Gray stand am Heck des ATV und hielt Kowalski den Rücken frei. Der Hüne stapfte durchs knöcheltiefe Wasser, seine Stiefel versanken im Matsch. Am letzten der vier Reifen angelangt, entfernte er die Ventilkappe und ließ vorsichtig Luft ab.
Die Räder waren bis zur Achse im Morast eingesunken. Sie saßen fest. Durch das teilweise Ablassen der Luft wollten sie die Reifenfläche vergrößern und die Traktion verbessern.
»Wie weit sind Sie?«, rief Gray, der das flache Wasser beobachtete. Er hielt die KelTec-Pistole und eine Taschenlampe in der Hand. Das Herz klopfte ihm bis zum Hals, denn er war sich bewusst, wie gefährlich der Aufenthalt im Freien war.
Es war stockdunkel. Dort, wo das Laubdach Lücken aufwies, verdeckten Wolken den Himmel. Ein dichter Nebel, fast schon Nieselregen, hing in der Luft. Mücken sirrten. Frösche quakten. Die Rufe von Vögeln und Affen schallten über den Sumpf, als wollten sie gegen die Eindringlinge protestieren.
»So gut wie fertig«, brummte Kowalski.
»Aber lassen Sie nicht zu viel Luft ab, sonst haben wir vier Platten.«
»Ich weiß schon, was ich tue, Pierce. Das ist nicht das erste Mal, dass ich im Schlamm stehe«, knurrte Kowalski und schraubte die Kappe wieder an. Er richtete sich auf und klopfte auf den fast drei Meter durchmessenden Reifen. »Sehen Sie? Hat noch genug Luft.«
»Dann steigen Sie wieder ein. Fahren wir weiter.«
Kowalski watete zur offenen Heckklappe und kletterte ins Fahrzeug. Benjie machte ihm Platz, und Kowalski nahm wieder den Fahrersitz ein. Faraji blickte nach vorn. Er hatte die Aufgabe, sie zum Heimatdorf des Leopardenkönigs zu führen, der nächsten Zwischenetappe auf den Spuren Reverend William Sheppards.
Gray seufzte.
Vorausgesetzt, wir kommen endlich weiter.
Sie waren seit fast zwei Stunden unterwegs. Er schätzte, dass sie sich inzwischen in der Provinz Ituri befanden, einem abgelegenen und dicht bewaldeten Teil des Kongo. Vermutlich war es nicht mehr weit bis zum Kuba-Dorf.
Kowalski ließ den Motor an, gab Gas und setzte abwechselnd vor und zurück, um die Reifen aus dem Morast zu befreien. Schlammfontänen wurden hochgeschleudert.
Eine Gruppe kleiner Affen floh vor dem Spektakel. Einige landeten mit einem lauten Knall auf dem Wagendach, dann sprangen sie weiter. Einer schrie sie durchs Fenster an, das kleine Gesicht verzerrt vor Wut, die spitzen Zähne gebleckt.
»Allenopithecus nigroviridis«, sagte Benjie. Er blickte dem Affen hinterher, der seinem Rudel nacheilte. »Auch Allens Sumpfaffe genannt.«
»Fanden Sie sein Verhalten normal?«, fragte Gray.
Benjie zuckte mit den Schultern. »Ich … ich glaube, schon.«
Faraji gab seine Einschätzung zum Besten. »Schmeckt sehr gut, ja. Gute Nahrung.«
Kowalski grunzte. »Glaub ich dir aufs Wort, Junge.«
Er setzte das Manöver fort und schaukelte auf dem Sitz vor und zurück, als könnte er mit seinem massigen Körper den entscheidenden Beitrag leisten.
Vielleicht gab er ja tatsächlich den Ausschlag.
Auf einmal löste sich das ATV aus dem Morast. Einen Moment lang wurden sie in der Kabine umhergeschleudert. Dann stabilisierte sich das Fahrzeug und setzte seinen Weg durch den Sumpf fort.
»Sehen Sie? Ein Klacks«, bemerkte Kowalski triumphierend.
»Ja, Klacks auch schmecken gut«, kommentierte Faraji.
Kowalski klopfte ihm auf die Schulter. »Einverstanden. Aber den gebratenen Affen kannst du für dich behalten.«
Faraji nickte ernsthaft. »Danke.«
»Nicht langsamer werden«, sagte Gray. »Fahren Sie in gleichmäßigem Tempo. Wir wollen uns nicht noch einmal festfahren.«
»Jetzt reicht’s mir aber mit der Nachhilfe.« Kowalski wandte den Kopf und funkelte ihn an. »Möchten Sie ans Steuer? Ich mach gern mal ein Nickerchen.«
Gray winkte ab. Er wusste, wie angespannt sie alle waren. Die drückende Dunkelheit, der dichte Dschungel, der Schlafmangel, das alles setzte ihnen zu.
»Entschuldigung«, sagte Gray. »Fahren Sie einfach weiter. Hören Sie auf Faraji.«
Gray konzentrierte sich wieder auf die digitale Landkarte auf seinem Tablet. Jede halbe Stunde markierte er mittels GPS ihre Position, dann schaltete er es wieder aus. Er wollte nicht riskieren, dass man sie ortete, doch eigentlich war damit nicht mehr zu rechnen. Sie waren fernab jeglicher Zivilisation, und selbst Faraji musterte skeptisch den überschwemmten Dschungel.
Gray verglich die Karte mit der Umgebung. Seit dem Aufbruch von der alten Missionsstation ging es leicht bergab. Vermutlich stand dieser Teil des Waldes nicht dauerhaft unter Wasser. Durch den schweren Monsunregen war es zu Überschwemmungen gekommen.
Mit jeder zurückgelegten Meile wuchs Grays Besorgnis. Es dauerte nicht lange, da gingen die ruckartigen Bewegungen des Fahrzeugs in ein sanftes Schwanken über. Das Wasser war inzwischen so tief, dass das ATV ins Schwimmen geriet. Die drehenden Reifen trieben es weiter an, doch ihre Geschwindigkeit verlangsamte sich erheblich.
Der Dschungel wurde immer dichter. Raffiapalmen standen neben Zederngehölzen. Überall hingen Orchideen herab. Schlingpflanzen fädelten sich in ihre Netze. Zwei Mal mussten sie das Fahrzeug – begleitet von Kowalskis wilden Flüchen – mit Macheten befreien.
Trotz der Überschwemmung wimmelte es im dunklen Wald vor Tieren. Pythons schlängelten sich träge davon. Kaninchen flüchteten in alle Richtungen, sprangen von moosbewachsenen Erhöhungen ins Brombeerdickicht. Zahllose Affen schimpften. Sogar eines der seltenen gestreiften Okapis lief durch den Scheinwerferkegel.
Bei jeder neuen Sichtung blickte Gray Benjie an.
Der Biologe zuckte mit den Schultern.
Aus der Ferne war nicht zu erkennen, ob die Tiere genetisch modifiziert waren. Trotzdem musste Gray an Benjies Warnung denken – je näher sie dem Ursprung kamen, desto größer die Gefahr.
Auch Kowalski bereitete es Unbehagen, dass sie immer tiefer in den Wald vordrangen. »Junge, wie weit ist es noch bis zum Dorf des toten Königs?«
Faraji drückte die Nase erst ans Seitenfenster, dann an die Windschutzscheibe. »Das sieht falsch aus. Wir sollten im bonde sein, im Tal. Aber das hier falsch.«
In der Wolkendecke blitzte es. Der Donner ließ die Fenster des Fahrzeugs erbeben. Wie aufs Stichwort steigerte sich der Nieselregen zu einem schweren Schauer. Dicke Tropfen prasselten aufs schwarze Wasser nieder.
Benjie stupste Gray an und zeigte nach draußen. »Sehen Sie.«
Gray wandte den Kopf und kniff die Augen zusammen, doch er sah nur regengepeitschten Dschungel. Der ganze Wald vibrierte unter der Gewalt des Wassers. »Was meinen Sie?«
Benjie schnappte sich eine Taschenlampe und schaltete sie ein. Einen Moment lang waren alle geblendet. Dann richtete er sie auf eine Stelle hinter dem Fahrzeug und leuchtete ein Grasfloß an, das im aufgewühlten Wasser verankert schien.
»Da sind wir eben dran vorbeigekommen«, sagte Benjie. »Ich hab’s erst nicht beachtet.«
»Was ist das?«
Benjie blickte Gray an. »Ich glaube, das ist Stroh .«
Gray hatte verstanden und legte Kowalski die Hand auf die Schulter. »Halten Sie.«
Kowalski bremste, ließ den Motor aber laufen. Er wandte den Kopf. »Warum?«
»Ich glaube, Faraji hat ganz richtiggelegen. Wir haben das Tal erreicht.« Gray rutschte ans Fenster, schaltete seine eigene Taschenlampe ein und leuchtete umher. Mehrere Strohflöße ragten aus dem Wasser. »Das sind Dächer. Wir haben das Dorf des Königs erreicht. Allerdings steht es komplett unter Wasser.«
Jetzt sah Gray auch mehrere Balken und Stangen, die aus dem Wasser ragten, ein weiterer Beleg dafür, dass sich hier einmal ein großes Dorf befunden hatte.
Kowalski stöhnte. »Unmöglich, hier nach Hinweisen zu suchen.«
»Jedenfalls ohne Tauchausrüstung«, setzte Benjie hinzu.
Gray begann zu verzweifeln. Wenn es hier unten ein Königsgrab gab, würden sie es kaum finden, zumal jetzt in der Dunkelheit. Und selbst wenn sie es fänden, würden sie ihm kaum irgendwelche Informationen entnehmen können. Sie mussten warten, bis die Flut zurückwich.
Und das würde Monate dauern.
Gray blickte zum Vordersitz, bereit, nach jedem Strohhalm zu greifen. »Faraji, hast du einen Vorschlag?«
Der Junge schlug die Augen nieder und schüttelte den Kopf. »Samahani« , murmelte er. »Tut mir leid.«
»Dann sind wir also am Ende der Fahnenstange angelangt«, schlussfolgerte Kowalski, der beinahe erleichtert klang.
Gray befürchtete, Kowalski könnte recht behalten. Dennoch wollte er nicht aufgeben – zumindest jetzt noch nicht. Dafür hatten sie einen zu weiten Weg zurückgelegt.
Zuvor hatte er das Tablet-GPS eingeschaltet und ihre Position markiert.
Sie wurde auf der topografischen Karte als roter Stern angezeigt.
Eine weitere Brotkrume, die Sheppard für uns ausgelegt hat.
In der Hoffnung, auf einen Hinweis zu stoßen, blätterte er in den sieben Fotos, die auf seinem Schoß lagen. Drei Fotos hatten sie hierhergeführt: der Okapi-See, die Missionskirche und das überflutete Dorf. Drei weitere Fotos markierten den Weg zum letzten Bild, das mit dem von Säulen flankierten Riss in der Felswand, möglicherweise der Zugang zu Mfupa Ufalme, dem Königreich der Knochen.
Wie sollen wir dorthin kommen?
Er fächerte die nächsten drei Fotos auf, drei weitere Brotkrumen. Wäre es vielleicht möglich, diesen Hinweis hier zu übergehen und einfach weiterzufahren? Er betrachtete das nächste Bild. Es zeigte einen Dolch, der im Stamm einer Palme steckte. Faraji hatte es sich bereits angesehen, ohne dass ihm eine Idee gekommen wäre. Wenn es eine tiefere Bedeutung hatte, dann hatten die Fluten sie verschluckt. Die anderen beiden Fotos boten auch keine Anhaltspunkte. Auf dem einen stand Sheppard vor zwei mannsgroßen, aneinandergelegten Steinplatten, zwischen denen ein Feuer brannte. Auf dem anderen füllte er am Zusammenfluss zweier Gewässer eine Trinkflasche. Die Zeichnungen auf der Rückseite halfen auch nicht weiter: eine gekritzelte Kompassrose und eine Ansammlung von Strichmännchen, die mit langen Speeren bewaffnet waren.
Gray fragte sich, ob das vielleicht Pygmäen waren. Deren Stämme lebten noch immer im Ituri-Wald, wenngleich ihre Bevölkerungszahl im Vergleich zu Sheppards Zeiten ebenso stark geschrumpft war wie ihr Siedlungsgebiet. Doch selbst wenn Gray richtiglag mit seiner Vermutung, half ihnen das nicht weiter. Es war unklar, wie es weitergehen sollte.
Er zoomte die Landkarte und betrachtete den bisher zurückgelegten Weg. Zwei weitere rote Sterne markierten den Okapi-See und die Missionskirche. Ihm fiel auf, dass die drei Sterne fast exakt auf einer Geraden lagen, so als habe Sheppard sein Ziel in Luftlinie angesteuert.
Gray runzelte die Stirn. In Anbetracht des schwierigen Geländes erschien das unwahrscheinlich. Andererseits hatte Sheppard die Brotkrumen ausgelegt und die Fotos nach seiner Rückkehr bei den Kuba zurückgelassen. Hatte der Reverend vielleicht gar nicht seinen eigenen Weg nachgezeichnet, sondern zukünftigen Forschern Umwege ersparen wollen?
Er schloss die Augen und versetzte sich in William Sheppards Lage. Der Mann war ein ausgezeichneter Kartograf und Entdecker gewesen. Sogar ein See war nach ihm benannt. Von Anfang an hatten sie angenommen, Sheppard habe die Hinweise für den Fall hinterlassen, dass der Kongo durch eine Gefahr bedroht werden könnte, die in Verbindung stand mit Prester Johns Königreich der Knochen. Der Reverend hatte bestimmt nicht gewollt, dass die Forscher der Zukunft im Notfall planlos umherirrten.
Das war bestimmt nicht seine Absicht.
Gray öffnete die Augen. »Er hätte eine gerade Linie zum vergessenen Königreich gezogen.«
Benjie hatte ihn gehört. »Wovon reden Sie?«
Gray schüttelte den Kopf. Er wollte seine Vermutung weiter erhärten. »Faraji, kommst du mal auf den Rücksitz?«
Der Junge kletterte nach hinten, wobei er Kowalski beinahe gegen den Kopf getreten hätte. Der Hüne hatte sich eine neue Zigarre angesteckt und pustete Rauchwolken gegen das Seitenfester, das einen Spaltbreit geöffnet war. Aus dem hochgezogenen Auspuffrohr drang Dieselgestank in die Kabine.
Faraji wedelte mit der Hand, offenbar froh darüber, dem Gestank vorerst entronnen zu sein. Seine Augen funkelten vor Neugier.
Gray hielt das Tablet hoch. »Kannst du auf den Ort zeigen, den Sheppard besucht hat, als er zum ersten Mal Bekanntschaft mit deinem Volk gemacht hat?«
»Ja. Ist einfach. Ich komme aus Dorf. König jetzt ist gleich wie König aus Sheppards Zeit.«
Was bedeutete, dass nur die Herrscher gewechselt hatten, während das Dorf sich noch immer an Ort und Stelle befand.
Der Kuba-Kasten mit Sheppards Hinweisen war in Farajis Heimatdorf verwahrt worden. Das musste der Startpunkt dieser Reise sein.
Faraji rutschte herüber und betrachtete die Landkarte. Mit dem Finger fuhr er verschiedenen Flüssen nach, dann tippte er auf eine Stelle. Voller Stolz sagte er: »Da. Dort ich lebe.«
Gray markierte die Position mit einem roten Stern und seufzte erleichtert. Die Markierung lag auf der Verbindungslinie der drei anderen Orte.
Jetzt sah es auch Benjie. »Die liegen alle auf einer Geraden.«
Und wenn es sich tatsächlich um einen Pfeil handelte …
Gray verlängerte die Linie mit einer gestrichelten Geraden in östliche Richtung. Die ersten drei Hinweise hatten sie in überschwemmtes Gebiet und bis zu diesem überfluteten Tal geführt. Anschließend stieg das Gelände bis zum Hochland am Ostrand des Ituri-Waldes an.
Benjie beugte sich zum Tablet vor. »Sollen wir dorthin fahren? Ins Gebirge?«
»Hoffen wir das mal.«
Benjie lehnte sich seufzend zurück. »Das ist schwieriges Gelände. Auf der topografischen Karte sieht es aus, als hätte ein zorniger Gott mit dem Hammer alles kurz und klein geschlagen. Selbst wenn Sie recht haben sollten, würden wir Monate brauchen für die Suche, wenn nicht länger.«
»Vielleicht ja nicht«, sagte Gray.
Er fischte das Satellitentelefon aus dem Rucksack. Zu Beginn der Reise hatte er es ausgeschaltet, da er fürchtete, man könnte sie orten. Mit dem Überfall auf das UN -Lager und die Universität hatte sich der Gegner als erfinderisch erwiesen. Um diese Aktionen durchführen zu können, musste er in der Gegend eine Menge Leute geschmiert haben.
Kowalski stieß eine qualmende Rauchwolke aus. »Was haben Sie vor, Pierce?«
»Es könnte sich als Fehler erweisen.«
Mit dem Anruf ging er ein Risiko ein, doch es war notwendig. Auf jeden Fall wollte er sich kurzfassen. Das Telefon verschlüsselte zwar die Verbindung, doch das Signal konnte angepeilt werden. Nach kurzem Abwägen gab er die Nummer der Sigma-Zentrale ein.
Die Verbindung wurde fast augenblicklich hergestellt. »Commander Pierce«, meldete sich Painter. »Wie ist die Lage?«
Gray setzte ihn mit knappen Worten ins Bild.
Dann informierte ihn Painter: »Die Lage in Kisangani verschlechtert sich stündlich. Lisa meldet Hunderte neue Fälle. Viele sind bereits gestorben. Immer mehr Kranke kommen in die Stadt. Panik, Plünderungen und Chaos breiten sich aus. Außerdem wird berichtet, umliegende Dörfer seien von Wildtieren überrannt worden – diese Informationen wurden allerdings noch nicht bestätigt.«
Gray blickte Benjie an. »Diese Tiere sind möglicherweise nicht bloß wild .« Er berichtete von ihren Befürchtungen hinsichtlich des Virus. »Wenn wir mit Dr. Whitaker sprechen könnten …«
»Das wird so bald nicht möglich sein. Tucker hat sich noch nicht gemeldet. Sollten im Dschungel Antworten zu finden sein, brauchen wir sie so schnell wie möglich.«
»Deshalb habe ich die Funkstille gebrochen. Ich benötige Unterstützung.« Er schilderte ihr Dilemma und berichtete von seiner Idee, Sheppards nächsten Hinweis zu übergehen und das Ziel direkt anzusteuern. Dann sandte er Painter die markierte Karte und das letzte Foto des Reverends. »Die Felswand. Die schroffe Silhouette, die sich vor dem Himmel abzeichnet. Solange wir den ganzen Kongo in Betracht gezogen haben, war das nicht signifikant genug. Aber wir haben die Suche eingeengt …«
»Entlang der Linie, die ins Gebirge führt«, sagte Painter, der sogleich begriffen hatte, worauf Gray hinauswollte.
»Genau. Mit Satellitenkarten könnte man die Felswand vielleicht lokalisieren oder zumindest bestimmte Gebiete ausschließen.«
»Wir können es versuchen. Ich setze Kat darauf an. Aber ein detaillierter Scan dürfte ein paar Stunden dauern.«
»Verstanden. Bis dahin setzen wir den Weg fort wie geplant. Ich schalte jetzt ab und melde mich wieder, wenn wir am Ziel sind.«
»In Ordnung.«
Gray unterbrach die Verbindung. Er nahm den Akku heraus und verstaute ihn zusammen mit dem Telefon im Rucksack.
Kowalski blickte sich stirnrunzelnd zu ihm um. »Dann fahren wir also blind weiter.«
»Immer noch besser, als Däumchen zu drehen.«
Kowalski schaute wieder nach vorn und gab Gas. »Da bin ich mir nicht so sicher.«
Benjie zupfte auf dem Rücksitz an seinem Ohr und betrachtete die Geländekarte. Das Tablet balancierte er auf den Knien. Immer wieder zoomte er die Karte. Mit der anderen Hand malträtierte er sein Ohrläppchen. Ganz aufs Tablet konzentriert dauerte es eine Weile, bis er sich dessen bewusst wurde und die Hand sinken ließ.
Das Ohr tat ihm weh.
Das habe ich seit Unizeiten nicht mehr gemacht .
Er leckte sich die Lippen. Das Zupfen am Ohr war bei ihm zwanghaft. Es gehörte zum Repertoire seines Autismus und war vermutlich vom Stress ausgelöst worden. Und durch die Konzentration auf die Karte. Während des Studiums hatte er sich häufig am Ohr verletzt, wenn er intensiv lernte, insbesondere dann, wenn eine schwere Prüfung bevorstand.
Er schaute auf die vorbeiziehende Sumpflandschaft hinaus.
Also wenn das kein Stress ist.
Um nicht unnötig Akkukapazität zu verschwenden, schaltete er das Tablet aus. Neue Einsichten hatte er keine gewonnen. Andererseits hatten sie noch jede Menge Zeit, um sich mit diesem Problem zu befassen. Das Hochland würden sie vermutlich erst in den Morgenstunden erreichen.
Er lehnte sich zurück. Eigentlich hätte er schlafen sollen, doch dazu würde es nicht kommen. Stattdessen lauschte er aufs Grollen des Motors und das Prasseln des Regens. In der Ferne donnerte es. Er ging mit den Schaukelbewegungen des Geländefahrzeugs mit, das mit seinen riesigen Reifen das Wasser aufwühlte.
Wann lassen wir den Sumpf endlich hinter uns?
Durch sein Kartenstudium kannte er das Terrain. Eigentlich hätten sie längst auf dem Trockenen sein sollen. Wie aufs Stichwort machte er im Wasser auf einmal Steine aus. Gerade eben hatte er noch keine gesehen. Die Granitbuckel deuteten vielleicht darauf hin, dass das Gelände anstieg. Um sich von seinen Ängsten abzulenken, begann er die Steine zu zählen.
Vierzehn links, etwa acht auf der anderen Seite.
Er suchte weiter – dann stieg einer auf einmal empor und flappte mit den Ohren.
Das waren keine Steine.
Er spannte sich an. »Leute! Wir müssen aufpassen.«
Gray, der sich vorgebeugt und mit Kowalski unterhalten hatte, wandte den Kopf. »Was ist los?«
»Da draußen ist eine Flusspferdherde.«
Kowalski zog die Brauen zusammen. »Ach ja?«
Benjie zeigte nach vorn. »Diese grauen Buckel sind Flusspferde. Unter Wasser sind womöglich noch mehr.«
Wie aufs Stichwort tauchten weitere Buckel auf. Die Flusspferde schnaubten und stießen Wasserfontänen aus.
So viele …
»Können wir sie umfahren?«, fragte Gray.
Kowalski kurbelte am Steuer. »Ich kann’s versuchen, aber das Ding ist kein Schnellboot.«
Das Fahrzeug schwenkte im Schneckentempo zur Seite. Überall waren Flusspferde. Inzwischen hatten sie den Eindringling bemerkt und kamen näher. Ein paar tauchten ab, vermutlich, weil sie unter Wasser schneller vorankamen. An Land wirkten Flusspferde langsam und schwerfällig, doch im Wasser waren sie gefährliche Killer.
Gray wandte sich an Benjie. »Könnte es sein, dass auch sie sich verändert haben, so wie die Schakale?«
»Das glaube ich nicht. Die genetische Veränderung muss nach der Infektion des Tieres im Uterus stattfinden. Das heißt, die genetisch veränderten Exemplare müssten inzwischen ausgewachsen sein.« Er schüttelte den Kopf. »Die Trächtigkeitsdauer eines Flusspferds beträgt mehr als acht Monate. Und die Jungen wachsen nur sehr langsam.«
»Also kommt das zeitlich nicht hin.«
Benjie nickte. »Die Zeit seit Verbreitung des Virus reicht dafür nicht aus. So schnell können sich die Flusspferde nicht verändert haben.«
Gray blickte hinter sich. »Was ist mit den genetisch veränderten Schakalen?«
Um seiner Panik Herr zu werden, nahm Benjie bei seinem Expertenwissen Zuflucht. »Deren Trächtigkeitsdauer beträgt nur zwei Monate. Nach acht Monaten sind sie ausgewachsen. Außerdem ist ihr Verbreitungsgebiet groß. Normalerweise bewohnen sie Grasland und Savannen. Aber nicht immer. Das Rudel, dem wir begegnet sind, könnte sich weit entfernt haben von dem Ort, an dem das Virus schon wer weiß wie lange schlummert. Aber Flusspferde … die verlassen ihr Revier nicht.«
Gray hatte verstanden. »Dann sind die Tiere also genetisch unverändert.«
»Aber sie können trotzdem infiziert sein. Das Virus könnte ihre Aggressivität steigern. Paviane sind meistens eher ängstlich. Flusspferde sind von Natur aus aggressiv.«
»Na großartig«, meinte Kowalski. »Dann haben wir’s also mit superbösen Flusspferden zu tun. Vielleicht sollten wir …«
Ein Wasserschwall schwappte gegen die Windschutzscheibe. Ein großer Bulle bäumte sich hoch, riss das Maul auf und entblößte seine halbmeterlangen Hauer. Er rammte sie ins Glas, auf dem sich ein Spinnennetz von Rissen ausbreitete. Das ganze Fahrzeug erbebte. Als der Bulle zurücksank, riss er die Windschutzscheibe mit sich.
Benjie blickte umher.
Aus allen Richtungen näherten sich Flusspferde, entschlossen, den Eindringling abzuwehren.
Kowalski nahm die Waffe von der Schulter. »Kennen Sie das Spiel Hungry Hungry Hippos ? Jetzt geht’s los.«
Gray riss Faraji vom Vordersitz und schob ihn Benjie entgegen. »Klettern Sie beide nach hinten.«
Benjie bezweifelte, dass es dort sicherer war, doch er gehorchte.
Gray ließ beide Seitenfenster herunter. Die Öffnungen waren zu klein für ein Flusspferd, boten aber ausreichend Platz zum Feuern. Er packte beidhändig seine langläufige Pistole und blickte nach rechts und nach links. Zwischen beiden Fenstern hin und her wechselnd, feuerte er auf jeden grauen Koloss, der ihnen zu nahe kam. Die Schüsse hallten ohrenbetäubend laut in der Kabine wider.
Die Flusspferde versanken scheinbar unbeeindruckt im Wasser.
Kowalski fuhr weiter, die eine Hand am Steuer, mit der anderen seine Spezialwaffe abfeuernd. Als er auf Automatikfeuer umschaltete, steigerte sich das Pfeifen zu einem Sirren. Silbrige Geschosse blitzten im Scheinwerferkegel auf. Messerscharfe Scheiben gruben sich in Rückenbuckel oder schlitzten Ohren auf.
Ihre Gegenwehr schien die Herde aber nur weiter zu reizen.
Als an der rechten Seite ein weiterer Bulle aus dem Wasser schoss, schnappte Benjie nach Luft. Das Tier schlug die Hauer in einen der Reifen. Das ATV schwankte, als das Flusspferd es unter Wasser zu ziehen versuchte. Benjie und Faraji wurden nach vorn geschleudert. Als der Bulle sich löste, riss der Reifengummi.
Das Fahrzeug richtete sich wieder auf.
Der zerfetzte Reifen rührte das Wasser schaumig. Da er jetzt mehr Widerstand bot, drehte sich das ATV um die eigene Achse.
Kowalski versuchte gegenzusteuern – doch er reagierte zu langsam.
Ein weiteres Flusspferd rammte das Fahrzeug von der Seite. Die Drehbewegung wurde abrupt gestoppt, als es gegen andere Tiere stieß. Gray feuerte blindlings, um weitere Angriffe zu verhindern. Stattdessen wurden immer mehr Tiere angelockt.
Benjie kam sich allmählich vor wie eine Flipperkugel. Ihm dröhnte der Schädel, überall hatte er Prellungen. Trotzdem kletterte er zu Gray auf den Rücksitz.
»Aufhören!«, rief er.
Gray ließ die Waffe nicht sinken. »Was? Warum?«
Benjie zeigte zum linken Hinterrad. »Bringen Sie sie dazu, auch noch diesen Reifen zu zerfetzen.«
Gray stand die Verwirrung ins Gesicht geschrieben.
»Um den Ausfall des Reifens an der anderen Seite zu kompensieren. Gemeinsam würden sie uns schneller machen.«
Gray überlegte kurz, dann stieg er ins Heck. »Aus dem Weg!«, befahl er.
Benjie und Faraji kletterten wieder nach vorn.
Gray drückte mit der Schulter die Heckklappe auf und lehnte sich nach draußen. Sich an einen Haltegriff klammernd, zielte er auf den großen Reifen. Aus nächster Nähe feuerte er auf einen kräftigen Bullen, weit massiger als die anderen, vielleicht der Anführer der Herde. Das Tier tauchte ab, als täte es den Angriff mit einem Achselzucken ab.
Gray reagierte frustriert.
Dann brodelte auf einmal das Wasser, und das riesige Maul des Bullen tauchte auf. Er rammte den Wagen und bekam den Reifen und einen Teil der Seitenwand zu fassen. Gray wurde durch die offene Heckklappe nach draußen geschleudert. Der Bulle krachte wieder in den Sumpf und zog das Fahrzeug mit sich. Wasser strömte in die Kabine.
Benjie versuchte, gegen die Strömung zum Heck zu krabbeln.
Gray tauchte auf und spuckte Wasser.
»Hier!«, rief Benjie und streckte den Arm aus.
Gray stieß sich ab und ergriff Benjies Unterarm. Benjie packte sein Handgelenk und warf sich nach hinten, wobei er sein Körpergewicht als Hebel einsetzte.
Es reichte nicht, die Strömung war zu stark.
Hinter dem strampelnden Gray tauchte ein weiteres Flusspferd auf und näherte sich ihm mit erschreckender Geschwindigkeit, eine Bugwelle vor sich herschiebend. Benjie hielt Gray immer noch fest.
Auf einmal wurde er von hinten gepackt.
Es war Faraji. Der Junge zog gemeinsam mit Benjie.
Mit vereinten Kräften zerrten sie Gray in den Kofferraum und zogen die Heckklappe zu. Endlich ließ der andere Bulle das Rad los. Das Fahrzeug tauchte auf, alle wurden umhergeschleudert.
Benjie drückte sich hoch und sah, dass das beschädigte Rad sich im Wasser drehte. Da die beiden zerfetzten Reifen mehr Widerstand boten, kamen sie schneller voran.
Gray nickte Benjie zu. »Gut gemacht.«
Der Student nahm das Kompliment an, und Gray kletterte nach vorn. Irgendwie war es ihm gelungen, die Pistole festzuhalten, allerdings war sie jetzt bestimmt unbrauchbar.
Kowalski musterte finster den regengepeitschten Sumpf.
Sie kamen immer wieder an Flusspferden vorbei, doch sei es, dass das laute Plattern der Reifen sie abschreckte oder dass sie jetzt schneller waren, jedenfalls hielten die Tiere sich zurück. Hinter ihnen schloss sich die Herde wieder zusammen, um sie an der Umkehr zu hindern, dann verschwand sie in der Dunkelheit.
Nass bis auf die Haut saß Benjie in zentimeterhohem Wasser.
Seine Erleichterung hätte größer nicht sein können.
Das ATV setzte seinen schäumenden Weg unbehelligt fort. Irgendwann bekamen die Reifen wieder Kontakt mit dem schlammigen Boden. Mühsam arbeitete sich das ATV auf zwei intakten und zwei zerfledderten Reifen durchs Schilf.
Trotzdem fuhren sie noch ein gutes Stück weiter, bevor Gray Kowalski anhalten ließ. Er musterte die Gruppe.
»Wir müssen die Reifen wechseln. Unter dem Heck sind zwei Ersatzreifen befestigt, und wir haben einen Luftkompressor dabei, um sie zu füllen. Aber vergessen Sie nicht, mehr Ersatzreifen haben wir nicht.«
»Dann sollte ich wohl besser auf herumliegende Nägel aufpassen«, bemerkte Kowalski mürrisch.
Gray beachtete ihn nicht. »Wir sollten auch den Tank aus den Reservekanistern auffüllen, solange wir Gelegenheit dazu haben. Vor uns liegt noch ein weiter Weg.«
Benjie vergegenwärtigte sich die blaue Linie auf der Geländekarte. Er starrte in den dunklen Wald, während aus den grollenden Wolken Ströme von Regen niedergingen.
Wohin wird sie uns führen?