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24. April, 18:55 CAT
Provinz Tshopo, Demokratische Republik Kongo

Gray kämpfte mit dem Steuer des großen Geländefahrzeugs, das über die matschige, unkrautüberwucherte Dschungelpiste rumpelte. Die Scheinwerfer bohrten sich in die Dunkelheit.

Er hatte das Transportmittel – ein Shatun-Geländefahrzeug aus russischer Fertigung – von den FARDC -Soldaten besorgt, die zum UN -Lager abkommandiert worden waren. Es war für den Dschungel perfekt geeignet, eher ein zwei Tonnen schwerer Traktor als ein typischer Geländewagen. Die Reifen des schmalen Fahrzeugs hatten einen Durchmesser von anderthalb Metern. Damit konnte das vierradangetriebene ATV alle Hindernisse überwinden und bei Flussdurchquerungen notfalls sogar schwimmen. Außerdem waren Kabine und Frachtraum durch ein Gelenk verbunden, sodass man sogar auf der Stelle wenden konnte.

»Wie weit noch?«, übertönte Gray das Grollen des Dieselmotors.

Faraji lehnte sich zur hochgeklappten Windschutzscheibe vor. Er schaute sich um und lehnte sich wieder zurück. »Nicht mehr weit«, antwortete er.

Gray musste sich beherrschen, um nicht die Augen zu verdrehen. Das sagte der Junge schon seit mehreren Meilen. Vor vier Stunden waren sie vom Lager aufgebrochen. Das ATV schaffte zwar dreißig Meilen die Stunde, doch wegen des schwierigen Terrains hatte Gray diese Geschwindigkeit kein einziges Mal erreicht. Trotzdem schätzte er, dass sie inzwischen gut sechzig Meilen vom Lager entfernt waren.

Mit höchster Konzentration legte er eine weitere Meile zurück, da spannte Faraji sich auf einmal an und zeigte. »Ni huko! Dort! Dort!«

Gray musterte den Dschungel zu beiden Seiten des Weges. Die schwankenden Scheinwerfer zeigten nichts als undurchdringliche dunkle Wände. Er fuhr im Schritttempo weiter.

Faraji deutete auf eine kleine Lücke im Wald.

»Ist das der Weg zu dem See, den wir suchen?«, fragte Gray. »Bist du dir sicher?«

Faraji nickte heftig. »Ndiyo.«

Kowalski lehnte sich auf der Rückbank vor, die er sich mit Benjie Frey teilte, dem Biologie-Doktoranden. Der große Mann hatte die ganze Fahrt über gedöst, ohne seine DARPA -Waffe, die Shuriken mit der flachen Nase, aus der Hand zu legen. Gray hatte seine eigene Waffe, eine große KelTec P50, geschultert. Das Magazin der fast vierzig Zentimeter langen halbautomatischen Pistole fasste fünfzig Schuss, und sie vermochte eine Schutzweste auf zweihundert Meter Entfernung zu durchdringen.

Kowalski beobachtete finster, wie Gray abbog. »Das sieht nicht aus wie eine Straße. Eher wie eine überwucherte Spurrille.«

Gray konnte dem nicht widersprechen. Hätte Faraji ihn nicht darauf aufmerksam gemacht, hätte er die Lücke zwischen den beiden hohen Palmen vermutlich übersehen. Die Piste war überwuchert, nicht mal ein Trampelpfad führte durch den dichten Bewuchs. Offenbar war sie seit einer Ewigkeit nicht mehr benutzt worden. Andererseits wuchsen die Pflanzen hier mit mörderischer Geschwindigkeit und füllten bei ihrem Kampf um Ressourcen jede sich bietende Lücke aus.

»Das ist Weg«, sagte Faraji.

Gray blieb nichts anderes übrig, als dem Jungen zu vertrauen. Satellitennavigation stand ihm nicht zur Verfügung. Kurz nach dem Aufbruch vom Lager hatte er angehalten und das GPS -System des Fahrzeugs ausgeschaltet, damit man ihren Weg nicht nachverfolgen konnte. In Anbetracht des Ausmaßes der hiesigen Korruption konnte er nicht ausschließen, dass jemand vom Militär den Gegner informieren würde.

Gray schaltete herunter und bog auf den Seitenweg ab. Die großen Reifen hatten mit dem Unterholz keine Mühe. Trotzdem kamen sie nur langsam voran, denn der holperige Pfad wurde immer schmaler. Als sich das Fahrzeug zwischen zwei riesigen Zedern hindurchzwängen musste, hätten sie beinahe die Lackierung zerkratzt.

»Ich hoffe, Sie haben’s nicht drauf angelegt, die Kaution zurückzubekommen«, brummte Kowalski auf dem Rücksitz und spähte über Grays Schulter.

Gray störte sich nicht an der erdrückenden Anwesenheit des großen Mannes, auch nicht am Gestank des glimmenden Zigarrenstummels, der zwischen seinen Zähnen klemmte. Er hatte nur Augen für den Dschungelpfad, der so stark überwuchert war, dass er trotz der Scheinwerfer kaum mehr zu erkennen war. Trotzdem versicherte ihm Faraji, sie seien auf dem richtigen Weg.

Auch Benjie blickte blinzelnd nach vorn. »Vielleicht sollten wir besser anhalten und bis Sonnenaufgang warten, damit wir uns im Dunkeln nicht verfahren.«

Die ganze Fahrt über hatte der Biologe aufmerksam die Umgebung beobachtet. Gray hatte Verständnis für seinen Argwohn. Nach den gestrigen Ereignissen, dem Überfall der Paviane und dem darauffolgenden Chaos und Blutvergießen weckte der undurchdringliche Dschungel bei ihm die schlimmsten Befürchtungen.

»Wir müssen weiterfahren«, sagte Gray. »Es brauen sich schon die nächsten Unwetter zusammen. Wenn es zu heftigen Regenfällen kommt, besteht die Gefahr, dass wir stecken bleiben.«

Gray hatte noch weitere Gründe für seine Eile. Je länger sie für die Suche brauchten, desto mehr Menschenleben drohten sie zu verlieren. Außerdem war ihm bewusst, dass der unbekannte Gegner ihre Pläne vereiteln wollte.

Und so bahnte er sich weiter einen Weg durch die Nacht. Allmählich erwachte der Wald zum Leben. Massen von Fledermäusen flitzten durch die Scheinwerferkegel. Etwas Großes – vielleicht ein Eber – brach durchs Gebüsch und verschwand in der Dunkelheit. Immer wieder übertönten durchdringende Schreie und unheimliches Geheul den Lärm des Dieselmotors.

Schließlich beugte Faraji sich vor und klappte die Windschutzscheibe herunter.

»Das wurde auch Zeit«, knurrte Kowalski.

Gray fuhr weiter. Sie durchquerten mehrere angeschwollene Bäche und wühlten sich durch den Matsch. Er überlegte, welche Gefahren sie auf William Sheppards historischem Weg zu dem vergessenen Königreich, einem in den Augen der Eingeborenen verfluchten Ort, wohl erwarten mochten. Das Kongobecken mit seinen Wäldern und Savannen umfasste zweieinhalb Millionen Quadratkilometer, was etwa der halben Fläche der Vereinigten Staaten entsprach. Da mochte allerlei verborgen sein. Das Problem bestand darin, es auch zu finden .

Er vergegenwärtigte sich Sheppards letztes Foto. Es zeigte zwei von Schlingpflanzen überwucherte Säulen, die einen dunklen Spalt in einer Felsformation flankierten. Auf der Rückseite waren die Worte »Mfupa Ufalme« notiert. Königreich der Knochen.

Je weiter sie kamen, desto mulmiger wurde ihm zumute.

Selbst wenn wir den Ort finden sollten, wird uns das weiterhelfen?

Unwillkürlich gab er mehr Gas. Das Geländefahrzeug rumpelte schwankend durch den Dschungel. Ein über zwei Meter großer grauer Waran flüchtete ins Gebüsch und blickte ihnen hinterher. Er wirkte wie ein Geschöpf der Urzeit und erinnerte Gray daran, wie alt der Dschungel war. Es war, als bewegten sie sich in der Zeit rückwärts.

Faraji fasste ihn beim Arm. »Okapi ziwa!«

Er zeigte zu einer Stelle, die im Mondschein glitzerte. Gray nahm zunächst an, sie hätten einen weiteren Wasserlauf vor sich, doch als sie näher kamen, wurde der dunkle Spiegel immer größer und heller. An den Rändern breitete er sich in den umliegenden Wald hinein aus. Offenbar war der See aufgrund des Monsunregens über die Ufer getreten.

Gray fuhr langsam bis ans Wasser. Ursprünglich hatte er einen großen Tümpel erwartet, doch der See nahm eine Fläche von etwa zehn Hektar ein. Mückenschwärme schwebten über dem spiegelglatten Wasser. Frösche flüchteten vor ihnen ins Schilf und schwammen langsam davon.

»Ist das der Ort?«, fragte Kowalski.

Faraji nickte. »Okapi ziwa.«

Benjie beugte sich vor. »Der See ist ganz schön groß. Wo sollen wir mit der Suche anfangen? Das könnte Tage dauern.«

Der Biologe hatte recht. Gray ließ den Motor laufen, stieg aus und nahm die sieben Fotos aus der wasserdichten Hülle. Das oberste Foto verglich er mit dem realen Gewässer und suchte nach Übereinstimmungen. Auf der alten Aufnahme war am Ufer ein großer Felsbrocken zu erkennen. Ein ähnlich geformter Fels ragte nahe dem Nordufer aus dem See.

Faraji hat recht. Das ist eindeutig der Ort.

Er drehte das Foto um und betrachtete stirnrunzelnd das gezeichnete Okapi, das irgendetwas bedeuten musste.

Gray bekam einfach nicht heraus, was damit gemeint war. Sheppard aber hatte die Fährte zum See aus einem bestimmten Grund gelegt. Was mochte das gewesen sein? Für ihn war das Rätsel vermutlich nicht zu knacken, doch jemand anderer war hoffentlich schlauer.

Er drehte sich auf dem Sitz um. »Faraji, Reverend Sheppard hat die Hinweise für dein Volk notiert.« Er hielt das Foto hoch. »Sagt dir die Zeichnung etwas? Erkennst du irgendeinen Hinweis auf den nächsten Ort, den wir aufsuchen sollen?«

Faraji biss sich auf die Unterlippe und kniff die Augen zusammen. Schließlich zuckte er ratlos mit den Schultern. »Vielleicht Woko weiß mehr. Ich nicht.«

Der Junge wand sich beschämt und vielleicht auch schuldbewusst.

Auf seinen Schultern ruhte eine schwere Last. Durch den Tod des Schamanen – Farajis Mentor – hatte er sein Selbstvertrauen verloren. Trotzdem wollte Gray nicht aufgeben. Mithilfe des Okapis hatten sie den See gefunden, den nur die Kuba kannten. Hier hatte der Stamm früher die seltene Giraffenart gejagt. Auf der Zeichnung war das eine Hinterbein gefesselt.

Gray tippte auf die Kette, schloss die Augen und versuchte zu erahnen, was Sheppard mit der Zeichnung sagen wollte. Er stellte sich vor, wie der Stamm ein Okapi gejagt, es gefangen und irgendwo angebunden hatte. Wo könnte das gewesen sein?

Auf einmal machte es bei ihm klick.

Er öffnete die Augen und fixierte Faraji. »Gab es hier irgendwo ein Lager ? Eine Stelle am Ufer, wo dein Stamm sich regelmäßig aufgehalten hat? Wo deine Leute ihre Jagdbeute hinbrachten?«

Faraji nickte. Er wandte sich um und zeigte zum Südufer, wo ein gewundener Bach in eine weit geschwungene Bucht des Sees mündete. »Dort haben wir gelagert. Viele Fische und Wild. Sehr gut.«

Das muss es sein.

Gray blickte wieder nach vorn. »Dann fangen wir dort mit der Suche an.«

Er stieg wieder ein. Anstatt dem geschwungenen Ufer zu folgen, lenkte er das ATV ins Wasser. Er brach durchs Schilf und ließ das Fahrzeug ins Wasser rollen. Die großen Reifen fanden gut Halt im weichen Untergrund, und dort, wo das Wasser tiefer war, verwandelten sie sich in Schaufelräder. Kurze Zeit später hatten sie die Bucht mit der Bachmündung erreicht.

Als Gray wieder ausstieg, zeigte Faraji zu einer kleinen farnbestandenen Lichtung. Baumstümpfe ragten daraus hervor. Gray bemerkte auch drei Steinkreise, die vermutlich von alten Feuergruben stammten.

»Kuba hier lagern«, bestätigte Faraji.

Gray fuhr zur Lichtung und stellte den Motor ab. Dann wandte er sich an die Allgemeinheit. »Wir teilen uns in zwei Gruppen auf und suchen die Umgebung ab. Ich nehme Faraji mit. Kowalski, Sie gehen mit Benjie.«

Kowalski beäugte den Biologen skeptisch, dann wandte er sich wieder an Gray. »Wonach suchen wir?«

»Das weiß ich nicht. Nach allem, was irgendwie verdächtig aussieht und hier nicht hergehört. Sheppard hat uns bestimmt aus gutem Grund zu diesem Ort geführt.«

Alle stiegen aus und vertraten sich die Beine. Augenblicklich waren sie in eine Wolke von Mücken gehüllt. Gray wehrte sie ab, indem er das Foto schwenkte. Dann hielt er es hoch. Die Position des Felsens auf der Zeichnung stimmte mit den örtlichen Gegebenheiten überein. Sheppard hatte das Foto vor mehr als hundert Jahren hier im Lager aufgenommen.

Überzeugt davon, dass sie am richtigen Ort waren, rief Gray: »Also los!«

Die beiden Gruppen entfernten sich in entgegengesetzte Richtungen vom Geländefahrzeug und suchten die ihnen zugewiesene Hälfte der Lichtung ab. Die Steinkreise markierten tatsächlich alte Lagerfeuer. Darin befand sich eine dicke Ascheschicht. Überall fanden sich Spuren der Vergangenheit: ein zerbeulter Zinnbecher, ein verfaultes Seil, ein Antilopenschädel mit abgebrochenem Geweih sowie mehrere Patronenhülsen, Beleg dafür, dass die Kuba nicht allein mit Pfeil, Speer und Bogen gejagt hatten.

Gray stellte sich vor, wie es hier einmal ausgesehen haben mochte, als es noch von den heute vom Aussterben bedrohten Okapis gewimmelt und der Stamm im Einklang mit dem Wald gelebt hatte.

Langsam drangen sie von den Feuerstellen zu den Bäumen vor. Am Waldrand blieb er stehen und holte das zweite Foto hervor, das Sheppard drei Tage nach dem ersten aufgenommen hatte.

Er betrachtete es im Mondschein und hoffte, dass sich seine Bedeutung hier vor Ort erschließen würde. Es zeigte Sheppard im weißen Tropenanzug, nur der Helm fehlte. Er stand vor einer Gruppe von Eingeborenen, die knieten, als ob sie beteten. Dieser Eindruck wurde von der Zeichnung auf der Rückseite noch verstärkt. Er drehte das Foto um. Die Zeichnung stellte ein Kreuz auf einer Anhöhe dar, zu dem ein zickzackförmiger Weg hinaufführte.

Er hatte es bereits Faraji gezeigt, doch der hatte lediglich bedauernd den Kopf geschüttelt. Trotzdem war Gray mehr denn je überzeugt davon, dass Sheppard am See Hinweise hinterlassen hatte, die sie zu dem Ort führen würden, an dem das zweite Foto aufgenommen worden war.

Schwankend zwischen Entschlossenheit und Frustration, suchte er den Rand der Lichtung ab. Die Mücken setzten ihm zu. Die Frösche quakten, als machten sie sich über sie lustig. Fledermäuse stießen herab und bombardierten sie mit Ultraschall, der in den Ohren wehtat. Der Matsch saugte an den Stiefeln. Wegen der hohen Luftfeuchtigkeit klebte ihm die Kleidung am Leib.

Allmählich begann Gray zu verzweifeln. Er fragte sich, ob sie die Suche ergebnislos abbrechen sollten. Selbst wenn Sheppard einen Hinweis hinterlassen hatte, war er vielleicht längst verschwunden.

Ein Schrei riss ihn aus seinen Grübeleien. Er zog die KelTec-Pistole und fuhr herum. An der anderen Seite der Lichtung krachte Benjie bäuchlings auf den Boden. Der Aufprall erstickte seinen Schrei.

Kowalski stürzte zu ihm.

Gray ließ die Waffe nicht sinken. »Alles in Ordnung?«, rief er.

»Ist wohl über die eigenen Füße gestolpert.« Kowalski wollte Benjie auf die Beine helfen, doch der schlug das Angebot aus.

Er wälzte sich herum und tauchte tiefer ins Unterholz ein. Schließlich setzte er sich auf und hob etwas Dreckverschmiertes hoch. Er wischte dran, bis es silbrig schimmerte.

Es war eine Kette.

19:34

Alle wollten sehen, was Benjie gefunden hatte. Eigentlich hätte er sich über seine Entdeckung freuen sollen, doch stattdessen brannten ihm die Wangen vor Verlegenheit. Er ärgerte sich, dass er nicht aufgepasst hatte, wohin er trat, und geschrien hatte wie seine Mutter, wenn sie in der Küche eine Maus sah.

Er schlang die Arme um die Brust, um sich zu beruhigen. Sein Autismus war nur schwach ausgeprägt, doch es dauerte, bis er seine aufgewühlten Emotionen wieder im Griff hatte. Schließlich schluckte er, und seine Arme entspannten sich.

Kowalski klopfte ihm so fest auf den Rücken, dass er beinahe in die Knie gegangen wäre. »Gut gemacht, Junge.«

Er nickte und entfernte sich ein Stück, um einer weiteren Dankesbekundung zuvorzukommen.

Gray folgte der Kette bis zu der Bleistiftzeder, an der sie festgemacht war. Die Rinde hatte die Kettenglieder nahezu überwachsen. Offenbar war sie vor langer Zeit angebracht worden.

Gray hob die Kette an und schaute daran entlang, dann sah er seinen großen Partner an. »Kowalski, helfen Sie mir. Die muss irgendwohin führen.«

Sie machten sich daran, die schwere Kette unter dem Mulch und Schlamm hervorzuziehen, die sich im Lauf der Zeit darauf abgelagert hatten. Trotz des aufgeweichten Bodens waren eine Menge Gefluche, Graben und Zerren nötig, um die Kette Glied für Glied zu befreien.

Benjie ließ sie machen. Ihm war wieder eingefallen, was ihn vor dem Sturz abgelenkt hatte. Er war dem Zickzackkurs einer großen Motte gefolgt. Für Motten und Schmetterlinge hegte er wegen ihrer Schönheit und ihrer erstaunlichen Anpassungsfähigkeit eine besondere Zuneigung, was mit seinem Interesse am Evolutionsdruck auf vererbbare Merkmale zusammenhing. Bei dem Tier hatte es sich möglicherweise um eine Holocerina angulata gehandelt, eine afrikanische Fledermausmotte. Die Spannweite der rot geränderten Flügel hatte bestimmt zwanzig Zentimeter betragen. Er hatte geglaubt, sie würden nur halb so groß. Außerdem hatte der Körper bläulich irisiert und schien im Dunkeln zu leuchten, wenngleich der Effekt wohl eher durch das Licht der Taschenlampe hervorgerufen worden war, das von der Rückenschale reflektiert wurde.

Er hielt am Waldrand Ausschau nach der Motte, doch sie war verschwunden.

Enttäuscht kehrte er zu den anderen zurück. Sie hatten inzwischen ein größeres Teilstück der Kette freigelegt und arbeiteten sich weiter vor. Offenbar reichte sie bis in den See.

Faraji war vorausgegangen und schaute sich vom Ufer aus um.

Benjie gesellte sich zu ihm. Faraji kniff ein Auge zusammen und rieb sich zerstreut die Arme.

»Stimmt etwas nicht?«, fragte Benjie.

Faraji blickte übers Wasser hinweg und zeigte zum Himmel auf. »Popo weg.«

»Popo?«

Unverwandt in die Ferne blickend, faltete Faraji die Hände und bewegte die Finger wie Flügel.

»Meinst du Vögel?«, fragte Benjie.

»Ndge , nein. Popo

Benjie runzelte die Stirn. Auf einmal wurde ihm bewusst, dass Faraji nicht den Himmel im Allgemeinen argwöhnisch musterte, sondern den Nacht himmel. »Du meinst bestimmt Fledermäuse«, murmelte er.

Bevor er weiter nachforschen konnte, ertönte eine barsche Stimme: »Aus dem Weg, Jungs!«

Er drehte sich um. Unmittelbar hinter ihnen beförderte Kowalski die Kette mit einem Ruck aus dem Matsch. Sie wichen seitlich aus. Der große Mann folgte der freigelegten Kette bis zum Rand des Wassers, Gray schloss sich ihm an. Kowalski zog ein weiteres Stück Kette aus dem Nass. Die feuchten Glieder funkelten im Mondschein.

»Jetzt geht’s leichter«, sagte Kowalski, watete ins Wasser, bis es ihm an die Knie reichte, und fasste nach.

Die Beine fest in den Morast gepflanzt, zog er an der Kette, doch sie erzitterte lediglich. Das Ende verschwand im schwarzen Wasser.

»Hätte wohl besser die Klappe gehalten«, meinte Kowalski.

Gray war auf dem festen Uferboden stehen geblieben. »Helft uns mal, ihr beide. Mit vereinten Kräften bekommen wir sie vielleicht los.«

Faraji und Benjie packten hinter ihm die Kette.

Benjie suchte mit den Füßen nach Halt, Gray zählte bis drei, dann zogen sie an der Kette. Es fühlte sich an wie ein Kräftemessen mit einem Elefanten.

Sie gibt einfach nicht nach …

Kowalski sah das anders. »Nicht nachlassen«, knurrte er. »Sie kommt.«

Benjie brannten die Handflächen, und der Rücken tat ihm weh, doch er wollte nicht aufgeben. Als die Kette endlich freikam, fielen sie alle hintüber.

Benjie rappelte sich hoch und beförderte die Kette mit einem Fußtritt von sich weg. Auch die anderen richteten sich wieder auf. Gray packte die lose Kette und holte sie ein wie eine Angelschnur. Seinem verkniffenen Gesichtsausdruck nach zu schließen, erforderte das eine große Kraftanstrengung. Das, was sich am Ende der Kette befand, musste schwer sein.

Schließlich tauchte etwas aus dem Wasser auf. Offenbar handelte es sich um einen Behälter von der Größe eines Brotkastens, der aus dem gleichen Stahl bestand wie die Kette.

»Ist es falsch zu hoffen, dass da Gold drin ist?«, fragte Kowalski.

Mit finsterer Miene zog Gray den Kasten aufs Ufer zu – leider war noch etwas anderes im Wasser verborgen.

Hinter dem Kasten brach etwas an die Oberfläche, nichts als Panzer und geballte Kraft. Es war ein großes Krokodil, das bestimmt eine halbe Tonne wog. Es schoss am Behälter vorbei und lief direkt auf Gray zu.

Der Amerikaner taumelte rückwärts und plumpste auf den Hintern. Er griff nach der Waffe, die er geschultert hatte, doch es war bereits zu spät.

Zum Glück reagierte Kowalski instinktiv und zog seine eigene Waffe. Er drückte ab, doch anstatt eines Knalls war nur ein hochfrequentes pneumatisches Winseln zu hören. Ein silbriger Regen schoss aus dem trichterförmigen Lauf. Das Schilf wurde gemäht wie von einer Sichel. Die meisten Geschosse prallten vom Krokodilpanzer ab, doch einige durchschlugen ihn und drangen ins weiche Fleisch ein. Ein Splitter verletzte das linke Auge des Tiers.

Das Krokodil stoppte abrupt, machte kehrt und wälzte sich in den See. Kowalski bestärkte das Tier in seiner Motivation mit ein paar Einzelschüssen. Es verschwand rasch in der Tiefe.

»Danke«, sagte Gray und ließ sich von seinem Partner aufhelfen.

»Gern geschehen. Ich wollte das Ding unbedingt mal ausprobieren.«

Faraji fischte eins der merkwürdigen silbrigen Geschosse aus dem Matsch. Es war eine messerscharfe Scheibe von zweieinhalb Zentimetern Durchmesser. Sie glich den kleinen japanischen Wurfsternen, von denen die Waffe – die Shuriken – auch den Namen hatte.

Kowalski bemerkte, dass Faraji das Gewehr begehrlich beäugte. »Denk nicht mal dran. Das Baby gehört mir.«

Gray beachtete die beiden nicht weiter und zog den Kasten aus dem See. Er löste ihn von der Kette und schleppte ihn zum Geländefahrzeug. Die anderen folgten ihm und achteten darauf, ausreichend Abstand zum Wasser zu halten.

Gray stellte den Kasten in den offenen Laderaum. Er untersuchte ihn kurz, dann zog er einen Verriegelungsstift heraus. »Hoffen wir, dass etwas Besseres als bloß Gold drin ist.«

Er klappte den Deckel hoch, der den Kasten anscheinend wasserdicht verschlossen hatte. Das Innere wurde ausgefüllt von einem zusammengerollten Gegenstand. Gray fasste ihn mit beiden Händen und hob ihn heraus. Er setzte ihn ab und rollte ihn vorsichtig auseinander. Offenbar handelte es sich um einen Gebetsteppich. Er war kunstvoll aus Raffiabast gewebt und durchwirkt mit Glasperlen, Fellstücken, kleinen Dreiecken aus Kupfer und zahlreichen Kaurimuscheln.

»Was ist das?«, fragte Kowalski.

»Ein Beispiel für die Handwerkskunst der Kuba.« Gray blickte Faraji an. »Sein Stamm ist bekannt für seine edlen Textilien.«

»Dann haben wir also für ein hübsches Stück Stoff unser Leben riskiert«, meinte Kowalski. »Das hilft uns wirklich weiter.«

Benjie pflichtete dem Amerikaner im Stillen bei. Er wusste, dass die Kuba berühmt waren für ihre Stoffe und die raffinierten geometrischen Muster, die sie hineinwoben. Dieses Teil aber wirkte so, als wäre es eilig hergestellt worden. Das Design hatte anscheinend weder Sinn noch Verstand, auf jeden Fall gab es kein erkennbares Muster.

»Das muss etwas bedeuten«, sagte Gray. »Weshalb hätte Sheppard es sonst im See versenken sollen?«

Allen war bewusst, dass nur einer ihnen weiterhelfen konnte.

Gray beugte sich vor. »Faraji, hat das für dich irgendeine Bedeutung?«

Der Junge runzelte die Stirn. »Vielleicht … aber es versteckt Wahrheit.«

»Wie meinst du das? Kannst du es uns zeigen?«

Faraji zögerte, doch dann kam er näher und streckte die Hand aus, als wollte er den Teppich an sich nehmen. Stattdessen rieb er behutsam dran, bewegte die Hand von oben nach unten. Er drehte die Perlen und Muscheln, bis sie einen vordefinierten Haltepunkt erreicht hatten. Das wiederholte er immer wieder. Manchmal musste er fest drücken, dann wieder streifte er nur mit einem Finger über das Gewebe.

Zunächst zeigte sich keine große Veränderung, doch als immer mehr Zierelemente in die richtige Lage kamen, trat allmählich ein Bild hervor. Es wurde immer deutlicher, bis das Muster komplett war. Es war nicht geometrischer Natur, sondern vielmehr ein Mosaik aus Kupfer, Muscheln und Glasperlen. Es glich der kubistischen oder pointillistischen Darstellung einer kleinen Steinkirche mit einem Kreuz davor, halb überwuchert vom dunklen Dschungel.

Gray wandte sich an Faraji. »Kennst du diesen Ort?«

Faraji nickte. »Ich kenne. Das ist Missionskirche. Von Reverend Sheppard.« Er schlug ein Kreuz, als erbitte er den Segen des Reverends. »Das seine erste Kirche.«

»Weißt du, wo sie sich befindet?«

Farajis Schultern sackten herab. »Vielleicht. Kirche ist alt. Ich nur einmal dort. Kein Weg mehr dorthin.«

Kowalski stöhnte auf. »Mit anderen Worten, wir müssen geradewegs durch den Dschungel.«

Keiner wirkte besonders glücklich über diese Aussicht.

Trotzdem packte Gray ein Tablet aus und rief eine Geländekarte auf. »Kannst du mir ungefähr sagen, wohin wir fahren müssen?«

Faraji kam herüber, entschlossen, es wenigstens zu versuchen.

Während die beiden miteinander tuschelten, fiel Benjie zur Linken eine Bewegung ins Auge. Verwundert wandte er sich herum. Auf einmal erblickte er zu seiner Freude wieder die große Motte, die ihm zuvor schon aufgefallen war. Sie flatterte über die Lichtung. Mit jedem Schlag der rot geränderten Flügel schien sie ihn zu grüßen wie die sanftere Version eines Glühwürmchens, das einen Partner sucht.

Als ihm klar wurde, dass die Rückenschale tatsächlich von selbst leuchtete, stockte ihm der Atem.

Erstaunlich …

Dann machte die Freude Besorgnis Platz. Im Wald tanzten Tausende dieser leuchtenden Motten, als hätte die erste sie herbeigerufen. Blinzelnd drehte er sich um die eigene Achse. Sie waren überall. Auch über ihm flatterten Hunderte Motten, und es wurden immer mehr.

Ganz auf das Gewebe konzentriert, hatte er ihre lautlose Annäherung nicht bemerkt. Benjie dachte an Farajis Bemerkung zu den verschwundenen Fledermäusen. Hatten sie geahnt, was bevorstand, und sich deshalb zurückgezogen?

Etwas streifte Benjies Wange. Er schreckte zurück. Eine Motte fiel flatternd zu Boden wie ein Blatt im Herbst. Er fasste sich an die Wange, die bereits brannte. Als er den Arm hob, landete die Motte auf dem Handrücken. Er starrte sie an, gebannt von der Schönheit der Flügel, die alle Schattierungen von Schwarz zeigten, wie ein zum Leben erwachter Schatten. Nur die Ränder waren flammend orangefarben.

Dann begann seine Hand zu brennen, als hätte er in eine offene Flamme gegriffen.

Erschrocken schüttelte er die Motte ab. Dort, wo sie gesessen hatte, rötete sich die Haut und warf Blasen; auch seine Wange brannte. In Panik lief er zu den anderen hinüber.

Nur Kowalski hatte anscheinend bemerkt, dass sich die Motten ihnen näherten. »Woher kommen die vielen Schmetterlinge?«

Benjies Arm begann zu zittern und verkrampfte sich. Sein Gesichtsfeld schrumpfte. Er fürchtete das Schlimmste, nämlich eine Vergiftung durch ein Neurotoxin. Bevor er seine Befürchtung äußern konnte, verengten sich seine Bronchien, und er schnappte nach Luft.

Während es um ihn herum dunkel wurde, presste er noch eine Warnung hervor: »Wir werden angegriffen …«