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24. April, 7:30 CAT
Kisangani, Demokratische Republik Kongo

»Wer war dieser Reverend William Sheppard?«, fragte Gray.

»Viele betrachten ihn als den schwarzen Livingstone«, antwortete Ndaye von der anderen Seite des Labortischs aus. »Er hat im Kongo missioniert, war aber auch Forscher. Er hat sogar einen See entdeckt, der später nach ihm benannt wurde.«

Gray betrachtete das alte Schwarz-Weiß-Foto eines groß gewachsenen Mannes im weißen Anzug und mit Tropenhelm. Der schwarzhäutige presbyterianische Pfarrer war umringt von Eingeborenen mit Speeren und hohen Webschilden. Im Hintergrund waren die Hütten eines Dorfs zu erkennen.

Gray verglich das Gesicht des Mannes mit der Maske und der daneben stehenden Figur.

Das muss er sein.

Kurz zuvor war Tucker mit Kane zurückgekehrt. Der Ranger hatte den ICCN -Ökowächter Ndaye und einen zwölf- oder dreizehnjährigen Jungen eskortiert. Tucker hatte sie aus den Fluten des Tshopo gerettet, worauf Painter kurze Vorabdossiers zu den beiden übermittelt hatte.

Faraji, der Lehrling des Schamanen, hatte einen jahrhundertealten Holzkasten dabeigehabt, den er aus dem Lager gerettet hatte. Es handelte sich um einen ngedi mu ntey , einen Kuba-Kasten. Außer der Holzfigur waren mehrere alte Fotos und eine gefaltete Landkarte darin aufbewahrt worden. Monk hatte das Labor bereits verlassen und mit Painter gesprochen, denn ihm war klar, dass sie zusätzliche Expertise benötigten. Kowalski hatte er mitgenommen, wenngleich dem Hünen vor allem daran gelegen war, etwas Essbares aufzutreiben.

»Aber was hat William Sheppard mit der Lage im Kongo zu tun?«, fragte Gray.

Ndaye wandte sich an Faraji, der von einem Fuß auf den anderen trat, sich unruhig umschaute und halb hinter dem ICCN -Ökowächter versteckte.

Tucker legte dem Jungen eine Hand auf die Schulter. »Schon okay, Faraji. Sag ihnen, was du mir gesagt hast. Wir wären wegen des verdammten Kastens beinahe beide umgekommen.«

Ermutigt vom Army Ranger, straffte sich Faraji. »Woko Bosh unser Schamane.« Farajis Stimme brach, als er seinen ehemaligen Mentor erwähnte. Er zeigte auf den Kasten. »Hatte Kasten viele Jahre, wurde von Großvater an Vater weitergegeben.«

Der Junge schlug bedrückt die Augen nieder.

»Und jetzt gehört er dir«, sagte Tucker aufmunternd.

Faraji schluckte. Offenbar hielt er sich eines solchen Erbes für unwürdig. Er schaute wieder hoch. »Nur Schamanen kennen diesen ngedi mu ntey . Sonst niemand.« Er schüttelte den Kopf. »Ich weiß ganz wenig. Nur dass Kasten vor großem Unheil schützt. Woko Bosh mir gesagt, aber nicht viel mehr.«

Ndaye führte das weiter aus. »Im Lager nahm der Schamane ein Pulver aus dem Kasten. Er sagte, es schütze vor der Krankheit. Das demonstrierte er an einem Säugling – an dem Kind, das die Angreifer mitgenommen haben. Das Pulver wirkte sogar gegen die Ameisen, die ins Lager eingefallen waren. Vielleicht sogar gegen die Paviane.«

Lisa, die der Unterhaltung gefolgt war, kam vom Abzug herüber, wo sie Frank und Benjie dabei zugesehen hatte, wie sie Proben von den Ameisen nahmen.

»Eigenartig«, sagte Lisa, als sie die Gruppe erreicht hatte. »Hat der Schamane wirklich geglaubt, das sei ein Heilmittel?«

Faraji schüttelte den Kopf. »Nein, kein tiba . Utetezi …«

Der Junge wand sich; offenbar hatte er Mühe, die richtigen Worte zu finden. Hilfe suchend blickte er Ndaye an.

»Ulinzi wa virusi?« , sagte Ndaye.

Der Junge zog die Brauen zusammen. »Hapana . Nein.« Faraji schnitt eine Grimasse, dann zuckte er resigniert mit den Schultern. »Nur Woko wissen mehr.«

Ndaye blickte Gray und Lisa bedauernd an. »Worum es sich auch gehandelt haben mag, die Substanz hatte irgendetwas mit William Sheppard zu tun. Der Mann hat sich für die Kuba eingesetzt, einen Stamm, der damals sehr zurückgezogen lebte. Er war der erste Nicht-Afrikaner, der Kontakt mit ihnen aufnahm.«

Gray fächerte die sieben Fotos auf. An den Rändern waren sie vergilbt, die meisten verblasst und voller Wasserflecken. Auf die Rückseite waren ein paar Worte und kryptische Symbole gekritzelt. Er breitete die Fotos auf dem Tisch aus, denn er spürte, dass es sich um eine verschlüsselte Wegbeschreibung zu einem Ort im Dschungel handelte. Jede einzelne Aufnahme war datiert, deshalb ordnete Gray sie in der zeitlichen Reihenfolge.

Die früheste – vom 17. Oktober 1894 – zeigte ein sonnenbeschienenes Gewässer inmitten von dichtem Wald. Gray drehte das Foto um und betrachtete die skizzenhafte Zeichnung auf der Rückseite. Offenbar stellte sie einen kleinen See mit Zufluss dar, daneben war eine Art Zebra abgebildet. Darunter stand das Wort Atti .

Gray konnte damit nichts anfangen, doch Faraji zeigte auf das gestreifte Tier. »Atti … altes Wort. Bedeutet Okapi

Gray runzelte die Stirn.

»Das Okapi ist eine gefährdete Giraffenart, die im kongolesischen Wald zu Hause ist«, erläuterte Ndaye. »Zunächst hielt man sie für das afrikanische Einhorn, doch das war ein Mythos und entsprach nicht der Realität. Früher gab es viele Okapis, doch da sie wegen ihres einzigartigen Fells gejagt wurden, hat ihre Zahl stark abgenommen. Heute findet man sie nur noch im Nordosten des Kongo.«

Faraji zupfte Ndaye am Ärmel und sagte etwas zu ihm.

Nach kurzem Wortwechsel klopfte Ndaye dem Jungen auf die Schulter und übersetzte. »Die Kuba haben eigene Bezeichnungen für viele Orte im Dschungel. Das gilt besonders für traditionelle Jagdgründe. Faraji sagt, es gebe ein Wasserloch, das nur von Okapis genutzt wird. Inzwischen versammeln sie sich nicht mehr dort, aber der Name hat sich gehalten und wird von Generation zu Generation überliefert.«

Gray betrachtete die Zeichnung. Das könnte die erste Station auf Sheppards Weg durch den Dschungel gewesen sein – aber wie ging es dann weiter?

Er blickte Faraji an und tippte auf die Zeichnung. »Kennst du diesen Ort? Das Wasserloch?«

Der Junge nickte.

»Was ist mit den anderen Symbolen?« Gray drehte die nächsten Fotos um.

Faraji betrachtete sie, dann schüttelte er langsam den Kopf.

Tucker ergriff das Wort. »Vielleicht wäre es am besten, die erste Stelle aufzusuchen und von dort aus weiterzusehen. Um den Hinweis besser zu verstehen.«

Gray blickte Faraji an. »Und vielleicht kann nur ein Kuba sie richtig deuten. Ich habe den Eindruck, dass Sheppard die Angaben so verklausuliert hat, dass nur Leute, die sich mit dem Wald und dessen Überlieferungen auskennen, sie entschlüsseln können.«

»Aber wozu die Geheimhaltung?«, fragte Lisa.

»Im zeitlichen Kontext betrachtet ergibt das Sinn«, antwortete Ndaye. »Sheppard hat den belgischen Kolonisten und ihren einheimischen Verbündeten, den Zappo Zaps, einem brutalen, kannibalistischen Ableger des Volks der Songye, misstraut. Wenn dort im Dschungel etwas Gefährliches verborgen war – etwas, was die Kuba als böse betrachteten –, hätte er nicht gewollt, dass die Belgier davon erfuhren. Doch wenn es dort einen utetezi gab – eine Art von Schutz –, hätte er das Wissen bewahren wollen und den Kuba eine Wegbeschreibung hinterlassen für den Fall, dass die Gefahr erneut auftreten sollte.«

Gray nickte. »Damit könnten Sie recht haben.«

»Aber welches Übel ist gemeint?«, fragte Lisa. »Geht es um eine Krankheit oder etwas anderes?«

Faraji atmete scharf ein und entfernte sich vom Tisch. Er hatte die Fotos studiert und war am letzten Hinweis angelangt.

Gray wollte wissen, was den Jungen so erschreckt hatte, und nahm das Foto in die Hand. Darauf zu sehen war eine Lücke im Wald und zwei von Schlingpflanzen überwucherte Säulen, die einen großen Spalt in einer farnbestandenen Felswand flankierten. Die schroffen Felsen ragten hoch in den Himmel. Gray drehte das Foto um. Auf der Rückseite befand sich kein Symbol und keine Zeichnung, nur eine verwischte Kritzelei. Sie war nicht mit Tinte geschrieben, sondern der Farbe nach zu schließen mit Blut.

Ndaye blickte Gray über die Schulter und übersetzte. »Mfupa Ufalme. Das bedeutet ›Reich der Knochen‹ oder auch ›Königreich der Knochen‹.«

Faraji zeigte auf das Foto und wich weiter zurück. »Schlechter Ort. Alaaniwe . Verflucht. Alle Kuba wissen. Nie dorthin gehen.«

Gray nickte. »Das wirft die Frage auf: Was hat er dort entdeckt, und inwiefern kann es uns nützen?«

»Falls es uns nützen kann …«, setzte Lisa hinzu.

Gray konnte Lisa ihre Skepsis nicht verübeln, doch angesichts der schnellen Ausbreitung der Krankheit durften sie keine Möglichkeit außer Acht lassen.

Er wandte sich an den Jungen. »Würdest du uns zum ersten Ort führen? Zum Wasserloch der Okapis?«

Faraji wirkte ängstlich, nickte jedoch. »Woko Bosh. Er wollen, dass ich helfe.«

»Ich komme auch mit«, sagte Ndaye. »Sie werden jemanden brauchen, der sich in der Gegend und mit den Einheimischen auskennt.«

Gray nickte und sprach Lisa an. »Du und Monk, ihr bleibt hier bei Dr. Whitaker und helft ihm. Kowalski nehme ich mit. Sobald wir die Freigabe der kongolesischen Armee haben, fliegen wir als Erstes zum UN -Lager. Wir setzen Tucker und Kane dort ab und fahren weiter zum Wasserloch.«

Der Army Ranger und sein Hundepartner sollten Benjie schützen, der sich einverstanden erklärt hatte, im Lager Proben sowohl von toten Menschen als auch von Pavianen zu nehmen und sie ins Labor zu schaffen. Frank wäre gern mitgekommen, doch er wurde hier bei der Untersuchung der Ameisen-Proben gebraucht, denn er verfügte über unersetzliche Kenntnisse bei der Virenanalyse. Er allein beherrschte die von ihm selbst entwickelten Techniken.

Ein Detail aber war noch ungelöst. Um es zu meistern, mussten sie einen Experten hinzuziehen, der sich mit dem Thema besser auskannte.

Ein Tonsignal meldete, dass die Tür entriegelt wurde.

Monk trat ein, gefolgt von Kowalski, der ein in fettiges Papier eingeschlagenes halb verzehrtes Sandwich in der Hand hielt. Er kaute an einem großen Bissen. Der Geruch von Gewürzen und Gegrilltem breitete sich aus.

Kowalski hob das Sandwich hoch und verdrehte die Augen. »Oh Mann, das ist besser als ein Egg McMuffin …«

Monk näherte sich der Gruppe und stellte das Tablet des Teams so, dass alle es sehen konnten. »Ich habe alle online zusammengeschaltet. Hat eine Weile gedauert.«

Dann entfaltete Monk das letzte Puzzleteil.

7:47

Tucker stellte sich zu den anderen und sah auf die Karte aus dem Kuba-Kasten. Vom Tablet aus schauten ihnen zwei Personen zu.

Die eine war Painter Crowe, der Direktor von Sigma. Die andere lehnte an einem Bibliothekstisch, flankiert von Bücherregalen. Der dunkelhaarige Fremde trug einen schwarzen Anzug mit Priesterkragen.

Tucker runzelte die Stirn.

Weshalb zieht Sigma einen Priester hinzu?

Gray beugte sich zum Tablet vor. »Pater Bailey, wie geht es mit der Wiederherstellung von Castel Gandolfo voran?«

Der Geistliche zuckte mit den Schultern. »Die neuen Fundamente wurden gelegt. Solange Sie sich fernhalten, sollte es zügig vorangehen.«

»Wir werden uns bemühen«, meinte Gray grinsend.

Tucker blickte verständnislos in die Runde.

Anscheinend ist mir da ein Missgeschick von Sigma entgangen.

Lisa flüsterte Tucker eine kurze Erklärung ins Ohr. »Pater Bailey hat uns in der Vergangenheit geholfen. Er arbeitet mit dem Pontifikalinstitut für Christliche Archäologie in Rom zusammen. Allerdings lässt sich seine Aufgabe bei der Kirche nicht ganz so einfach beschreiben.«

Tucker hob die Hand. »Mehr brauche ich nicht zu wissen. Mein Leben ist auch so schon kompliziert genug.«

Gray sah auf die Karte und wandte sich an den Geistlichen. »Was halten Sie von dem Foto, das Direktor Crowe Ihnen geschickt hat?«

Tucker rückte näher und betrachtete die geheimnisvolle Karte. Sie war offensichtlich alt und lateinisch beschriftet. Es hatte den Anschein, als habe man sie aus einem Buch herausgerissen, bevor sie gefaltet und in den Kuba-Kasten gelegt wurde.

Bailey kratzte am Kragen, als ob er scheuerte. »Ich musste ein wenig im Vatikanischen Archiv nachforschen. Dies ist eine historische Landkarte des afrikanischen Kontinents. Sie wurde 1564 vom Kartografen Abraham Ortelius angefertigt. Interessanter als die eigentliche Karte ist jedoch die Beschriftung.«

»Und was steht da?«, fragte Gray.

»In der Legende steht Presbiteri Johannis, sive, Abissinorum Imperii descriptio – Darstellung des Reichs des Priesterkönigs Johannes von den Abessiniern.«

Tucker betrachtete das Foto mit den Säulen im Dschungel. Ndaye hatte die Beschriftung auf der Rückseite mit »Königreich der Knochen« übersetzt.

Gray fasste in Worte, was alle dachten. »Könnte damit der Ort gemeint sein, nach dem Reverend Sheppard im Urwald gesucht hat? Das Königreich der Knochen?«

Tucker runzelte die Stirn. »Da kann ich nicht folgen. Wer ist Priesterkönig Johannes?«

Bailey übernahm die Antwort. »Das war ein legendärer christlicher König mit erstaunlichem Reichtum. Zunächst hieß es, er habe in Asien gelebt, später ging man von Afrika aus. Dann wäre er der erste christliche König des Kontinents gewesen. Die Legende wurde so populär, dass Papst Alexander III . dem sagenumwobenen König im zwölften Jahrhundert eine Botschaft schickte. Der Überbringer – der Leibarzt des Papstes – verschwand jedoch im Dschungel und ward nicht mehr gesehen.«

Tucker dachte an Farajis Bemerkung, wonach das Königreich verflucht gewesen sei.

Vielleicht hätte man den Leibarzt vorher über diesen Punkt aufklären sollen.

»Jahrzehnte später traf tatsächlich ein Antwortschreiben ein«, fuhr Bailey fort. »Unterzeichnet war es vom Priesterkönig Johannes, was der Legende neuen Auftrieb gab. Im fünfzehnten Jahrhundert entdeckten portugiesische Forscher, die nach dem sagenumwobenen König suchten, tief im Dschungel ein christliches Reich. Sie schilderten den Hof, die prachtvolle Stadt und vor allem den Reichtum des Königreichs. Mit dessen Gold soll der Tempel König Salomos erbaut worden sein.«

Tucker versuchte, sich diesen Ort vorzustellen, ein afrikanisches Shangri-La. Auch er kannte die Legende von Salomos Goldmine. Seit Urzeiten wurde danach gesucht, und selbst heute noch glaubten manche, irgendwo im Dschungel sei ein großes Bergwerk versteckt.

»Nach Direktor Crowes Anfrage habe ich ein wenig nachgeforscht«, sagte Bailey. »Die Geschichte des Priesterkönigs Johannes beinhaltet mehr als verborgene Schätze. Es gibt auch Bezüge zur Legende der Bundeslade, von der viele glauben, sie sei in Äthiopien versteckt, und zum Jungbrunnen. Die Äthiopier wurden angeblich mehre hundert Jahre alt, weil sie in einem See badeten, der den Körper verjüngte. Trank man daraus, wurden sämtliche Beschwerden geheilt, und man wurde dreißig Jahre lang von keiner Krankheit befallen.«

»Ich hätte nichts dagegen, mal in den See zu springen«, sagte Kowalski mit vollem Mund.

Lisa klopfte ihm mitfühlend auf die Schulter.

Bailey fuhr fort: »Der See hatte angeblich einzigartige Eigenschaften. Nichts schwamm darauf, weder Holz noch sonst irgendetwas. Priesterkönig Johannes, der Herrscher über Äthiopien, wurde angeblich fünfhundertzweiundsechzig Jahre alt. Anschließend wurde es still um das Königreich.«

»Wie meinen Sie das?«, fragte Gray.

Bailey zuckte mit den Schultern. »Niemand hörte mehr vom Priesterkönig Johannes. Gegen Ende des sechzehnten Jahrhunderts stießen Forscher in Äthiopien auf einen schwarzen König, doch der erklärte, er habe mit dem Priesterkönig Johannes nichts zu schaffen. Und als das geografische Wissen zunahm, verlor die Legende vom afrikanischen Christenkönig an Bedeutung. Im siebzehnten Jahrhundert taten die meisten die Geschichte als Mythos ab.«

Tucker sah auf die ausgebreiteten Fotos nieder. »Offenbar war jemand anderer Ansicht.«

»Oder er hat die beiden Legenden miteinander verwoben«, sagte Lisa. »Die Legende vom nahezu unsterblichen Priesterkönig und das angeblich im Dschungel verborgene verfluchte Königreich.«

Monk betrachtete stirnrunzelnd die Landkarte. »Ich verstehe noch immer nicht, worin die Verbindung bestehen sollte. Äthiopien liegt weit östlich des Kongo.«

Bailey hatte eine Erklärung parat. »Sie sollten bedenken, dass die Grenzen sich im Lauf der Jahrhunderte verändert haben, da die Landkarten entsprechend dem aktuellen Wissensstand immer wieder neu gezeichnet wurden. Bei meinen Recherchen bin ich auf diese Karte Afrikas von 1701 gestoßen, die ein Engländer angefertigt hat.«

Der Geistliche öffnete ein weiteres Fenster, in dem die Karte angezeigt wurde.

»Wie Sie sehen«, sagte Bailey, »umfasst Äthiopien hier die ganze Breite des Kongo. Wenn der Priesterkönig und sein Reich tatsächlich existierten, könnte es sehr wohl in Zentralafrika gelegen haben.«

Gray hielt das letzte Schwarz-Weiß-Foto hoch und tippte auf die Säulen. »Wie dem auch sei, irgendetwas ist da. Vielleicht könnte es uns wertvolle Hinweise liefern.«

Niemand widersprach.

Auf dem Tablet räusperte sich Painter und hob die Hand. Kurz zuvor hatte er mit jemandem gesprochen, der nicht zu sehen war.

»Kat hat sich gerade eben gemeldet«, sagte er. »Ihren geheimdienstlichen Quellen zufolge hat die kongolesische Armee die Untersuchung des UN -Lagers abgeschlossen. Davon ist nicht viel übrig geblieben, nur qualmende Ruinen und geplünderte Zelte. Es wurden mehrere tote Soldaten in abgerissenen Uniformen gefunden, die alte Waffen dabeihatten. Man geht davon aus, dass das Lager von einer Miliz überfallen wurde. Möglicherweise von den Mai-Mai, die in der Region sehr aktiv sind. Oder von der ADF . Es könnte aber auch Boko Haram gewesen sein, die im Kongo an Einfluss gewinnen.«

Ndaye schnaubte und äußerte eine gegenteilige Meinung. »Das war keine Miliz. Die Angreifer waren zu gut bewaffnet und bestens organisiert.«

Tucker vertraute der Einschätzung des Ökowächters. Wenn er Benjie zurück zum Lager begleitete, beabsichtigte er, sich sein eigenes Bild zu machen. Er fühlte sich verantwortlich. Nicht nur für die drei Menschen, die er aus dem Fluss gefischt hatte, sondern auch für die Entführten.

Wenn ich eher vor Ort gewesen wäre …

Auch Gray konnte es anscheinend gar nicht erwarten aufzubrechen, mahnte aber zur Vorsicht. »Ich stimme mit Ndaye überein, doch einstweilen lassen wir das so stehen. Der Gegner soll ruhig glauben, wir wären auf seine List reingefallen. Das bleibt daher unter uns. Wir teilen unsere Bedenken nicht mit der FARDC oder der kongolesischen Regierung.«

Ndaye nickte. »Das ist eine kluge Entscheidung. Ich bin stolz auf mein Land und dessen Bewohner, aber in der Regierung gibt es zu viel Korruption. Viele FARDC -Soldaten bessern ihren Sold auf, indem sie mit Menschenhändlern und Wilddieben zusammenarbeiten, manchmal auch mit Milizen, wobei sie sogar in Uniform auftreten.«

Tucker blickte in die Runde. »Dann vertrauen wir allein auf uns selbst.«

Kowalski knüllte das fettige Sandwichpapier zusammen und warf es in den Papierkorb. »Gibt es noch mehr Neuigkeiten?«