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24. April, 21:02 CAT
Provinz Tshopo, Demokratische Republik Kongo

Gray stützte sich auf dem Rücksitz des schwerfälligen Shatun-Geländefahrzeugs ab. Es rumpelte mit halsbrecherischer Geschwindigkeit durch den Dschungel. Das Heck, das mit dem Vorderteil durch ein Gelenk verbunden war, schwankte heftig.

»Langsamer!«, rief Gray.

Kowalski saß vorgebeugt am Steuer, eine qualmende Zigarre im Mundwinkel. Neben ihm hockte Faraji, der sich bemühte, den resoluten Fahrer zu dirigieren. Die Windschutzscheibe war mit leuchtenden Flecken beschmiert, den Überresten der giftigen Motten, die gegen das Glas prallten und von den Scheibenwischern zerquetscht wurden.

Offenbar hatte das Fahrzeug den Schwarm weitgehend hinter sich gelassen.

Allerdings war das Team nicht unbeschadet davongekommen.

Gray musterte Benjie. Der Student lag benommen auf dem Rücken, Mund und Nase von einer Sauerstoffmaske bedeckt.

Gray hatte sie in dem Erste-Hilfe-Fach in der Seitenwand gefunden. Da sie über die Wirkungsweise des Neurotoxins nichts wussten, hatte Gray die Symptome seines Patienten behandelt. Er hatte Benjie Diazepam gespritzt, um das Zittern der Gliedmaßen zu unterbinden, außerdem noch Antihistamine und Adrenalin, um einer Anaphylaxie vorzubeugen. Dann hatte er die Blasen an Hand und Wange des Studenten abgeschabt, um möglichst viel des Toxins zu entfernen.

»Wie geht’s dem Jungen?«, rief Kowalski nach hinten.

»Er wird’s wohl schaffen.«

Benjie nickte mit trübem Blick. Er versuchte, die Maske abzunehmen, doch Gray schob seine Hand weg. Der junge Mann konnte von Glück sagen, dass er nur mit zwei Motten in Kontakt gekommen war. Andernfalls hätte er wohl nicht überlebt.

Allerdings konnte sich sein Zustand auch wieder verschlechtern. Sie wussten einfach noch zu wenig.

Während sie weiter durch den Dschungel fuhren, überlegte er, ob er die Funkstille brechen und ein Evakuierungsteam anfordern sollte. Allerdings fürchtete er, der Gegner könnte den Funkspruch abhören. Außerdem würden sie dann aufgehalten werden.

Doch er stand in der Schuld des jungen Mannes. Hätte Benjie sie nicht gewarnt, wären sie alle dem Angriff des Mottenschwarms zum Opfer gefallen.

Plötzlich schrie Faraji auf dem Beifahrersitz auf, zeigte nach oben und duckte sich. Über Kowalskis Kopf kroch eine Motte entlang, der Rückenschild leuchtete schwach. Gray hatte geglaubt, sie hätten alle Motten im Wagen getötet, doch eine war ihnen dabei anscheinend entwischt. Sie näherte sich Kowalskis rasiertem Schädel.

Bevor sie dort ankam, nahm Kowalski die Zigarre aus dem Mund und drückte die Motte mit dem glimmenden Stummel gegen das Dach. Die Motte flatterte, zischte und verbrannte. Als sie sich nicht mehr regte, kurbelte Kowalski das Seitenfenster herunter und beförderte die Zigarre mit der toten Motte nach draußen.

»Das sollte die letzte gewesen sein«, sagte Kowalski. »Wenn ich schon sterben muss, dann nicht wegen eines verfluchten Schmetterlings.«

»Motte«, verbesserte ihn Benjie mit gedämpfter, kraftloser Stimme. Er zog die Maske herunter und wehrte Grays Hand diesmal ab. »Eine afrikanische Fledermausmotte, Holocerina angulata, im Kongo heimisch.«

Gray hätte Benjie am liebsten geraten, sich auszuruhen, war aber auf seine Expertise angewiesen. »Ich nehme an, normalerweise sind sie ungiftig.«

»Das gilt nur für die ausgewachsenen Exemplare«, krächzte Benjie. »Die Raupen haben giftige Stacheln, deren Stich schmerzhaft ist.«

»Sie wurden nicht nur gestochen !«, rief Kowalski nach hinten, während er das ATV durch eine Ansammlung von besonders dichtem Unterholz steuerte.

Benjie versuchte, sich aufzusetzen, brauchte aber zwei Versuche und Grays Hilfe. »Die Spezies hat sich irgendwie verändert. Genau wie die Treiberameisen. Ich habe erst geglaubt, die Veränderungen beträfen nur das Verhalten, nicht die Physiologie.« Es blickte Gray an. »Offenbar ist der Dschungel in einem tiefgreifenden Wandel begriffen.«

Gray blickte zum dunklen Wald hinaus. »Sie glauben, das Virus sei der Verursacher.«

»Sicher bin ich mir nicht, aber wenn ja, dann fahren wir in die falsche Richtung …«

»Wie meinen Sie das?«

Benjie blickte die Scheinwerferkegel an, die sich in die Dunkelheit bohrten. »Ich schätze, je tiefer wir in den Dschungel eindringen – je näher wir dem Ursprung kommen –, desto schlimmer wird es werden. Und selbst wenn …« Er verstummte.

Gray spürte, dass er etwas zurückhielt. »Ja?«

Benjie rieb an der mit Blasen bedeckten Wange. »Die Ameisen, die Paviane und die Motten. Die Veränderungen sind erst kürzlich aufgetreten. Sie sind neu , entstanden am Rand der sich ausweitenden viralen Verbreitungszone. Dort, wohin wir unterwegs sind, ist das Virus vielleicht schon seit Urzeiten aktiv. Wir wissen nicht, was es hervorgebracht hat und wie die Transformationen dort aussehen.«

Gray ließ sich Benjies Worte durch den Kopf gehen.

Kowalski zeigte sich unbeeindruckt. Er stieß Faraji mit dem Ellbogen an und wies mit dem Kinn nach vorn. »Sag mir lieber, dass es nicht mehr weit ist.«

Faraji blickte Kowalski an, dann wandte er sich zu Gray um. »Wir sind da.«

Gray blickte durch die Windschutzscheibe. Das Fahrzeug rollte auf seinen großen Reifen durchs Gelände, zu sehen war nichts als wegloser Wald. »Bist du sicher?«

Faraji zeigte zur Seite. Es dauerte einen Moment, bis Gray den hüfthohen Stein ausmachte, der von einem grob behauenen Kreuz gekrönt war. Er war mit Flechten überkrustet und so stark von Schlingpflanzen überwuchert, dass er kaum zu erkennen war. Dann bemerkte Gray weitere Steine beiderseits ihres Weges.

Grabsteine.

Sie standen in einem Gehölz, wo die Baumstämme dünner waren als im umliegenden Wald. Vor seinem inneren Auge sah Gray, wie Reverend Sheppards Missionare den Wald rodeten, um Platz für den Friedhof zu schaffen. Die kleineren Bäume waren jünger und hatten den freien Platz erst dann in Beschlag genommen, als man die Missionsstation aufgegeben hatte.

Selbst Kowalski hatte die Steine bemerkt. »Na großartig, Junge. Du hast uns zu einem Friedhof geführt. Wenn das mal kein schlechtes Omen ist.«

Kowalski gab Gas und fuhr weiter. In seiner Eile, den Friedhof hinter sich zu lassen, rammte er einen Grabstein. Dann tauchte im Dschungel ein größerer Schatten auf. Die Scheinwerfer erhellten eine Steinfassade, bröckelnden Putz, zerbrochene Fensterscheiben und ein moosbedecktes Blechdach. An der einen Seite stand ein großes Marmorkreuz, überwuchert von Schlingpflanzen, als versuchte der Dschungel, es niederzureißen.

»Wir sind da«, wiederholte Faraji und nickte.

Die Missionskirche war stark verfallen, doch es handelte sich eindeutig um das Bauwerk der Raffiastickerei.

Kowalski hielt in der Nähe des großen Kreuzes und platzierte den Wagen so, dass die Scheinwerfer auf den Kircheneingang gerichtet waren. Die Tür war längst verrottet. Die Scheinwerfer vermochten die Dunkelheit im alten Kirchenschiff nicht zu zerstreuen. Ein paar aufgestörte Fledermäuse flatterten in die Nacht hinaus.

»Wollen Sie etwa da reingehen?«, rief Kowalski nach hinten.

Gray holte den Umschlag mit den alten Kodak-Fotos hervor. Er zog das zweite heraus und hielt es hoch. Es zeigte William Sheppard, der inmitten von Angehörigen des Kubastamms betete. Die Bäume hinter dem Reverend – insbesondere zwei Mahagonibäume, die ein V bildeten – passten zum Ausblick an der linken Seite der Kirche. Gray drehte das Foto um und betrachtete die Rückseite. Darauf musste ein Hinweis zu finden sein.

Auf einmal machte es bei Gray klick. Er packte das Foto fester. Beim ersten Betrachten hatte er geglaubt, die Zeichnung stelle eine Anhöhe mit einem Weg dar, der zu dem Kreuz hinaufführte. Jetzt wurde ihm bewusst, dass er sich getäuscht hatte.

Das ist ein Grabstein …

»Ich glaube, wir brauchen die Kirche gar nicht zu betreten«, sagte er zu Kowalski, wandte sich um und blickte durchs Heckfenster. »Aber die Alternative dürfte Ihnen auch nicht behagen.«

»Also, wo …« Kowalski drehte sich um und sah in die gleiche Richtung wie Gray. Er fluchte verhalten.

Gray bestätigte seine Vermutung. »Wir müssen auf dem Friedhof suchen.«

21:13

Benjie folgte Gray auf den Fersen. Seine Begleiter hatten ihn dazu zu bewegen versucht, im Fahrzeug zu bleiben, doch er hatte sich geweigert. Allerdings hielt er sich in der Nähe des großen Mannes und dessen Pistole.

Als sie den Friedhof betraten, schwenkte Benjie die Taschenlampe umher und behielt den umliegenden Dschungel im Auge. Das Laubwerk war hier lichter, doch da schwarze Wolken Sterne und Mond verdeckten, herrschte undurchdringliche Dunkelheit. In der Ferne donnerte es, was sich anhörte, als grolle der Kongo.

Da er nicht aufpasste, prallte er gegen Gray, der angehalten hatte und einen Grabstein inspizierte. Der Stein stand schief im feuchten Boden. Gray riss Schlingpflanzen ab und untersuchte die Granitoberfläche.

Benjie ging um ihn herum und nahm sich die andere Seite vor.

»Irgendwas Interessantes?«, fragte Gray.

»Nein, bloß ein eingravierter Name mit Datum.«

»Dann weiter.«

Vor dem Aussteigen hatte Gray allen das Zickzackmuster auf der Grabsteinskizze gezeigt. Danach suchten sie. Kowalski und Faraji inspizierten die angrenzende Grabsteinreihe. Eingedenk des Vorfalls am See blieben beide Gruppen dicht beieinander.

Benjie brannten noch immer Gesicht und Hand.

Nebeneinander arbeiteten sie sich weiter vor. Benjie achtete vor allem auf den Dschungel. Mücken und Schwärme von Stechfliegen setzten ihnen zu. Bei jedem Stich zuckte Benjie zusammen und fragte sich, welche Veränderungen die Insekten wohl durchgemacht haben mochten. Der Geruch von Fäulnis und moderndem Laub machte es auch nicht besser, zumal sie sich auf einem Friedhof aufhielten.

Schaudernd stellte er sich die unter seinen Füßen modernden Knochen vor. Die Stille des Waldes steigerte seine Unruhe, denn es schien, als wollte nicht einmal der Wald die ewige Ruhe der Toten stören. Die drückende Stille machte ihm zu schaffen. Die anderen empfanden wohl ganz ähnlich, denn sie gingen geduckt und setzten ihre Schritte zögerlich.

Er wischte sich Schweißperlen von der Stirn.

Nach weiteren fünfzehn Minuten hatten sie den Rundgang beendet und alle zweiundzwanzig Grabsteine untersucht – auch den, den Kowalski umgefahren hatte. Sie hatten alle mit anpacken müssen, um ihn umzudrehen.

Sie versammelten sich am Rand des Friedhofs.

Gray hatte vor lauter Frust die Lippen zusammengepresst. Kowalski schaute finster umher. Faraji hatte die Arme vor der Brust verschränkt und machte einen verlorenen Eindruck. Auf keinem der Grabsteine hatten sie ein Zickzack-Symbol entdeckt.

»Vielleicht wurde der Stein, nach dem wir suchen, verschüttet«, sagte Kowalski. »Der ganze Friedhof sieht so aus, als würde er versinken.«

»Oder es gibt noch weitere Grabsteine«, meinte Benjie. »Vielleicht sollten wir uns mal hinter der Kirche umsehen.«

Gray nickte. »Wir haben keine Wahl. Der gesuchte Stein kann überall sein.«

Kowalski seufzte. »Das ist wie die Suche nach einer Nadel in einem modernden Heuhaufen.«

»Oder in diesem speziellen Fall …« Benjie vollführte eine ruckartige Bewegung mit der Hand. »Die Suche nach einem Blitz im Heuhaufen.«

Wie aufs Stichwort donnerte es. Er ließ den Arm eilig sinken.

»Gehen wir«, sagte Gray. »Wir wollen uns hier nur so lange wie nötig aufhalten.«

Benjie sah das genauso, vor allem, da sich ein weiteres Gewitter zusammenbraute. Sie gingen zurück zur Kirche – Faraji aber blieb wie festgewurzelt stehen und ließ den Blick über den Friedhof schweifen.

Benjie gesellte sich zu ihm. »Was hast du?«

Faraji löste die Arme und ahmte Benjies Handgeste nach. »Blitz …«, sagte er, den Blick auf den Friedhof gerichtet.

»Was ist damit?«

Faraji betrat wieder den Friedhof und zog Benjie mit sich. Die anderen schlossen sich ihnen an. Faraji untersuchte die Steine, die Kowalski sich bereits angesehen hatte. Schließlich blieb er vor einem stehen und rieb den Moosbewuchs ab. Darunter kamen ein Name und eine Datumsangabe zum Vorschein.

Gray deutete auf die Inschrift. »Peter Umeme.«

Sie standen vor dem Grab eines Kubas, der getauft worden war, einen christlichen Vornamen angenommen und den Stammesnamen beibehalten hatte.

Faraji zeigte darauf. »Umeme.« Sein Arm zuckte durch die Luft. »Das bedeutet Blitz.«

Die anderen wechselten wortlos Blicke.

»Heißt das, wir sind am richtigen Ort?«, fragte Kowalski. »Wir können doch nicht auf bloßen Verdacht jemanden ausgraben.«

»Das muss es sein«, sagte Gray.

»Woher wollen Sie das wissen?«, entgegnete Benjie.

Gray nahm den Klappspaten von der Schulter und zeigte damit auf das Datum. »Achtzehnter Oktober. Dasselbe Datum wie auf dem Foto.«

Benjie musste ihm recht geben. »Einer von Sheppards Leuten muss hier gestorben sein. Vielleicht stellt der Gebetskreis auf dem Foto ja eine Trauerfeier dar.«

»Das wäre denkbar. Aber es gibt nur eine Möglichkeit, uns Gewissheit zu verschaffen.« Gray bedeutete Kowalski, er solle ihm helfen. »An die Arbeit.«

Sie machten sich gemeinsam ans Werk. Das feuchte Erdreich erleichterte die Arbeit. Der Haufen neben dem Grab wurde rasch höher. Als Kowalski den Spaten in den Boden rammte, stieß er auf Metall.

»Irgendwas ist da«, brummte der Hüne.

Sie machten mit den Händen weiter, die anderen halfen ihnen. Schließlich kam im dunklen Erdreich eine Stahltruhe zum Vorschein, ähnlich der, die sie aus dem See gefischt hatten. Als sie sie vollständig freigelegt hatten, stellte sich heraus, dass sie auf kräftigen Brettern stand. Benjie schauderte, denn er konnte sich denken, dass es sich um Umemes Sarg handelte.

Faraji sah das offenbar genauso. Als Gray und Kowalski die Kiste zur Seite zogen, legte er die Hände auf die Bretter. Er flüsterte etwas in seiner Stammessprache; vielleicht dankte er dem Mann dafür, dass er den Schatz gehütet hatte, oder er entschuldigte sich für die Störung der Grabesruhe.

Vielleicht traf auch beides zu.

Benjie sah zu, wie Gray einen Arretierungsstift hervorzog und den Deckel hochklappte. Er trat näher.

»Was ist drin?«, fragte Kowalski.

»Anscheinend ein weiteres Beispiel der Handwerkskunst der Kuba.« Gray holte einen mit Federn und Perlen geschmückten Hut heraus, behängt mit Elfenbeinamuletten und Fetischen. »Das könnte eine Art Krone sein.«

Faraji hatte sein Gebet beendet und gesellte sich zu ihnen. »Ja. Königskrone. Sana takatifu. Sehr heilig.«

Benjie runzelte die Stirn. »Aber wieso wurde sie hier vergraben? Was hat das zu bedeuten?«

Gray blickte Hilfe suchend auf den Jungen, doch Faraji zuckte nur mit den Schultern. Gray wendete die Krone in den Händen. Er betrachtete die Oberseite und betastete auf der Suche nach einem weiteren Hinweis das Innere.

Schließlich schüttelte er den Kopf und legte das heilige Objekt wieder in die Truhe. »Ich … ich weiß nicht mehr weiter«, gestand er ein.

Er rieb sich das Kinn und hockte sich hin, offenbar entschlossen, nicht aufzugeben. Er blickte von der Truhe zu dem Loch, das sie gegraben hatten. Schließlich holte er die Fotos hervor. Er blätterte sie durch und zog das dritte in der zeitlichen Abfolge heraus, den nächsten Brotkrumen auf dem Weg zu Mfupa Ufalme, dem Königreich der Knochen.

Gray winkte alle näher. Das Foto zeigte Reverend Sheppard inmitten der Ruinen einer alten Stammessiedlung. »Faraji, erinnerst du dich noch immer nicht an diesen Ort?«

»Nein. Samahani. Tut mir leid.«

Benjie konnte ihm keinen Vorwurf machen. Das Dorf wies keine besonderen Merkmale auf. Man sah ein paar morsche Holzpfosten und eingestürzte Strohdächer. Im Kongo gab es Hunderte, wenn nicht gar Tausende solche verlassenen Dörfer.

Gray drehte das Foto um und betrachtete die Rückseite.

Darauf war mit Holzkohle eine Art Stammesmuster gezeichnet, ein Flickwerk aus Diamanten und Pfeilen mit einem Knoten in der Mitte. Die in sich verschlungenen Schleifen erinnerten Benjie an das Unendlichzeichen.

Gray blickte Faraji an, der die Schultern bis an die Ohren hochzog – dann hielt er plötzlich inne. Seine Augen weiteten sich.

»Was hast du?«, fragte Benjie.

»Samahani« , wiederholte er bedauernd und senkte die Schultern. Er blickte vom offenen Grab zur Krone und wieder zurück. »Hätte wissen müssen.«

»Was wissen?«, fragte Gray.

Faraji zeigte auf die von Pfeilen eingefassten Diamanten auf der Zeichnung. »Das ist mbul bwiin . Muster nur für mrabaha .« Er wand sich; offenbar hatte er Mühe, den Ausdruck zu übersetzen, doch dann nickte er. »König, ja? König.«

Gray blickte die Krone an.

Faraji tippte auf den Knoten in der Mitte der Zeichnung. »Das ist imbol nur für König, ja. Jeder König eigenes imbol

Benjie, dem es allmählich dämmerte, beugte sich vor. »Dann ist das wie ein Name. Jeder König hat sein eigenes Muster.« Er wandte sich an Faraji. »Meinst du das?«

Der Junge nickte.

Gray fixierte Faraji. »Kennst du das Muster? Weißt du, welcher König gemeint ist?«

Faraji lächelte stolz. »Wir lernen Namen aller Könige. Um sie zu ehren. Das hier berühmter Kuba-König. Großer Held. Nyim Chui. Leopardenkönig.«

Kowalski wirkte unbeeindruckt. »Na großartig! Aber inwiefern hilft uns das weiter?«

Gray betrachtete schweigend das offene Grab. »Sheppard hat die Krone aus einem bestimmten Grund hier vergraben und einen Hinweis auf den Namen des Königs gegeben«, sagte er schließlich. »Vielleicht möchte er uns zum Grab des Königs führen.«

»Sollte sich das nicht im Dorf des Stamms befinden?«, fragte Benjie. »Weit hinter uns?«

Faraji schüttelte den Kopf. »Kuba. Wir ziehen weiter, wenn neuer König gekrönt. Zum Dorf des Königs. Lassen altes Dorf zurück.«

Benjie versuchte, sich das vorzustellen.

Mit jedem neuen König hat der Nomadenstamm seine Hauptstadt verlegt .

Gray drehte das Foto um und betrachtete die Ruinen des Dorfs. »Könnte dies das Heimatdorf des Leopardenkönigs sein? Der Ort, an dem er bestattet wurde, bevor dein Stamm weitergezogen ist?«

Alle blickten Faraji an.

»Wie gesagt, wir lernen Namen aller Könige«, sagte er. »Sind sehr stolz auf sie. Wir singen Lieder, die von ihren Taten handeln und von woher sie kommen.«

»Heißt das, du weißt, wo das Dorf des Leopardenkönigs liegt?«

Faraji runzelte die Stirn und wiegte den Kopf. »Ich nie dort war. Aber ich weiß, wo es liegt.« Er zeigte nach Osten. Dann legte er die Hände zusammen, als wollte er Wasser schöpfen. »In tiefem bonde . Tiefem Tal.«

Gray richtete sich auf. »Wir müssen dort hinfahren und nach dem Grab suchen.«

Kowalski musterte finster den Friedhof. »Dann geht es also von einem Friedhof zu einem Grab. Ist wohl ganz logisch, wenn wir zum Königreich der Knochen wollen.«

»Alle wieder einsteigen«, befahl Gray.

Sie eilten über den Friedhof. Benjie war froh, die Grabsteine hinter sich zu lassen. Vor ihnen trat die Silhouette der alten Missionskirche aus der Dunkelheit hervor. Davor stand das Geländefahrzeug mit den großen Rädern, ein kleiner Schatten vor einem großen.

Auf einmal durchbrach lautes Geheul die Stille des Dschungels. Das an- und abschwellende Heulen klang gleichzeitig nah und fern. Es kündete von trostloser Einsamkeit, doch das Tier war nicht allein.

Ein Chor antwortete ihm aus verschiedenen Richtungen.

Von urtümlichem Grauen erfasst, sträubten sich Benjie die Nackenhaare.

Faraji wurde langsamer. »Mbweha«, sagte er.

Als Biologe hatte Benjie viele Bantu-Bezeichnungen für die einheimische Tierwelt gelernt, bevor er nach Afrika gereist war. Er erstarrte, denn er wusste, welche Jäger Faraji gemeint hatte.

Schakale.

21:33

Gray riss die KelTec-Waffe aus dem Holster und packte sie mit beiden Händen. Er drehte sich um die eigene Achse und suchte den Wald ab. Kowalski hatte die Shuriken angelegt.

»Weiter zum Fahrzeug«, sagte er.

In dichter Formation rückten sie vor. Dann fiel Gray am dunklen Kircheneingang eine Bewegung ins Auge. Ein Schatten kam heraus, gefolgt von einem zweiten Tier. Sie waren pechschwarz, das Nackenfell gesträubt. Die großen Ohren waren aufgerichtet. Gelbe Augen funkelten sie an. Sie senkten die spitzen Schnauzen zum Boden und entblößten knurrend die Reißzähne.

Faraji blieb stehen.

Benjie tat es ihm nach. »Nicht schießen«, flüsterte er atemlos.

Gray und Kowalski bewachten die Flanken und zielten nach vorn.

»Was sind das für Tiere?«, wisperte Kowalski.

»Schakale«, antwortete Benjie. »Aber riesige Exemplare, doppelt so groß wie normal.«

Gray glaubte ihm aufs Wort. Sie ähnelten ausgewachsenen Wölfen, waren aber schlanker gebaut. Sie sahen aus, als könnten sie sich im Handumdrehen auf sie stürzen. Aus dem Augenwinkel bemerkte er im Wald weitere Tiere.

Vermutlich sind auch welche hinter uns.

Er schätzte, dass mindestens ein Dutzend Tiere zu dem Rudel gehörte.

»Nicht schießen«, wiederholte Benjie.

Kowalski packte seine Waffe fester. »Ich will verdammt sein, wenn ich’s nicht tue.«

»Bitte nicht«, sagte Benjie eindringlich. »Sie sollten sich nicht mal rühren.«

Gray hatte bemerkt, dass Faraji als Erster erstarrt war. Der Junge kannte diese Dschungelbewohner besser als sie.

»Hören Sie auf ihn«, befahl Gray, ohne die Pistole zu senken. Er blickte Benjie an. »Was sollen wir tun?«

»Diese Viecher sind schlau und tückisch. Und sie zeigen ein ausgeprägtes Territorialverhalten. Schließlich sind wir in ihr Revier eingedrungen. Sie hätten uns jederzeit angreifen können, bedrohen uns aber erst jetzt, da wir zum Fahrzeug zurückkehren. Dafür muss es einen Grund geben.«

Die Schakale mussten sich die ganze Zeit über in der Kirche versteckt haben. Doch sie hatten sich ruhig verhalten und Grays Gruppe sogar Gelegenheit gegeben, sich unbehelligt zu entfernen.

Aber als wir zurückgekehrt sind und uns ihrem Versteck wieder genähert haben …

Ein neues Geräusch war in der Stille zu hören. Ein hungriges, klagendes Wimmern aus dem Innern der Kirche.

»Junge«, sagte Benjie.

Gray zuckte zusammen.

Kein Wunder, dass sie diesen Ort verteidigen.

Die Schatten rückten näher und tauchten gleich wieder im Wald unter. Sie waren unglaublich schnell.

»Was sollen wir tun?«, fragte Gray.

»Langsam bewegen. Wie in Zeitlupe.« Benjies Stimme zitterte, doch er bezähmte seine Angst. »Wir gehen nicht direkt auf die Kirche zu, sondern zum Heck des Fahrzeugs. Und den Schakalen nicht in die Augen sehen.«

Benjie setzte langsam erst den einen Fuß vor, dann den anderen. Den Blick hatte er niedergeschlagen, die Schultern hochgezogen und den Rücken gekrümmt. »Klein machen«, flüsterte er. »Als hätten Sie Ihren Schwanz eingezogen.«

»Ich habe keinen Schwanz«, sagte Kowalski. »Aber meine Eier sitzen ziemlich weit oben.«

»Gut«, sagte Benjie. »Behalten Sie sie da.«

Sie näherten sich dem offenen Heck des Geländefahrzeugs. Obwohl es nur zehn Meter entfernt war, schien die Strecke unüberwindlich. Zumal sich bei jedem Schritt, den sie taten, das Nackenfell der beiden Bewacher sträubte.

Gray hielt die Luft an – dann sprang einer der Schakale auf einmal vor und schnappte. Gray duckte sich noch mehr und zielte.

»Nicht«, flüsterte Benjie.

Gray musste sich beherrschen, um nicht abzudrücken. Er musterte den Schakal durchs Zielfernrohr.

Das Tier wich wieder zurück, jedoch nicht aus Angst.

»Das ist reines Drohverhalten«, erklärte Benjie. »Eine Demonstration von Aggressivität. Beachten Sie sie nicht.«

Kowalski grunzte. »Sagen Sie das mal meinen feuchten Unterhosen.«

»Das könnte tatsächlich hilfreich sein«, meinte Benjie. »Urinabgabe ist ein Zeichen von Unterwerfung.«

Kowalski zog die Brauen zusammen. »Allmählich kriege ich einen Hass auf Sie.«

Sie näherten sich dem Geländefahrzeug. Die offene Heckklappe lockte.

So gut wie da.

Noch ein Schritt, und ein durchdringender Schrei drang aus der Kirche. Ein kleines Tier kam heraus, lief zwischen den ausgewachsenen Schakalen hindurch und hielt blindlings auf ihre Gruppe zu. Es war eins der Jungen. Es bekam nicht mit, wohin es lief, denn den Kopf hatte es nach hinten gewandt.

Der Anlass für seine Panik tauchte auf.

Eine große Schlange glitt über die Türschwelle der Kirche und jagte seiner Beute mit unglaublicher Geschwindigkeit hinterher. Ihr Leib war so dick wie Grays Unterarm.

Das Junge stolperte über die eigenen Pfoten, fiel auf die Seite und rutschte übers feuchte Laub. Die Schlange bäumte sich auf und spreizte den roten Hals. Sie zischte und entblößte ihre Fangzähne.

Eine Kobra.

Die großen Schakale brüllten, verharrten angesichts von zwei Bedrohungen gleichzeitig aber verwirrt an Ort und Stelle. Vermutlich hielten sich noch weitere Junge in der Kirche auf.

Zum Glück neigte Kowalski nicht zur Unentschlossenheit. Ein durchdringendes Sirren war zu hören, etwas Silbriges zuckte durch die Luft. Zwei messerscharfe Scheiben trennten den Kopf der Kobra ab. Sie krümmte sich noch eine Weile in Angriffspose, dann fiel sie tot auf den Boden.

Das Junge rappelte sich hoch und lief jaulend zur dunklen Kirche zurück. Es rannte zwischen seinen Eltern hindurch und verschwand.

Die beiden Schakale sträubten fauchend das Fell, kamen aber nicht näher. Die Schatten an den Seiten zogen sich in den Wald zurück.

»Weitergehen«, drängte Benjie. »Wir sollten uns nicht drauf verlassen, dass sie ewig stillhalten.«

Die anderen nahmen sich seine Warnung zu Herzen und legten die letzten paar Meter schneller zurück.

Am Wagen angelangt, atmete Gray auf und ließ seinen Begleitern den Vortritt. Er stieg als Letzter ein und zog die Heckklappe hinter sich zu.

»Kowalski, fahren Sie los.«

»Das brauchen Sie mir nicht zweimal zu sagen.«

Kowalski ließ sich auf den Fahrersitz plumpsen und drehte den Zündschlüssel im Schloss. Der Motor sprang mit ohrenbetäubendem Gebrüll an. Plötzlich tauchte zwischen den Scheinwerfern ein großer Schatten auf. Der Schakal sprang hoch und pflanzte die großen Vorderpfoten auf die Windschutzscheibe. Knurrend und fauchend kratzte er am Glas.

Kowalski erwiderte seinen Blick. »Gern geschehen, Arschloch!«

Er legte den Rückwärtsgang ein und setzte zurück. Der Schakal landete auf allen vier Pfoten und stolzierte mit peitschendem Schwanz vor der Kirche auf und ab.

Kowalski wendete auf der Stelle. Die Passagiere wurden durch die Heckkabine geschleudert. Anschließend setzte er die Fahrt in östliche Richtung fort.

Benjie blickte sich zur Kirche um. Er zitterte am ganzen Leib, doch das lag nicht am Neurotoxin, sondern war eine Nachwirkung des sich abbauenden Adrenalins.

Gray kannte das Gefühl nur allzu gut. Er klopfte dem jungen Mann auf die Schulter. »Gut gemacht.«

Benjie schluckte mühsam. »Damit hätte sich mal wieder gezeigt, dass die Natur sich erkenntlich zeigt, wenn man ihr Respekt erweist.«

Kowalski hatte ihn gehört. »Es sei denn, sie will einen fressen, dann ist alles möglich.«

Gray beachtete ihn nicht, sondern spähte entlang der Scheinwerferkegel in die Dunkelheit. Ringsumher war Dschungel. Er musste an ein Gedicht von Lord Tennyson über die Grausamkeit der Natur denken. Darin hieß es: blutrot die Zähne und die Klauen.

Das Bild der beiden Schakale, die ihre Jungen schützten, eine Spezies mit lebenslanger Paarbindung, trat ihm vor Augen. Auch der Rest des Rudels hatte sich versammelt, um ihre Nachkommen zu schützen, und war dabei koordiniert vorgegangen.

In dieser Hinsicht wusste Benjie mehr über die Natur als Tennyson.

Gray beschloss, sein Wissen zu beherzigen.

Zumal es uns gerade eben das Leben gerettet hat.

Der junge Biologe hatte sie vor dem Dschungel im Herzen des Kongo und den darin stattfindenden Veränderungen gewarnt.

Je weiter wir kommen, desto schlimmer wird es werden.