Das sieht nicht gut aus …
Charlotte untersuchte Disanka in der provisorischen Krankenstation. Die Lubu saß auf ihrem Bett. Offenbar hatte sie gemerkt, dass Charlotte beunruhigt war. Ihre Augen waren angstgeweitet. Disankas Blick wanderte zu ihrem Sohn. Er war frisch gewickelt und schlief in seinem Gitterbett, doch selbst im Schlaf wirkte er kraftlos und matt. Der Säugling lag auf dem Rücken und lutschte nicht am Daumen. Sein Kopf ruhte kraftlos auf dem Kissen, die erschlafften Gliedmaßen wirkten knochenlos.
Die Mutter war nicht die Einzige, die um ihren Jungen besorgt war.
»Sein Zustand verschlechtert sich«, sagte Jameson. Der amerikanische Kinderarzt hatte soeben die Untersuchung des Säuglings beendet. »Die Sauerstoffsättigung liegt bei unter neunzig Prozent. Sein Atem wird immer flacher.«
»Wir sollten ihm eine Sauerstoffmaske aufsetzen.«
»Ich kümmere mich darum. Untersuchen Sie weiter die Mutter. Wenn sie ebenfalls krank wird …«
Als er gegangen war, blickte Charlotte zum Nachbarbett, auf dem ein schwarzer Leichensack mit einem Toten lag. Ein älterer Patient war verstorben, und sie bereiteten die Überführung seiner sterblichen Überreste in das Pathologielabor in der benachbarten Wellblechbaracke vor. Der Krankenakte zufolge war der alte Mann bei seiner Ankunft vor vier Tagen bereits schwer erkrankt gewesen. Die für die Mattigkeit verantwortliche Gehirnerkrankung hatte sich verschlimmert und das Opfer schließlich paralysiert. Vielleicht war der Mann auch so geschwächt gewesen, dass er einfach vergessen hatte zu atmen, oder das Herz hatte von selbst aufgehört zu schlagen. Diese Fragen sollten die Pathologen beantworten. Allerdings rechnete sie nicht damit, dass man die Erkenntnisse mit ihnen teilen würde.
Sie blickte zu den Geräten an der Rückseite der Baracke hinüber. Sie hatte bereits mehrfach versucht, von Dr. Ngoy, dem Leiter des Ärzteteams, Informationen zu bekommen, war aber jedes Mal bei ihm abgeblitzt.
Nicht sonderlich kooperativ, diese Leute.
Aber Charlotte hatte eine drängendere Sorge. Sie konzentrierte sich wieder auf Disanka. Ihre Temperatur war erhöht, und auf wiederholte Nachfrage hatte sie zugegeben, dass ihre Kopfschmerzen immer schlimmer wurden. Das konnte auch eine Folge ihrer Erschöpfung und der Angst um ihren Jungen sein, doch das Mittagessen, Eintopf mit Röstbrot, hatte sie kaum runterbekommen.
Charlotte nahm den Zungenspatel in die Hand und sagte auf Französisch: »Disanka, würden Sie bitte den Mund aufmachen?« Sie machte es vor und streckte die Zunge heraus.
Disanka tat wie geheißen, und Charlotte beugte sich vor. Mit dem Zungenspatel untersuchte sie die Mundhöhle der Frau. Die Mandeln waren leicht entzündet. Läsionen oder wunde Stellen waren keine zu sehen. Sie hielt die Luft an, schob den Spatel bis zum linken Mandelbett vor und streifte damit am entzündeten Gewebe. Normalerweise wäre die Patientin mit Würgereiz zurückgezuckt. Disanka aber zeigte keinerlei Reaktion.
Charlotte richtete sich auf und warf den Spatel in den roten Eimer für Gefahrgut. Sie signalisierte Disanka, dass sie sich entspannen könne, und klopfte ihr aufmunternd auf die Schulter. Die Sorge in den Augen der Frau vermochte sie jedoch nicht zu zerstreuen, denn sie galt nicht ihrer eigenen Gesundheit. Sie blickten beide den Säugling im Gitterbett an.
Disanka ergriff Charlottes Hand, um sie daran zu erinnern, dass sie versprochen hatte, alles für das Kind zu tun.
Ich werde tun, was in meinen Kräften steht.
Die Angst in Disankas Blick hatte Entschlossenheit Platz gemacht. Sie sahen einander in die Augen.
Sie würden beide alles tun, um das Leben des Kindes zu retten.
Inzwischen war Jameson mit einer kleinen Sauerstoffmaske zurückgekehrt und verband sie mit dem Schlauch. »Und?«, fragte er barsch.
Charlotte ließ Disankas Hand los. »Ihre Essschwierigkeiten rühren anscheinend von einer Schluckstörung her. Aber ich weiß nicht, ob die Unempfindlichkeit des Schlundes oder eine Muskellähmung die Ursache ist.«
»Könnte das ein frühes Symptom der Krankheit sein?«
Charlotte zuckte mit den Schultern. »Das Fieber, die Kopfschmerzen, das alles könnte auf eine virale Hirnhautentzündung hindeuten. Die Schluckstörung wäre jedoch ungewöhnlich.«
»Nicht unbedingt.« Er blickte sie vielsagend an.
Sie verstand, worauf er hinauswollte. »Sie denken an Rabies.«
Mit der von Tieren übertragenen Tollwut hatte sie sich ausgiebig beschäftigt, bevor sie zu den Ärzten ohne Grenzen gestoßen war. Typische Symptome waren Hydrophobie – Angst vor Wasser –, Schaum vor dem Mund und Sabbern aufgrund einer Rachendysfunktion, denn Tollwut löste eine tödliche Hirnhautentzündung aus.
»Das hier ist nicht Rabies«, sagte Jameson.
Eindeutig nicht.
Unwillkürlich rieb Charlotte sich am Hals, um festzustellen, ob sie ähnliche Symptome hatte. Die Ameisenbisse an ihren Händen waren noch immer gerötet. Sie hatte hartnäckige Kopfschmerzen, fühlte sich erhitzt und schwitzte. Sie hätte gern den Stress und den Schutzanzug dafür verantwortlich gemacht, vermochte aber die Sorge, dass auch sie infiziert war, nicht abzuschütteln.
Jameson blickte zum hinteren Bereich der Station. »Vielleicht sollten wir Dr. Ngoy von unserer Beobachtung in Kenntnis setzen.«
Stirnrunzelnd musterte sie den leitenden Forscher und dessen Team. Die Ärzte drängten sich um die serologischen und histologischen Geräte. Für diese Leute waren sie und Jameson lediglich stümperhafte Kurpfuscher, die sie von der Arbeit abhielten.
»Behalten wir das erst mal für uns«, sagte sie.
»Wirklich?«
Bevor sie antworten konnte, erbebte die ganze Baracke, weil ein Helikopter darüber hinwegflog. Der Rotorschwall rüttelte am Dach. Sie duckte sich unwillkürlich und schaute nach oben. Der Neuankömmling hatte es offenbar eilig.
Neugierig trat sie an das schmale Fenster neben Disankas Bett. Der Helikopter landete anscheinend ganz in der Nähe anstatt auf dem Helipad am Fluss. Jameson stellte sich neben sie.
Von ihrer Position aus konnten sie beobachten, wie der Helikopter auf dem zentralen Platz des ehemaligen Außenpostens aus Kolonialzeiten aufsetzte. Die Luken gingen auf, Männer in schwarzen Kampfanzügen kletterten heraus. Auch sie gehörten zu Nolan De Costers Privatarmee. Charlotte machte den hochgewachsenen Leutnant Ekon aus. Mit vorgehaltenem Gewehr geleitete er zwei Männer in Zivilkleidung zu dem Gästehaus, in dem Nolan sein Büro hatte.
Jameson spannte sich an. »Das kann nicht sein«, murmelte er.
Sie sah ihn an. »Was meinen Sie?«
Mit dem Kinn wies er auf die beiden Zivilisten. »Der vordere, das ist Dr. Whitaker.«
Es dauerte einen Moment, bevor es bei Charlotte klick machte. »Der Virologe? Der, den Sie ins Lager holen wollten?«
»Genau der. Aber was macht er hier? Wie ist er hergekommen?«
Charlotte bemerkte das Gewehr, mit dem die Neuankömmlinge bedroht wurden. »Offenbar ist er nicht freiwillig hier.« Sie deutete auf den stämmigen, kahlköpfigen Mann neben dem Virologen. »Kennen Sie seinen Begleiter?«
»Nein. Aber das ist auch egal. Sie sind Gefangene wie wir. Sie werden uns nicht helfen können.«
»Da bin ich mir nicht so sicher.«
»Wie meinen Sie das?«
»Wir brauchen einen erfahrenen Virologen.«
Sie blickte zu Ngoy hinüber, der sich gerade über ein Mikroskop beugte.
Und zwar einen, dem wir vertrauen können .
Tucker kniete im Schatten und bereitete seinen Partner auf den Marsch durch den Dschungel vor.
Ndaye war beim Helikopter geblieben, der auf einer Lichtung in Flussnähe stand und dessen Triebwerk mit metallischem Ticken abkühlte. Es handelte sich um die Gazelle von Aérospatiale, mit der Tucker Ndaye und dessen Begleiter aus dem Tshopo gerettet hatte.
Hoffen wir, dass die Maschine noch für eine weitere riskante Rettungsaktion gut ist.
In der vergangenen Stunde hatten Ndaye und Tucker das Signal des GPS -Trackers in Monks Prothese verfolgt. Sie behielten einen Sicherheitsabstand bei, bis das bewegliche Ziel zum Stillstand kam beziehungsweise das Signal abbrach. Das war vor fünf Minuten gewesen, und deshalb waren sie auf der Lichtung gelandet. Die letzte gemeldete Position lag zehn Kilometer entfernt. Sie wussten nicht, ob der Sender entdeckt oder ausgeschaltet worden war. Wenn ja, durften sie mit dem Hubschrauber nicht weiterfliegen. Sie mussten zu Fuß weitergehen.
Sie , das bedeutete Tucker und Kane.
Ndaye würde beim Helikopter bleiben. Der Ökowächter sollte sich bereithalten, um alle auszufliegen, falls Tuckers Suche erfolgreich wäre. Bis dahin würde Tucker Funkstille wahren und Ndaye nur im absoluten Notfall anfunken. Nach so vielen Überfällen und angesichts des bestehenden Informationslecks griff die Paranoia um sich. Andererseits beherzigte er auch ein Zitat aus Catch-22 : Nur weil du paranoid bist, heißt das nicht, dass sie nicht hinter dir her sind.
Jedenfalls war Tucker im Moment auf sich allein gestellt – doch ganz allein war er nicht. Er blickte Kane in die gelbbraunen Augen. Von jetzt an waren sie zu zweit.
So ist es mir auch am liebsten.
Tucker überprüfte Schulter- und Bauchriemen von Kanes K9-Kampfweste und vergewisserte sich, dass sie stramm saßen, ohne zu drücken. Die kevlarverstärkte Weste war schwimmfähig und vor allem kugelsicher. Tucker spürte die Narben unter dem schwarz-braunen Fell, die von alten Verletzungen herrührten. Tucker hatte ganz ähnliche Narben, manche oberflächlich, andere gut verborgen.
Er spürte den Herzschlag seines Partners, das Zittern der Muskeln. Kane wusste, dass es ernst wurde und dass die Verwandlung des pelzigen Kameraden in den verstohlenen Soldaten bevorstand. Tucker kraulte Kane hinter den Ohren, verstärkte durch die Berührung ihre gegenseitige Verbundenheit. Dann beugte er sich vor, sog den Geruch seines Partners ein und ließ sich seinen heißen Atem ins Gesicht blasen.
Ihre Nasen berührten sich, ein altes Ritual, mit dem er den Hund bat, sich in Gefahr zu begeben, um andere zu retten.
»Bist du ein braver Junge?«, flüsterte er seinem besten Freund ins Ohr.
Kane leckte sich über die Nase.
Ja, das bist du.
Tucker klappte die an der Weste befestigte Kamera hoch und drückte einen Funkempfänger in Kanes linkes Ohr. Auf diese Weise konnte er mit ihm visuell und akustisch Kontakt halten. Er justierte die Kamera so, dass sie über Kanes Schulter hinwegfilmte, und schaltete sie ein. Dann setzte er sich eine von der DARPA entwickelte Spezialbrille auf und drückte einen Knopf an der Seite, woraufhin in der Ecke der Live-Feed von Kanes Kamera angezeigt wurde. Er steckte sich einen Funksender in den Mund und fixierte ihn hinter dem letzten Backenzahn. Das kleine Gerät – scherzhaft Molar-Mike genannt – ermöglichte es Tucker, Kane geflüsterte Anweisungen zu erteilen, während das Signal von dessen Sender über den Kieferknochen ans Ohr übermittelt wurde. Die Signalstärke konnte verringert werden, um die Ortung zu erschweren, was allerdings die Reichweite beeinträchtigte. Wenn er Ndaye erreichen wollte, musste Tucker die Signalstärke erhöhen.
Um die Verbindung zu testen, flüsterte Tucker: »Bereit, Partner?«
Kane wedelte mit dem Schwanz. Seine Augen funkelten vor Erregung. Er wusste, was bevorstand, und konnte den Einsatz gar nicht erwarten.
Dann mal los.
Tucker richtete sich auf und drehte sich um. Ndaye erwiderte seinen Blick; offenbar ahnte er, dass Tucker bereit zum Aufbruch war. Der Ökowächter reckte den Daumen. Tucker erwiderte die Geste, dann wandte er sich dem dichten Dschungel zu. Er beabsichtigte, dem Flusslauf bis zu der Stelle zu folgen, an der das GPS -Signal verstummt war.
Tucker zeigte zum Wald. Noch ehe er den Befehl »ERKUNDEN « erteilen konnte, setzte Kane sich bereits in Bewegung.
Der Hund lief voraus, Tucker folgte ihm. Es dauerte nicht lange, da verschwand Kane im tiefen Schatten. Tucker behielt die Umgebung auf zweifache Weise im Blick; durch direkten Sichtkontakt und mittels der Bilder, die von Kanes Kamera übermittelt wurden. Die schwankenden Bilder von Boden, Büschen und Schlingpflanzen mischten sich mit seinen eigenen Eindrücken. Anfangs war das verwirrend, doch er gewöhnte sich rasch daran. Kanes Hecheln und sein eigener Atem füllten seinen Schädel aus. Das Geräusch seiner Stiefel synchronisierte sich mit dem Tappen von Kanes Pfoten. In diesem zeitlosen Moment verschmolzen sie miteinander, ein perfekter Einklang.
In der anderen Brillenecke wurde sein Fortschritt auf einer Echtzeitkarte angezeigt. Signalpunkt um Signalpunkt verschwand entlang der Route. Der Fluss lag zu seiner Linken. Er schritt gleichmäßig aus, legte aber ein forsches Tempo vor. Im schattigen Wald fiel ihm das leichter, da es wegen der dichten Baumkronen kaum Unterholz gab, nur gelegentlich ein paar Dornenbüsche oder ein mit Schlingpflanzen überwuchertes Bambusdickicht.
Der Wald ragte fast sechzig Meter in die Höhe, eine Kolonnade von Palmen, Gummi- und Mahagonibäumen sowie kleineren Rotzedern. Unter dem Laubdach war es wie in einer feuchten smaragdgrünen Kathedrale. Orchideen und Lilien blühten in den verschiedensten Farben. Schillernde Schmetterlinge schwebten in der Luft, als hätte jemand sie vor einer Ewigkeit dort aufgehängt.
Das alles erfüllte ihn mit demütigem Staunen. Das in Jahrhunderten aufgetürmte Laub dämpfte das Geräusch seiner Schritte. Es herrschte tiefe Stille. Er hatte mit dem Summen von Insekten, lauten Vogelrufen und dem Geschnatter der Affen gerechnet. Stattdessen war es totenstill, und er hatte das Gefühl, er werde von einer höheren Intelligenz beobachtet. Er kam sich vor wie ein unerwünschter Eindringling.
Für seinen Gefährten galt das nicht.
Kane lief voraus, hin und wieder machte Tucker im durchbrochenen Schatten sein Fell aus. Er bewegte sich geräuschlos, ein Teil des Waldes wie alle anderen Tiere auch. Er wedelte mit dem Schwanz und spitzte die Ohren. Sein Atem war ein Flüstern in Tuckers Ohr.
Je weiter sie kamen, desto feuchter wurde die Luft. Die modrige Schwüle war erdrückend. Verwesungsgeruch mischte sich mit dem süßeren Duft der Schlingpflanzen. Obwohl Tucker nicht besonders schnell marschierte, geriet er außer Atem. Normalerweise schaffte er zehn Stundenkilometer, ohne zu schwitzen, doch obwohl er erst die Hälfte der Strecke bewältigt hatte, tropfte ihm bereits der Schweiß von der Stirn. Der Rucksack zerrte wie ein Felsbrocken an seinen Schultern.
Trotzdem blieb er wachsam. Er durfte nicht unaufmerksam werden. Nicht nur wegen des unbekannten Gegners, sondern auch wegen der Gefahren, die sich in der grünen Kathedrale verbargen. Hier streiften Leoparden und Geparde umher, Schakale und Hyänen. Schlangen jedweder Größe krochen durch den Wald, viele davon giftig: Puffottern, Baumkobras, Mambas. Und dann waren da noch die Skorpione, Spinnen und beißenden Tausendfüßer.
Er war froh über seine wasserdichten Wanderstiefel, die dicke Kakihose und das langärmlige Hemd. Doch allmählich baute sich zwischen seinen Schulterblättern Spannung auf.
Ein gellender Schrei ließ ihn zusammenzucken.
Aufblitzendes buntes Gefieder markierte den zornigen Flug eines langschnäbligen Tukans, den er aus seinem Nest aufgescheucht hatte. Im Stillen entschuldigte er sich bei dem Vogel, während er sich gleichzeitig über ihn ärgerte.
Die Zeit dehnte sich auf seltsame Weise. Die in die Brille eingeblendete Uhr maß seinen Fortschritt objektiv. Er registrierte, wie die Markierungen auf der Landkarte allmählich weniger wurden. Um die letzte zu erreichen, brauchte er mehr als neunzig Minuten.
Dort angelangt, stoppte er Kane mit einem leisen Pfiff. Sein Partner gehorchte und kehrte im Bogen zu ihm zurück. Kane hechelte, seine Augen funkelten im Schatten, als brenne dahinter ein Feuer. Während Tucker ihm aus seiner Wasserflasche zu trinken gab, blickte er nach vorn. Die GPS -Route war in etwa dem nahen Fluss gefolgt. Obwohl sie hier endete, ging er davon aus, dass der Helikopter mit Monk an Bord ihm auch weiterhin gefolgt war.
Irgendwohin muss sie führen.
Tucker zeigte nach vorn. »ERKUNDEN «, flüsterte er. Zusätzlich fasste er sein Handgelenk und drückte es an die Brust, was IN DER NÄHE Bleiben bedeutete.
Sie setzten sich wieder in Bewegung, parallel zum Fluss und dessen Strömungsrichtung folgend. Kane lief voraus, entfernte sich aber nur wenige Meter. Tucker war froh, dass er diese Vorsichtsmaßnahme ergriffen hatte. Der Dschungel wurde immer dichter, bis er eher einer überfüllten Kirche als einer Kathedrale glich. Die Äste der Bäume hingen tief herab, und er musste aufpassen, dass sie ihm nicht den Tropenhut vom Kopf streiften. Auch die Schwüle nahm zu, als würde die Luft von der Vegetation verdichtet.
Der Grund für die Veränderungen funkelte in der Ferne.
Ein zweiter Fluss verlief quer zu ihrer Marschrichtung und mündete vermutlich in den anderen. Tucker wurde langsamer – oder vielmehr zwang ihn der Dschungel dazu. Der Fluss schnitt eine Schneise in den Wald, und aufgrund der direkten Sonneneinstrahlung war der Uferbewuchs besonders üppig. Schlingpflanzen und Büsche bildeten eine dornige Barriere. Immer wieder musste er über modernde umgestürzte Bäume hinwegklettern, bedeckt mit smaragdgrünem Moos und Pilzen.
Es gab aber noch ein weiteres Problem. Die Bildübertragung von Kanes Kamera geriet ins Stocken und fror immer wieder ein. Tucker leckte sich die Lippen. Er ahnte den Grund. Er schaute sich um zu der Stelle, an der Monks GPS -Signal abgebrochen war.
Jemand stört hier den Funkverkehr.
Das beeinträchtigte auch die Verbindung zu Kanes Sender.
Er schnitt eine Grimasse. Immerhin wusste er jetzt, dass er auf der richtigen Spur war. Allerdings würde das auch die Verbindungsaufnahme mit Ndaye erschweren. Wenn es ihm gelang, die Gefangenen zu befreien, mussten sie sich erst einmal außerhalb der Reichweite des Störsenders begeben, bevor er den Helikopter anfordern konnte. Das machte alles erheblich komplizierter.
Da muss ich jetzt wohl durch.
Er ging weiter, schlängelte sich kriechend bis ans Ufer. Der vom spiegelglatten schwarzen Fluss reflektierte Sonnenschein tat ihm in den Augen weh. Er war geblendet und reagierte auf das Geräusch, bevor er dessen Ursprung sah. Ein sonores Knattern. Es schallte übers Wasser und kam von einer großen Insel mitten im Zusammenfluss. Dort funkelte es im Wald metallisch. Tucker blinzelte, dann sah er, wie ein Helikopter von der Insel abhob.
Da er fürchtete, man könnte ihn entdeckt haben, zog er sich wieder in den Wald zurück, beobachtete aber weiterhin den Heli. War das die Maschine, welche die Universität angegriffen hatte? Der Hubschrauber stieg bis über die Baumkronen auf und flog in entgegengesetzter Richtung davon. Tucker sah ihm hinterher. Nach einer Weile schwenkte er vom Fluss ab und flog landeinwärts. In der Ferne zeichneten sich mehrere Rauchsäulen ab. Wenn er die Ohren spitzte, nahm er leise Knirschgeräusche wahr. Außerdem kam ein scharfer Pfiff aus der Richtung.
Das musste eine Bergbausiedlung sein. Davon gab es im Kongo viele. Er musterte die Rauchwolken. Wurden die Entführungsopfer dorthin gebracht? Oder hatte man sie auf der Insel abgesetzt? Er beäugte das bewaldete Flussufer. Ein Stück flussabwärts machte er die Spitze eines Piers aus. Mehrere Boote hatten daran festgemacht. Er dachte daran, dass der Funkverkehr gestört wurde.
Jemand hat dort seine Zelte aufgeschlagen. Selbst wenn ich mich täuschen sollte, muss ich mich wohl dort umsehen.
Das bedeutete, er musste schwimmen.
Er blickte zum schwarzen Spiegel des Wassers und fragte sich, welche Gefahren darunter lauern mochten. Doch er hatte keine Wahl. Seufzend blickte er zur tief stehenden Sonne. Für den Fall, dass der Fluss beobachtet wurde, war es wohl am besten, bis nach Sonnenuntergang zu warten.
Kane war anscheinend nicht glücklich mit seinem Plan. Er knurrte leise, weniger ein Geräusch als ein Beben des Körpers. Der Hund blickte in die andere Richtung – zum nebelverhangenen Wald –, der noch dunkler wirkte als zuvor.
Kane knurrte erneut.
Irgendwas tut sich da.
Tucker vertraute auf die Instinkte seines Partners und spähte in den Dschungel. Er wollte sich selbst ein Bild machen von dem, was der Hund wahrgenommen hatte. Er senkte die flache Hand vor Kanes Nase, dann zeigte er in den Dschungel: Anschleichen .
Kane verschwand im Wald, huschte von Schatten zu Schatten. Trucker verfolgte ihn mittels Videoübertragung und fügte im Stillen noch eine weitere Anweisung hinzu: Sei vorsichtig, Kumpel.
Kane schnuppert die Gerüche des Waldes. Sie helfen ihm, das zu ergänzen, was er nicht sehen kann.
Auf dem Weg hierher hat er sich bereits die wesentlichen Merkmale eingeprägt: den stechenden Geruch von Urin an einem Baumstamm, den erdigen Duft von Dung, den Ammoniakgeruch von Guano. Das alles wird überlagert vom Modergeruch des verrottenden Laubs, der Knochen, der abgefallenen Früchte und der Kadaver, an denen sich Maden laben.
Am Gaumen schmeckt er die schwüle Feuchtigkeit, die süßen Pollen in der Luft und das Aroma des Erdreichs unter seinen Pfoten.
Er läuft geduckt und mit gespitzten Ohren, nähert sich dem Geräusch, das ihm aufgefallen ist. Es gehört nicht hierher. Ein Knurren baut sich in seinem Rachen auf, angefeuert von ausgeschütteten Hormonen, doch er bezähmt seinen Instinkt.
Er tappt weiter, achtet auf jeden Schritt. Als sich Dornen in seinem Fell verfangen, schwenkt er ein wenig ab, damit sie nicht an der Weste kratzen und seine Position verraten. Das Geräusch wird lauter.
… das Schmatzen von feuchtem Laub, schwer, rhythmisch.
… ein durchdringendes Sirren, das ihn veranlasst, die Lefzen hochzuziehen.
… das Ticken und Klirren von Metall.
Dann wittert er den Geruch, einzigartig und scharf unterschieden von der Welt des Waldes. Wie wenn es blitzt, vermischt mit dem Geruch von Waffenöl (den er gut kennt). Außerdem schmeckt er verbranntes Plastik auf der Zunge.
Die Fremdartigkeit bringt sein Blut noch mehr in Wallung.
Trotzdem lässt er sich nicht provozieren.
Stattdessen wird er langsamer, setzt eine Pfote vor die andere. Den Schwanz hält er gesenkt. Er bleibt im Schatten. Dann sieht er das Ziel – beide Ziele. Sie bewegen sich unbeholfen synchron, staksen mit sturer Entschlossenheit durch den Wald, bei jedem Schritt sirrend.
Er zieht die Lefzen noch höher. In seiner Brust braut sich ein Sturm zusammen.
Dann dringt ein machtvoller Befehl an seine Ohren.
In Deckung!
Er gehorcht, nicht aus Angst, sondern aus Loyalität, die von Herzen kommt. Er zieht sich zurück, legt sich auf den Bauch. Seine Muskeln bleiben angespannt, bereit, zu flüchten oder anzugreifen.
Einstweilen beobachtet er, wie die seltsamen Wesen näher kommen.
Tucker staunte über die Bilder, die Kanes Kamera übertrug.
Was zum …
Zwei Roboter waren aufgetaucht, schwarz glänzende Vierbeiner. Sie tappten durch den Wald und bewegten sich synchron, ein bedrohliches Ballett der Technik. Er musterte den vorderen. An der Schulter erreichte er Kanes Höhe, doch statt eines Kopfes hatte er einen Ring mit Linsen, der von einem stummelläufigen Gewehr überragt wurde.
Tucker wusste, was er da sah.
Wachhunde.
Er verfolgte die Entwicklung dieser Geräte schon seit geraumer Zeit, denn was militärische Gebrauchshunde betraf, stand bei ihm einiges auf dem Spiel. Man bezeichnete sie als vierbeinige unbemannte Bodenfahrzeuge oder Q-UGV s, die Abkürzung für Quad-legged Unmanned Ground Vehicles. Verwendet wurden sie zur Bewachung militärischer Einrichtungen. Auch die New Yorker Polizei hatte vor Kurzem nichtmilitärische Versionen der Roboterhunde zur Durchsuchung von Wohnanlagen eingesetzt.
Tucker knirschte mit den Zähnen.
Offenbar wurde ihr Einsatzgebiet erheblich ausgeweitet – bis zum Kongo.
Er hielt Ausschau nach einem Operator, doch er wusste auch, dass die Roboter halbautonom waren. Sie waren für Patrouillengänge und die Überwachung wichtiger Bereiche gedacht. Entweder sie wurden von einem Menschen mit VR -Headset gesteuert, oder sie folgten vorprogrammierten Wegen und einem vordefinierten Satz von Algorithmen.
Mit angehaltenem Atem beobachtete er, wie die beiden Bots sich Kanes Versteck näherten. Der Ring mit den vierzehn Sensoren deckte dreihundertsechzig Grad ab. Sie konnten sich ducken, springen, rennen und funktionierten bei Temperaturen weit unter null wie auch in der heißesten Wüste. Und dann waren da noch die Gewehraufsätze. Davon hatte er noch nicht gehört, aber möglicherweise waren diese Exemplare ja Spezialanfertigungen.
Die beiden Q-UGV s hatten Kanes Position erreicht. Tucker zog die Desert Eagle aus dem Hüftholster, doch die beiden Roboter staksten im Gleichschritt vorbei. Tucker ließ die Luft entweichen und beobachtete, wie sie im Wald verschwanden. Er hatte keine Ahnung, ob die Sensoren Kane übersehen hatten oder ob sie auf Menschen fixiert waren. Wegen der vielen Wildtiere wäre es ineffektiv gewesen, wenn die Wachhunde bei jedem Knacken eines Zweigs oder dem Flattern eines aufgescheuchten Vogels geschossen hätten.
Zur Vorsicht wartete Tucker noch drei Minuten ab, bevor er Kane den nächsten Befehl erteilte.
LEISE ZURÜCKKOMMEN .
Die Kameraperspektive veränderte sich, Kane machte kehrt und schlich zurück. Bei Tucker angelangt, wurde er herzlich empfangen.
»Du bist der Beste, Kumpel.«
Kane wedelte heftig mit dem Schwanz.
Tucker konzentrierte sich wieder auf den Flusslauf und die mysteriöse Insel in der Mitte. Wenn hier robotische Wachhunde patrouillierten, stimmte etwas nicht. Er brannte darauf, der Sache nachzugehen, sah aber wieder zum Horizont. Bald würde die Sonne untergehen. Er musste nicht mehr lange warten.
Er starrte aufs Wasser. Es war klar, wer ihm das eingebrockt hatte.
»Frank, in welche Scheiße hast du uns da reingeritten?«