

Während die Verfolger immer näher kamen, verharrte Benjie an der Schwelle des Raums, in dem es von Schlangen wimmelte. Er brachte es nicht fertig, ihn zu betreten. Er hasste diese Kriechtiere. Im Kongo starben alljährlich Zehntausende Menschen an Schlangenbissen. Er kannte ihre Bezeichnungen auswendig: Buschviper, Boomslang, Schwarze Mamba, Puffotter, Baumnatter, Erdviper . Was seine Eier vor allem schrumpfen ließ, war der Gedanke an die Naja christyi, die tödliche Wasserkobra, die über zwei Meter lang wurde.

Doch nicht die Angst vor dem Gift oder den Fangzähnen lähmte ihn. Er ertrug die Vorstellung nicht, dass glatte Schuppen an seiner Haut streiften. Die Uni-Vorlesung in Herpetologie hatte ihm dermaßen zugesetzt, dass er überlegt hatte, das Studium abzubrechen. Vor allem die praktischen Übungen, bei denen er mit solchen Tieren zu tun hatte, waren ihm zuwider gewesen.

Sein Autismus war nur schwach ausgeprägt, doch bestimmte Geräusche und Sinneseindrücke versetzten ihn in Panik. Wenn Zellophan knisterte, musste er sich die Ohren zuhalten. Vom Geruch bratender Zwiebeln musste er sich übergeben. Und eine Schlange, die mit ihren trockenen, öligen Schuppen über seine Hand glitt, brachte ihn zum Zittern.

Der Anblick des sich ringelnden Gewimmels lähmte seine Beine.

Plötzlich versetzte ihm jemand einen Stoß auf den Rücken. »Gehen Sie schon rein!«, rief Ndaye.

Benjie jammerte. Er hatte Mühe, das Gleichgewicht zu wahren, und reckte beide Arme in die Höhe. Schlangen wanden sich um seine Hüfte. Sein Gesichtsfeld verengte sich. Er hatte ein Klingeln in den Ohren.

Ndaye watete mit seinem Gewehr in den Raum, gefolgt von einem kleinen Jungen mit Rucksack; Benjie kannte seinen Namen nicht.

»Musst keine Angst haben«, sagte der Junge tadelnd. Er hielt eine sich windende Schlange hoch, dann schleuderte er sie von sich. »Chatu.«

»Faraji hat recht«, versicherte ihm Ndaye, der das Gewimmel durchteilte. »Das sind Calabaria reinhardtii. Ungiftige Erdpythons.«

Benjie hielt weiter die Hände hoch, die Erklärung konnte ihn nicht beruhigen. Er kniff die Augen zu, kämpfte mit Fakten gegen die Panik an und vergegenwärtigte sich, was er über diese Spezies wusste. Erdpythons wurden nur selten über einen Meter lang. Benannt waren sie nach dem dänischen Herpetologen Johannes Reinhardt. Sie kamen im ganzen Regenwald vor und lebten in einem Bau, den sie meistens in altem Laub anlegten …

Er öffnete einen Spaltbreit die Augen und sah sich kurz um. Die meisten Schlangen waren jung und klein, nicht länger als sein Unterarm.

Ihre Nester am Flussufer wurden wohl überflutet.

Er zwang sich, ruhig zu atmen, hatte aber noch immer keine Gewalt über seine Gliedmaßen.

Doch die eigentliche Gefahr ging nicht von den Schlangen aus. Benjie blickte zum Eingang, der von Ndaye und dessen Gewehr bewacht wurde. Draußen war es still geworden. Dann prallte etwa mit lautem Knall aufs rostige Blechdach, und er schreckte zusammen.

Ein zweiter Knall.

Und noch einer.

Leise Rufe und Gebell waren zu hören.

Ndaye legte den Zeigefinger an die Lippen. Alle schauten an die Decke.

Immer mehr Affen versammelten sich auf dem Dach und tappten umher. Mit ihren kräftigen Fingern zerrten sie am Rand. Plötzlich schwang sich ein dunkler Schatten von oben herab und klammerte sich mit einer Hand am Türsturz fest. Damit hatte Ndaye nicht gerechnet. Der Affe holte mit den kräftigen Beinen aus und schlug dem Ökowächter die Waffe aus der Hand. Sie fiel ins Wasser und versank.

Der Pavian – ein rund fünfzig Kilo schweres Männchen – schwang wieder zurück. Er bleckte die Zähne und machte Anstalten, Ndaye anzuspringen.

Plötzlich zwängte sich Faraji an dem hochgewachsenen Mann vorbei, holte aus und schleuderte eine halbmeterlange Schlange. Sie traf den Pavian am Hals und suchte daran Halt.

Der Aufschrei des Affen klang ohrenbetäubend laut in dem kleinen Raum.

Der Pavian plumpste ins Wasser, und Ndaye hechtete zur Seite. Mit angstvoll geweiteten Augen versuchte der Pavian, die Schlange zu fassen. Dann sah er das Gewimmel im Wasser. Er kreischte, sprang in die Luft und suchte das Weite. Das Platschen und das Angstgeschrei entfernten sich.

Benjie blickte den Jungen an.

»Nyani mag Schlange nicht.« Faraji zeigte auf ihn. »Hat Angst wie du.«

Benjie blinzelte krampfhaft. Erst jetzt fiel ihm wieder ein, dass Paviane sich vor Schlangen fürchteten. Bei den vielen giftigen Tieren im Dschungel war das sinnvoll. Im Lauf von Jahrtausenden hatte die Angst ins Erbgut Eingang gefunden und wurde nun von Generation zu Generation weitergereicht. Auch Menschen verfügten über angeborene Ängste. Unser Abscheu vor Schlangen und Spinnen war vermutlich ein Überlebensmechanismus, der sich nach zahlreichen Kontakten mit giftigen Tieren im Erbgut verankert hatte.

Bei Benjies Doktorarbeit ging es um die Vererbbarkeit stressinduzierter Mutationen. Der Stress dieser Nacht fing jedoch gerade erst an.

Die Panik des flüchtenden Pavians hatte die Affen auf dem Dach nicht abgeschreckt. Kreischend zerrten sie am Blech. Ein Teil davon bog sich und riss ab. Nägel fielen ins Wasser. Schattengestalten tauchten in der Lücke auf.

Ndaye suchte im Wasser verzweifelt nach dem Gewehr. Doch selbst wenn er es fand, würde ihm die nasse Waffe vermutlich nicht viel helfen.

Benjie blickte nach oben.

Wir kommen hier nicht lebend raus.

23:34

»Sie sind fast schon durch …«, stöhnte Jameson.

Charlotte zuckte zusammen, als Kendi blindlings aufs Dach feuerte. Stroh regnete herab. Die Ursache waren nicht die Schüsse, sondern die Wühltätigkeit der Affen. Einer fiel mit einem lauten Platschen ins Wasser, wohl ein Zufallstreffer. Der Tod des Pavians schreckte seine Artgenossen jedoch nicht ab.

Jameson drückte mit dem Rücken gegen die Tür. Byrne saß zusammengesunken auf dem Hocker, Charlotte stützte ihn. Disanka stand in der Ecke und hielt ihren Sohn in den Armen. Er weinte, denn die Schüsse hatten ihn erschreckt.

Auch Charlotte dröhnten die Ohren.

Kendi senkte das Gewehr. Vielleicht war ihm aufgegangen, dass es keinen Sinn hatte zu schießen, oder er wollte Munition sparen. Er legte den Kopf schief und schaute nach oben. »Hören Sie mal. Ich glaube, sie haben aufgehört.«

Charlotte blickte zum Dach hoch. Ein paar Palmwedel flatterten herab, doch Kendi hatte recht. Das Rütteln und Rascheln hatten aufgehört.

Wieso haben sie …

Erst spürte sie es in der Brust, dann hörte sie es auch. Ein tiefes Knattern.

Ein Helikopter …

Die Paviane auf dem Dach wandten sich kreischend zur Flucht. Das Knattern wurde lauter, bis es in den Ohren wehtat.

Jameson öffnete die Tür einen Spaltbreit. Charlotte überließ Byrne auf seinem Hocker sich selbst und ging hinüber.

Der Rotorschwall fegte durchs Dorf und riss Palmwedel von den Dächern. Das Wasser ringsumher war in gleißendes Licht getaucht, das Richtung Ufer wanderte und die Paviane hoffentlich in den Dschungel zurücktrieb.

Jameson zog die Tür weiter auf. Er zitterte noch immer, inzwischen aber vermutlich vor Erleichterung. »Vielleicht hat doch jemand meinen Funkspruch empfangen.«

Der dickbäuchige Helikopter sah aus wie ein leuchtender Engel. Am Ufer ging er in den Schwebeflug über und senkte sich auf den Boden ab. Noch ehe er aufsetzte, sprangen an beiden Seiten dunkle Gestalten heraus. Ein großer Mann in Tarnuniform stellte sich in einen Scheinwerferkegel und hielt sich ein Megafon an den Mund, um sich Gehör zu verschaffen.

Auf Französisch erteilte er Befehle. Allein schon der Klang der vertrauten Sprache trieb Charlotte Tränen in die Augen. »Durchsucht das Lager!«, brüllte der Mann. »Bergt das medizinische Personal. Wir können nicht lange bleiben!«

Ein Blitz erhellte die schwarzen Wolken und erinnerte sie alle daran, dass das Unwetter bald losbrechen würde.

Jameson riss die Tür vollständig auf. »Beeilung!«, rief er in die Hütte hinein, dann eilte er voraus.

Charlotte ging zu Byrne zurück und blickte Kendi an. »Helfen Sie mir, ihn ans Ufer zu bringen?«

Der Ökowächter legte sich bereitwillig den einen Arm des Sanitäters über die Schulter, Charlotte den anderen. Byrne versuchte, ihnen zu helfen, doch seine Beine zitterten krampfhaft. Schließlich gab er es auf und sackte zwischen seinen Helfern zusammen.

Sie verließen die kleine Hütte und wateten durchs Wasser. Disanka folgte ihnen mit dem Jungen. Charlotte beobachtete aufmerksam die Dächer und lauschte auf Warnrufe oder lautes Gebell, doch das Dröhnen des Helikopters überdeckte die meisten Geräusche.

Trotzdem hörte sie Jameson, der bereits festen Boden erreicht hatte. »Hier drüben! Wir sind hier! Wir haben einen Verletzten und einen Kranken!«

Charlotte schüttelte den Kopf.

Von wir kann hier keine Rede sein.

Sie stapfte auf das Licht und den Lärm zu. Bevor sie das Ufer erreicht hatte, tauchten Männer auf und wateten ihr entgegen. Sie nahmen ihr Byrne ab und eilten voraus. Weitere Soldaten gaben ihnen mit ihren Gewehren Geleitschutz.

Endlich spürte sie festen Boden unter den Füßen. Obwohl sie durchnässt war bis auf die Haut, fühlte sie sich um hundert Kilo leichter. Zusammen mit Kendi und Disanka schritt sie schneller aus. Sie ließen das Dorf hinter sich und eilten auf den wartenden Helikopter zu. Es handelte sich um eine Militärmaschine mit großer Heckkabine und kleinen Tragflächen, die mit Raketen bestückt waren, drei an jeder Seite.

Jameson sprach mit dem großen Soldaten mit dem Megafon. Er war weißhäutig und sonnengebräunt, sein angegrautes Haar kurz geschnitten. Vielleicht Franzose oder Belgier. Er trug die gleiche grüne Tarnuniform wie die anderen, strahlte aber Autorität aus. Jameson, der ebenso viel gestikulierte, wie er redete, beachtete er kaum.

Als Charlotte sich ihm mit ihren Begleitern näherte, musterte der Mann sie zunächst mit seinen dunkelgrünen Augen, dann nickte er und rief etwas auf Suaheli, zu schnell, als dass sie ihm hätte folgen können. Ein Soldat bog um den tarnfarbenen Helikopter, gekleidet wie der Rest. Er nahm neben dem Mann mit dem Megafon Aufstellung. Mit ihrem grauen Haar und dem harten Gesichtsausdruck hätten sie Brüder sein können. Sie hatten sogar beide grüne Augen. Der einzige auffällige Unterschied war ihre Hautfarbe.

Sie unterhielten sich leise, sahen hin und wieder zu den dunklen Wolken auf und zuckten zusammen, wenn es blitzte. Ein Rangunterschied ließ sich nicht erkennen.

Jameson blickte sehnsüchtig zur offenen Luke des Helikopters. »Wenn ich vielleicht …«, stammelte er. »Ich weiß nicht, weshalb wir noch …«

Charlotte schob ihn beiseite. Sie hatte nicht vor, jemanden zurückzulassen. Sie zeigte in die Richtung, in der sie Ndayes Gruppe zuletzt gesehen hatte. »Noch drei . Vermutlich halten sie sich im überfluteten Bereich des Dorfs versteckt.«

Der Anführer verzog das Gesicht, nickte aber. In barschem Ton befahl er mehreren Männern, das Gebiet zu durchsuchen. »Und beeilt euch!«, rief er ihnen hinterher.

Donnergrollen unterstrich die Dringlichkeit seiner Anweisung.

23:45

»Worauf warten wir noch?«, fragte Benjie, der inmitten der Schlangen bibberte.

Er hatte eine kleine Stiftleuchte eingeschaltet, schirmte sie mit der Hand ab und beleuchtete das Gewimmel der Schlangen. Er wollte weg von hier.

Der gerade noch rechtzeitig eingetroffene Helikopter hatte die Paviane mit seinem Lärm, dem Rotorschwall und dem Scheinwerferlicht verscheucht. Er hatte gesehen, dass die Mediziner sich in Sicherheit gebracht hatten. Jetzt standen sie im Scheinwerferlicht des Helikopters.

Ndaye hatte das Gewehr aufgehoben und blickte durchs Zielfernrohr der wassertriefenden Waffe.

Faraji stand dicht neben ihm.

»Die gehören nicht zum kongolesischen Militär«, sagte Ndaye, durchs Zielfernrohr spähend. »Es fehlt das Emblem der Luftwaffe, ein gelber Stern in einem blauen Kreis.«

»Dann ist das eben ein anderer Rettungstrupp«, sagte Benjie. »Ist es nicht egal, wer unseren Arsch hier rausschafft?«

Ndaye schüttelte den Kopf und senkte das Gewehr. »Irgendwas stimmt da nicht.«

Es donnerte über dem Tshopo, doch anstatt zu verhallen, wurde das Geräusch immer lauter. Schließlich wurde klar, dass es sich um das Knattern eines weiteren Helikopters handelte.

Alle blickten flussabwärts. Ein großer Hubschrauber näherte sich über dem tosenden Strom mit flammenden Schweinwerfern und blinkenden Positionslichtern.

Ndaye hob das Gewehr, blickte durchs Zielfernrohr und schwenkte den Lauf, bis er den Hubschrauber erfasst hatte. Er spannte die Schultern an. »Das ist ein Heli der FARDC . Eine Maschine unserer Luftwaffe.«

Ein zweiter, kleinerer Helikopter folgte dem ersten und flog über das bewaldete Ufer hinweg. Sie haben wirklich die Kavallerie in Marsch gesetzt.

Als die erste FARDC -Maschine das Dorf erreichte, blickte Benjie erleichtert zum Ufer und zeigte zur Tür. »Können wir jetzt aufbrechen?«

Ndaye stieß ihn zurück. »In Deckung!«

Als Benjie vom Eingang wegtaumelte, blitzte es am gelandeten Helikopter. Eine weiße Rauchspur ging davon aus. Die neu eingetroffene Maschine explodierte in einem gleißenden Feuerball, der die Blechhütte erbeben ließ. Der FARDC -Hubschrauber taumelte – dann stürzte er ins dunkle Wasser.

Ndaye packte Benjies Hemd und riss ihn zur Tür zurück. »Hier können wir nicht bleiben.«

Der Ökowächter zeigte zum dunklen Dorf. Von dort näherten sich mehrere schwankende Taschenlampen.

23:47

Von der Druckwelle auf die Knie geworfen, starrte Charlotte das brennende Hubschrauberwrack im Fluss an. Sie versuchte zu begreifen, was geschehen war. Die Brust tat ihr weh. In den Ohren hatte sie ein dumpfes Dröhnen.

Auch ihre Begleiter waren zu Boden gegangen.

Sie wandte sich zu dem Soldaten mit dem Megafon um. Er richtete sich gerade auf und hielt Kendi eine Pistole an den Kopf. Kendis Kopf ruckte nach vorn, und er fiel bäuchlings in den hell erleuchteten Morast.

»Schafft alle an Bord!«, rief der Schütze den Soldaten zu.

Charlotte war so geschockt, dass sie sich nicht rühren konnte.

In Flussnähe fielen Schüsse. Ein weiterer Helikopter näherte sich in größerer Höhe. Im Vergleich zum ersten wirkte er winzig. Flussufer und Dorf wurden unter Feuer genommen. Eine weitere Panzerfaust wurde abgefeuert, doch der wendige Hubschrauber konnte ausweichen. Durch das abrupte Manöver geriet das Ziel aus dem Fokus. Die vom Untergestell abgefeuerte Rakete schlug im überfluteten Dorf ein. Eine mit Dampf vermischte Feuersäule stieg empor.

Weitere Raketen schossen auf den Hubschrauber zu. Er tanzte über dem Fluss. Dann wurde er am Heck getroffen, was eine Abwärtsspirale auslöste. Er kämpfte gegen den Absturz, jedoch vergeblich. Der taumelnde Helikopter ließ eine Rauchfahne hinter sich. Dann schlug er am Dorfrand auf, und eine schwarze Rauchwolke breitete sich aus.

Charlotte schlug den Arm vors Gesicht, doch jemand packte sie und schob sie zur offenen Tür des Helikopters. Jameson benötigte keine spezielle Aufforderung. Angesichts der Drohung mit der Waffe und unter dem Eindruck des Feuergefechts kletterte er in die Maschine.

Der hochgewachsene Anführer näherte sich Disanka, die auf allen vieren über ihrem Sohn kniete. Der Mann schwenkte die Pistole. »Nimm das Kind«, sagte er zu einem der Kämpfer. »Die Frau bleibt hier.«

Nein …

Charlotte riss sich los, lief zu Disanka und verstellte den Männern den Weg. Sie überlegte, wie sie der Mutter helfen könnte, und machte sich das Wenige zunutze, das sie wusste. Flehend rang sie die Hände.

»Der Säugling … wird noch gestillt. Wenn Sie den Jungen mitnehmen wollen, brauchen Sie die Mutter.«

Der Mann mit dem Megafon musterte sie scharf, dann nickte er. »Bringen Sie beide an Bord.« Er wandte sich um. »Aber noch mehr unnötigen Ballast können wir nicht gebrauchen.«

Er ging zu Byrne hinüber. Der Sanitäter kniete und stützte seinen abgebundenen Armstumpf. Als er den Kopf hob, blickte er in die Mündung der Pistole. Angst zeigte er keine; entweder er war zu benommen, oder ihm war inzwischen alles egal.

Die Wucht des Treffers warf ihn auf den Rücken.

Charlotte sprang erschrocken zur Seite, alles drehte sich um sie. Als Disanka auf die Beine gezogen wurde, klammerte sich Charlotte an sie und ließ sich mit ihr zusammen in die Heckkabine schieben.

Im Innern des Helikopters bot sich ihr ein seltsamer Anblick.

An der anderen Seite wurden Leichen nach draußen gewälzt. Die Aktion wurde geleitet vom Gegenstück des Soldaten mit dem Megafon, dem großen Kongolesen. Er befahl, die Toten in verschiedene Richtungen zu verteilen. Die Männer, die über den Boden geschleift wurden, hatten alte Waffen geschultert, einige davon mit Klebeband umwickelt. Ihre bunt zusammengewürfelten Uniformen waren in schlechtem Zustand.

Allmählich dämmerte es ihr.

Sie wollen die Aktion irgendeiner Miliz in die Schuhe schieben.

Man drückte sie auf einen Sitz nieder und befahl ihr, sich anzuschnallen. Erst half sie Disanka, dann legte auch sie den Gurt an. Jameson saß ihr steif gegenüber. Sein Gesicht glänzte vor Schweiß, sein Blick war starr.

Draußen hielt sich der groß gewachsene Europäer ein Funkgerät an den Mund. »Sind die anderen schon zu sehen?«

Die Antwort war nicht zu verstehen. Sie blickte zum rauchenden Hubschrauberwrack am Ufer. Ringsumher brannte an mehreren Stellen Öl. Die Flammen griffen rasch auf die Holzhütten über. Strohdächer qualmten und fingen Feuer.

Sie hoffte, dass die anderen sich nicht blicken lassen würden.

Das Megafon kam wieder zum Einsatz. »Alle an Bord! Abflug in fünf Minuten.«

Der Regen prasselte herab. Der Wind wurde stärker. Blitze zuckten über die Wolkenbäuche. Einer schlug im Fluss ein. Der Donner ließ den Hubschrauber erbeben.

»Abflug!«, brüllte der große Soldat. »Wir starten!«

23:52

Benjie schwamm zur nächsten Hütte. Das Dach und das obere Viertel der Seitenwände ragten aus dem Wasser. Die Strömung zerrte an der kleinen Behausung. Auf einmal löste sich ein Sperrholzteil, wurde von den schwarzen Fluten mitgerissen und verschwand in der raucherfüllten Dunkelheit.

Der Regen prasselte herab und wühlte das Wasser auf.

Hinter ihnen breiteten sich mehrere Feuer aus, bereits zu stark, als dass der Sturm sie hätte ausblasen können. Die Flammen jagten ihnen hinterher.

Dann war ein dumpfes Knattern zu hören.

Benjie wandte den Kopf. Der Helikopter stieg aus dem Rauch auf und fegte Funken in ihre Richtung.

Sie starten …

Ndaye schloss zu ihm auf und zeigte mit seinem wassertriefenden Arm nach vorn. »Weiter. Wir müssen uns verstecken.«

Faraji folgte ihm.

Benjie verstand nicht, was los war, verzichtete aber darauf, die Anweisung des Ökowächters infrage zu stellen. In den vergangenen Stunden hatte der Mann schon häufiger recht behalten. Er schwamm schneller, kämpfte gegen die Strömung und mobilisierte all seine Kräfte, um die nächste Hütte zu erreichen.

Dort angelangt, hielt er sich an den Wandbrettern fest und hangelte sich durch den Eingang. Ndaye und Faraji folgten ihm.

»Was jetzt?«, japste Benjie.

Ndaye blieb in der Nähe der Tür. »Hängt von denen ab.«

Benjie blickte nach draußen. Der Helikopter war höher gegangen und flog über die Brände hinweg. Im Stillen flehte er ihn an umzukehren, doch der Hubschrauber beschrieb langsam einen Bogen über der dunklen Hälfte des Dorfs. An der Seite blitzte es. Etwas schoss in die Tiefe und traf eine Reihe von Hütten. Es knallte ohrenbetäubend laut. Ein Feuerball verschluckte mehrere Hütten.

Ndaye stöhnte. »Eine Hellfire-Rakete«, sagte er und wandte sich um. »Die machen alles platt.«

Benjie schluckte und sah zu den Dachbalken auf – eigentlich nur Stangen. »Vielleicht lassen sie diese Hütte ja aus.«

Ndaye schüttelte den Kopf. »Ich habe sechs Raketen gezählt.«

Dann haben sie noch fünf übrig …

Das war eine Menge Feuerkraft für ein so kleines Dorf.

Ndaye gefiel das auch nicht. Er sprang hoch und packte beidhändig eine der Stangen.

»Was machen Sie da?«, fragte Benjie.

»Wir hauen ab.«

»Und wie?«

Ndaye forderte sie mit einer Kopfbewegung auf, es ihm nachzutun. Er begann zu schaukeln und stieß sich mit den Füßen an der Wand ab. Benjie dachte an das Sperrholz, das die Strömung davongetragen hatte. Wenn es ihnen gelang, ein Wandteil zu lösen, könnten sie es als Floß verwenden und über den Fluss entwischen. Benjie und Faraji sprangen hoch und klammerten sich beiderseits von Ndaye fest. Alle drei holten Schwung und traten gegen die Wand. Eine weitere Detonation ließ die Hütte erbeben. Eine Rauchwolke wälzte sich über den angeschwollenen Fluss.

Sie schaukelten heftiger und traten mit aller Kraft gegen die Wand, doch sie gab nicht nach.

Das Knattern des Helikopters kam näher.

»Wir müssen koordiniert vorgehen«, sagte Benjie keuchend. »Alle gleichzeitig treten.«

Ndaye verlangsamte seine Pendelbewegung und begann zu zählen. Bei drei rammten sie die Absätze gegen die Bretterwand. Sie gab nach und löste sich teilweise von den Nägeln. Die Strömung begann daran zu zerren.

»Noch ein Versuch«, sagte Benjie. »Das dürfte dann reichen.«

Sie nahmen gemeinsam Schwung, doch auf einmal brach die Stange, an der sie sich festhielten. Sie plumpsten ins Wasser. Benjie schlug um sich und spuckte, bekam aber ein abgebrochenes Teilstück der Stange zu fassen. Er watete zur Wand, die sie mit Fußtritten traktiert hatten, schob die Stange in den Spalt und versuchte, ihn zu weiten. Er stemmte die Beine gegen die angrenzende Wand.

Faraji schwamm hinüber, um ihm zu helfen.

Ndaye schnappte sich ein weiteres Teilstück der Stange und machte sich an der anderen Seite der Wand zu schaffen. Das Holz knarrte, doch die Nägel wollten sich nicht lockern.

Auf einmal brach hinter ihnen Chaos aus. Flammen schossen am Eingang vorbei. Erstickender Qualm drang ins Innere der Hütte. Die Druckwelle ließ die kleine Behausung erbeben, eine Flutwelle schoss herein.

Benjie hielt die Stange fest, als die Woge auf die Wand traf. Die ganze Seite der Hütte kippte nach draußen.

»Da rauf!«, rief Ndaye.

Benjie und Faraji kletterten auf das schwimmende Wandteil. Augenblicklich wurde das provisorische Floß von der Strömung erfasst.

Ndaye versuchte, sie zu erreichen. Benjie legte sich flach auf den Bauch und streckte ihm die Stange entgegen. Ndaye griff daneben, versuchte es erneut und bekam die Stange endlich zu fassen. Er hangelte sich daran vor, während der Fluss an ihm zerrte und das Floß drehte.

Mit einer letzten Kraftanstrengung zog er sich auf das abgebrochene Wandteil. Sie lagen alle drei auf dem Bauch und streckten alle viere von sich, um das Floß zu stabilisieren. Die Strömung wurde allmählich kräftiger. Rauch waberte über dem Wasser, zu dicht, als dass Regen und Wind ihn hätten zerstreuen können.

Benjie blickte hinter sich und bemerkte den Lichtschein des Helikopters. Dann trieben sie um eine Flussbiegung, und der Hubschrauber war nicht mehr zu sehen.

Gott sei Dank …

»Wir müssen ans Ufer!«, übertönte Ndaye das Rauschen des Wassers.

»Warum? Und wie?«, fragte Benjie. »Wir haben keine Paddel.«

»Wir müssen es versuchen.«

Faraji blickte mit großen Augen nach vorn.

Auf einmal hörte es auch Benjie. Das Tosen schwoll an, es glich dem Knurren eines Raubtiers.

Oh nein …

Das Dorf war nur durch die Luft oder über einen Dschungelpfad zu erreichen. Der Fluss war unpassierbar. Eine halbe Meile flussabwärts verwandelten ihn eine Reihe von Wasserfällen und Stromschnellen in einen Fleischwolf. Durch die Überflutung war das Monster noch bösartiger geworden.

Benjie blickte zum dunklen Wald hinüber, der immer schneller an ihnen vorbeizog. Das Floß schwankte heftiger.

Blitze zuckten über den Himmel.

In der Ferne brüllte das zornige Monster. Es erwartete sie.