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25. April, 4:11 CAT
Provinz Ituri, Demokratische Republik Kongo

Gray steuerte das ATV durch ein schwieriges Terrain mit flechtenbewachsenen Steinen und bemoosten Felsen. Die heftig schwankenden Scheinwerfer bohrten sich in die Dunkelheit unter dem dichten Laubdach. Die großen Reifen wühlten sich durchs Gelände und überwanden Hindernisse so mühelos wie ein randalierender Monstertruck. Die Kabine neigte sich zu einer Seite, dann kippte sie zur anderen, sodass die Insassen umhergeschleudert wurden.

Benjie und Faraji saßen hinten. Obwohl sie angeschnallt waren, stützten sie sich mit Armen und Beinen ab wie zwei Totenkopfäffchen auf einem windgepeitschten Ast.

Kowalski schnarchte auf dem Beifahrersitz mit dem grollenden Motor um die Wette. Sein Kopf ruckte hin und her, doch er wurde nicht wach, Beleg dafür, dass es in seinem Kopf nicht viel zum Durchrütteln gab.

Gray hatte das Steuer vor zwei Stunden übernommen, als der Regen aufgehört hatte. Allerdings war alles noch nass und tropfte. In der Hoffnung, dass diese scheinbar ewig währende Nacht irgendwann enden würde, hielt er am Himmel Ausschau nach einem Lichtschimmer.

Leider ragten weiter voraus bewaldete Berge, Felswände und Vulkankegel auf. Einige der Gipfel erreichten eine Höhe von über viertausend Metern. Das Terrain stieg vom afrikanischen Tiefland an der Westseite des Kontinents zu den Hochebenen und Bergzügen des Ostens stetig an. Voneinander getrennt wurden die Regionen durch den Ostafrikanischen Graben. Er erstreckte sich über eine Länge von sechstausend Kilometern und war in kleinere Abschnitte unterteilt. Der Geländekarte zufolge lag vor ihnen der Albertine-Graben, der unwirtlichste Teil von allen.

Die blaue Linie, die Gray in die Karte eingezeichnet hatte, führte geradewegs in die zerklüftete Landschaft hinein, wo die somalische tektonische Platte hochgedrückt wurde und eine undurchdringliche Barriere aus schroffen Felsformationen und zerklüfteten Bergen bildete. Gray hatte gehofft, der Wald werde sich lichten, doch stattdessen wurde er immer dichter, so als versuchte der Dschungel, das Hochland mit der schieren Masse der Vegetation zurückzudrängen.

Palmen und Bleistiftzedern erreichten gewaltige Höhen. Dicke Lianen verbanden sie miteinander, während Bambusgehölze eigene Barrieren bildeten, die umfahren werden mussten. Mit all dem Moos, den Schlinggewächsen und dem Riesenfarn wirkte die Szenerie prähistorisch wie ein Überrest des Jura.

Der Dschungel versuchte, durch das offene Vorderfenster in die Kabine einzudringen. Es roch nach süßlichem Moder. Blätter peitschten die Karosserie. Mücken und schwarze Fliegen plagten sie mit Stichen und Bissen. Nur wenn sie langsamer fuhren, brachten die Dieselabgase aus dem Auspuffschnorchel ein wenig Erleichterung, da sie die Insektenschwärme vorübergehend verscheuchten. Sobald es wieder schneller voranging, kehrten sie gleich wieder zurück.

Das alles war lästig, aber kaum bedrohlich. Gray hielt im Dschungel ständig Ausschau nach größeren Gefahren. Kurz zuvor waren Wildschweine mit geschwungenen Hauern um sie herumgetrampelt wie um einen Felsbrocken im Fluss. Dann waren sie jedoch weitergezogen, ohne sie zu behelligen.

Gray ertappte sich dabei, dass er immer wieder die Luft anhielt. Seine Rückenmuskeln waren verspannt. Ohne die Windschutzscheibe kam er sich ungeschützt vor. Da es seit Stunden keinen Zwischenfall gegeben hatte, rechnete er jeden Moment mit einem Angriff. Als das ATV die nächste steile Anhöhe erklomm, blickte er sich nach allen Seiten um.

Oben angelangt, wurde das Terrain flacher. Er folgte einem angeschwollenen Flusslauf, dessen Ufer durch die Überschwemmung von Unterholz und Gebüsch befreit worden war. Dass er schneller fahren konnte, stimmte ihn hoffnungsvoll.

Der Dschungel aber wirkte nach wie vor bedrohlich. Der Ituri-Regenwald bedeckte eine Fläche von fünfundsechzigtausend Quadratkilometern. Ein Fünftel davon stand unter Naturschutz, der Rest war ungezähmte Wildnis. Das galt insbesondere für die abgelegene Ostecke, wo das Gelände besonders unwegsam und dicht bewaldet war.

Hier konnte sich alles Mögliche verstecken.

Benjie beschäftigte offenbar die gleiche Sorge, denn er ließ die Armlehnen los, die er umklammert hatte, und beugte sich vor. »Ich habe mir Gedanken über den Ursprung des Virus gemacht«, sagte er.

Gray wandte den Kopf. »Was ist damit?«

»Wenn er sich tatsächlich vor uns befindet, muss das Virus lange dort geschlummert haben, vielleicht sogar schon seit Jahrtausenden.«

»Auf jeden Fall seit den Zeiten von Prester John und dem vergessenen Königreich«, pflichtete Gray ihm bei.

»Genau. Aber was hat das Virus jetzt aktiviert? Nach so langer Zeit? Es muss einen Auslöser gegeben haben. Das bereitet mir Kopfzerbrechen.«

Gray musterte den Biologen stirnrunzelnd. »Ich dachte, das Virus sei durch die Überschwemmung verbreitet worden?«

»Der schwere Monsunregen hat die Verbreitung des Virus zweifellos befördert. Aber ich glaube, dass es bereits vor Einsetzen der Regenfälle freigesetzt wurde. Schon vor Monaten. Wahrscheinlich früher. Dafür gibt es mehrere Hinweise.«

»Wie meinen Sie das?«

»Ich muss immer wieder an die Schakale denken. Der Regen und die Überschwemmung haben sie aus ihrem angestammten Revier vertrieben. Aber woher das Rudel auch gekommen sein mag, es hat mindestens ein Jahr gedauert, diese biologischen Veränderungen hervorzubringen.«

Gray ließ sich das durch den Kopf gehen. Benjie zufolge wurden Schakale nach einem Jahr geschlechtsreif.

Benjie fuhr fort: »Aber wenn die Schakale schon immer in der Reichweite des Virus lebten, würde man nach vielen Generationen der Exposition eigentlich größere Abweichungen von ihrem normalen Aussehen erwarten, nicht nur eine Zunahme der Größe.«

»Dann glauben Sie also, dass die Tiere erst im Lauf des vergangenen Jahres mit dem Virus in Kontakt kamen, was zu kleineren Veränderungen führte. Dann haben die Überschwemmungen sie vertrieben.«

Benjie nickte. »Ich könnte mir vorstellen, dass die Ausbreitung des Virus abrupt geschah, zunächst aber nur ein kleines Gebiet und eine begrenzte Zahl heimischer Tierarten betraf. Anschließend verbreitete es sich immer weiter und wurde von einer Spezies auf die andere übertragen.«

»Und dann kam der Regen.«

Benjie nickte. »Die Überschwemmungen führten zu einer grundlegenden Veränderung der Umwelt und könnten eine Massenflucht ausgelöst haben, die dazu führte, dass das Virus auf den Menschen übergriff.«

»Was, wie wir wissen, erst kürzlich geschehen ist. Aber Sie glauben, das Virus habe schon länger vor sich hingeköchelt.«

»Allerdings. Und das bereitet mir Sorge.«

»Warum?«

»Bislang haben wir uns darauf konzentriert herauszufinden, woher das Virus ursprünglich stammt, aber ich glaube, es ist ebenso wichtig, den Auslöser für die plötzliche Verbreitung nach mehrtausendjähriger Inaktivität zu finden.«

Da hatte Benjie wohl recht. »Haben Sie sich darüber schon Gedanken gemacht?«, fragte Gray.

»Ja, schon …«

Gray spürte, dass der Biologe zögerte. Der junge Mann war begabt und verstand sich auf das Lösen von Rätseln vielleicht ebenso gut wie Gray. In dieser Hinsicht waren sie Seelenverwandte.

»Was denken Sie?«, setzte Gray nach.

Benjie blickte in den Dschungel. »Im Moment sieht es so aus, als wären wir das Hauptziel des Virus. Es macht uns benommen und teilnahmslos, während es die Umwelt gegen uns aufrüstet. Aber vielleicht gestehe ich dem Virus auch zu viel Intelligenz und Voraussicht zu. Vielleicht ist das alles nur dem Eindringen des Menschen in die Biosphäre des Virus geschuldet. Ausgelöst durch Straßenbau, Bebauung, Entwaldung.«

Gray zeigte nach vorn. »Auf der Karte wird eine große Mine – Kilo-Moto – in der Nordostecke der DR Kongo angezeigt, unmittelbar an der Grenze. Von hier aus sind es nur ein paar hundert Meilen bis dorthin. Ich habe gelesen, sie dehne sich langsam in den Dschungel hinein aus.«

Die Goldmine hatte noch aus einem anderen Grund Grays Interesse geweckt. Das Unternehmen war gegründet worden, nachdem man 1903 entlang des Ituri Nuggets gefunden hatte. Da sie nach einem mythischen Königreich suchten, das die Legende mit König Salomos berühmter Goldmine verknüpfte, hielt er es für nicht ausgeschlossen, dass es in der Vergangenheit tatsächlich eine Goldmine in dieser Gegend gegeben hatte.

Benjie blickte in die Richtung, in die Gray zeigte. »Vielleicht wurde bei der Vergrößerung die natürliche Umgebung des Virus gestört, sodass es sich ausbreiten konnte. Aber ich weiß nicht …« Er rieb sich am pfirsichfarbenen Kinnbart. »Irgendwie überzeugt mich das nicht. Ich glaube, wir übersehen einen wichtigen Auslöser. Irgendein dramatisches Ereignis, das sich augenblicklich auf die Umwelt ausgewirkt und das Virus freigesetzt hat.«

»Zum Beispiel?«

Benjie zuckte mit den Schultern. »Keine Ahnung. Aber wenn es auf diese Frage eine Antwort gibt, liegt sie irgendwo da vorn.«

Gray konzentrierte sich wieder aufs Fahren.

Dann sollten wir uns besser beeilen.

5:02

Vierzig Minuten später rieb Gray sich den Schweiß aus den Augen. Der Fluss, dem sie folgten, hatte sich erhitzt und zu dampfen begonnen. Dadurch hatte sich die Luftfeuchtigkeit erhöht. Außerdem stank es nach Schwefel.

Als der Wasserlauf endlich im Erdboden verschwand, atmete er auf. Die heiße Quelle erinnerte ihn daran, dass das ganze Grabengebiet geologisch aktiv war. Hier kam es häufig zu Erdbeben, und es gab schlafende und auch aktive Vulkane.

So froh er war, dass es nicht mehr nach Schwefel stank, registrierte er mit Unbehagen, dass der Dschungel sich alsbald wieder um sie schloss. Außerdem stieg das Terrain an.

Gray fuhr langsamer. Durch Lücken im Laubdach konnte er dann, wenn der Mond zu sehen war, die dunkle Silhouette der Berggipfel und Felsformationen erkennen, die den Himmel in zwei Hälften teilten. Er versuchte, die Entfernung zu schätzen.

Es ist bestimmt nicht mehr weit.

Gray hielt an und stieß den schnarchenden Kowalski an. Als der nicht reagierte, versetzte er ihm einen kräftigeren Stoß. Wieder keine Reaktion. Als Nächstes rammte er ihm den Ellbogen gegen die Rippen – doch Kowalski fing seine Hand mitten in der Bewegung ab.

»Wenn Sie mich noch mal schlagen«, sagte Kowalski und stieß Grays Arm weg, »dann zahle ich’s Ihnen doppelt heim.«

Gray überging die Drohung. »Nehmen Sie meinen Rucksack. Es wird Zeit, dass wir die Lage checken. Vielleicht läuft es bei Painter und Kat ja besser als bei uns.«

Kowalski zog grummelnd das Satellitentelefon aus dem Rucksack und setzte den Akku ein, dann reichte er es Gray. »Ich wette mein linkes Ei darauf, dass Sigma genauso im Dunkeln tappt wie wir.«

Gray hatte mehr Vertrauen in die Zentrale. Er wählte deren Nummer. Die Verbindung wurde augenblicklich hergestellt. Painter und Kat hatten seinen Anruf anscheinend erwartet.

»Wir haben das Hochland erreicht«, sagte Gray. »Sind Sie schon weitergekommen?«

»Darauf soll Kat antworten.«

Gray hörte auf Anhieb die Anspannung aus ihrer Stimme heraus. »Wir können keinen sicheren Treffer vermelden«, erklärte sie. »Andererseits wurden die Fotos vor mehr als hundert Jahren aufgenommen. In der Zwischenzeit hat sich die Topografie aufgrund von Erosion und Erdrutschen vermutlich verändert.«

Gray schloss frustriert die Augen.

»Jason und ich haben aber ein paar Extrapolationen angestellt«, fuhr Kat fort. »Wir haben nach den Gebieten gesucht, die der auf dem Foto abgebildeten Silhouette am nächsten kommen. Insgesamt kommen achtzehn Orte infrage. Ich schicke sie dir.«

Das Telefon am Ohr, holte Gray das Tablet hervor und rief die Geländekarte auf. Kleine blaue Rechtecke tauchten auf dem Hochland auf.

So viele

»Konntet ihr die Zahl weiter eingrenzen?«, fragte Gray.

»Wir hatten einiges zu tun«, erwiderte sie scharf.

Er konnte sich denken, woher ihre Reizbarkeit rührte. »Schon was Neues von Monk und den anderen?«

»Noch nichts«, antwortete sie kurz angebunden.

Painter meldete sich zu Wort. »Das Chaos infolge der Ausbreitung des Virus und die ineffektiven Kommandostrukturen in der DR Kongo erschweren die Zusammenarbeit. Außerdem gibt es in dem Gebiet schwere Unwetter. Wir hoffen, bald einen robusteren Einsatz organisieren zu können.«

Gray konnte Kats Gefühle nur erahnen. »Bis dahin wird Monk sicherlich durchhalten.«

»Das möchte ich ihm auch geraten haben«, sagte Kat.

Gray betrachtete die Verteilung der blauen Markierungen auf der Karte. Obwohl auch er sich Sorgen machte um seinen besten Freund, verdrängte er sie aus seinem Bewusstsein. Hier konnte er nichts für ihn tun, er musste sich um das Naheliegende kümmern.

Um nicht eine Ortung zu riskieren, unterbrach er die Verbindung. Dann fasste er für die anderen kurz den Inhalt des Gesprächs zusammen. Er reichte das Tablet herum, um ihnen das Ausmaß der vor ihnen liegenden Herausforderung klarzumachen.

Kowalski gab ihm das Tablet finster zurück. »Hilft uns nicht unbedingt weiter.«

»In der Tat.«

Kowalski entspannte sich. »Wenigstens behalte ich dann mein linkes Ei.«

Benjie blickte zum Dschungel hinaus. »Wie geht es dann weiter? Wo fangen wir mit der Suche an?«

Gray setzte das ATV wieder in Bewegung. »Wir steuern den nächstgelegenen Punkt auf der Karte an – dann suchen wir weiter.«

Benjie lehnte sich zurück. »Das könnte Wochen dauern. Reichen die Vorräte so lange?«

»Nein«, antwortete Gray.

In Ermangelung einer besseren Option mussten sie weitermachen. Er fuhr zum nächsten Kamm hinauf und setzte die Fahrt durch den Dschungel fort. Der Wald wurde immer dichter, das Terrain steiler und tückischer. Zu Fuß wären sie vermutlich schneller vorangekommen.

Gray ging davon aus, dass Benjies Einschätzung des erforderlichen Zeitaufwands eher zurückhaltend ausgefallen war. Die Reifen rutschten, gruben sich ein, rutschten erneut. Hinter dem Gefährt blieben tiefe Narben zurück. Doch in Anbetracht der Wachstumsgeschwindigkeit der Vegetation würden die Lücken vermutlich in wenigen Tagen geschlossen werden.

Dieser Gedanke entmutigte ihn noch mehr.

Während sie immer weiter in das Labyrinth aus Felsgestein und Wald rollten, dachte er an eine Geschichte, die Pater Bailey erzählt hatte. Demnach war der Leibarzt Papst Alexander III . in den Dschungel gegangen, um nach dem vergessenen Königreich von Prester John zu suchen, und ward nicht mehr gesehen.

Kein Wunder.

Gray blickte in den Rückspiegel. Er meinte erkennen zu können, wie sich die Schneise hinter ihm schloss. Vielleicht lag es an der unsteten Beleuchtung durch die schwankenden Scheinwerfer, doch es sah so aus, als schlängelten sich Ranken über die Spurrillen. Zu beiden Seiten senkte sich Farn herab. Er rieb sich die Augen und blinzelte, doch er blickte in die falsche Richtung.

»Aufpassen!«, rief Benjie.

Er sah nach vorn – dann bremste er abrupt.

Kowalski wurde gegen den Sicherheitsgurt gedrückt. »He, was soll das?«

Etwas schoss durchs offene Vorderfenster und bohrte sich zwischen Gray und Kowalski in den Sitz. Es war ein Speer. Der Schaft vibrierte.

Laut fluchend schnallte Kowalski sich los, nahm die Shuriken in die Hand und legte sie an.

Gray drückte die Mündung nach unten. »Immer mit der Ruhe.«

Im Scheinwerferkegel standen mehrere kleine Gestalten. Sie waren nur mit Lendenschurz bekleidet und bewaffnet mit Speeren sowie Pfeil und Bogen. Vermutlich waren noch weitere Jäger im Dschungel versteckt.

Er musste an die Strichmännchen auf dem zweitletzten Foto von Sheppards Sammlung denken. Darauf war ein ähnliches Szenario dargestellt.

Pygmäen.

Er hob die Hände und streckte die Arme aus dem Fenster. Er ging davon aus, dass es sich bei dem Speer um eine Warnung handelte, die sie zur Umkehr veranlassen sollte. Allerdings machte er sich Hoffnung auf mehr als eine Waffenruhe. Er war auf die Unterstützung des Stamms angewiesen. Wenn sich hier jemand auskannte, dann diese Leute, die seit Jahrtausenden in diesem Gebiet jagten.

Wie lautet die Botschaft von Sheppards Foto?

Die Unterstützung des Stamms suchen.

Im Moment schienen die Jäger abzuwarten, doch sie gaben den Weg auch nicht frei.

»Was machen wir?«, fragte Kowalski.

»Wir müssen das Patt beenden.« Gray behielt die Hände oben und blickte hinter sich. »Wir brauchen einen Botschafter.«

5:20

Benjie blieb mit Gray und Kowalski im Hintergrund. Sie standen neben dem ATV . Benjie wand sich vor Sorge. Beleuchtet von den Scheinwerfern, näherte Faraji sich der Pygmäengruppe. Der Junge hatte die Arme erhoben und zeigte seine leeren Hände vor.

Als er die Jäger erreichte, senkten diese die Speere und zielten auf seine Brust. Die Bogen wurden gespannt.

»Vielleicht war das doch keine so gute Idee«, murmelte Benjie.

Auch Gray wirkte besorgt, musste sich mit den Gegebenheiten aber abfinden. »Faraji spricht als Einziger ihre Sprache. Wir müssen herausfinden, ob sie bereit sind, uns zu helfen.«

Benjie schluckte nervös. Er hoffte, dass Faraji sich mit den Jägern würde verständigen und ihr Vertrauen gewinnen können.

Leicht würde es nicht werden.

Vor Beginn der Reise in den Kongo hatte Benjie sich auch über die Pygmäen schlaugemacht. Viele von ihnen sprachen Bantu wie Faraji, einige Stämme aber auch einen Dialekt. Vor langer Zeit waren die Pygmäen ein einheitliches Volk gewesen, bis vor dreitausend Jahren Bauern in ihr Gebiet eingedrungen waren und die Stämme voneinander getrennt und vereinzelt hatten.

Pygmäen lebten seit neunzigtausend Jahren in Zentralafrika. Niemand wusste, woher sie gekommen waren.

Auch der Grund für ihre Kleinwüchsigkeit war unbekannt. Manche glaubten, sie litten an einem Mangel an Vitamin D, da das Leben im Schatten des Waldes die Calcium-Aufnahme beeinträchtige. Andere machten dafür Proteinmangel und Mangelernährung verantwortlich. Es gab auch noch weitere Theorien. Doch was auch der Grund sein mochte, es hatte ihr Genom verändert. Die Kinder entwickelten sich zunächst in normalem Tempo, doch der letzte Wachstumsschritt in der Adoleszenz wurde unterdrückt, sodass sie dauerhaft klein blieben.

Benjie war fasziniert von ihrer genetischen Einzigartigkeit, denn es berührte seine eigene Forschung zu stressinduzierten vererbbaren Merkmalen.

Leider half ihm dieses Wissen im Moment nicht weiter.

Vor ihnen fuchtelte Faraji mit den Armen. Bruchstücke der Unterhaltung in der Bantu-Sprache drangen an sein Ohr. Ein paar Jäger sprachen Bantu offenbar flüssig. Das schien aber auch nicht zu helfen. Köpfe und Speere wurden geschüttelt.

Benjie glaubte den Grund für ihre Zurückhaltung zu kennen. Vor etwa zehn Jahren hatten Aufständische der DR Kongo einen Genozid an indigenen Pygmäenstämmen verübt. Die Operation bezeichneten sie als Effacer le tableau , der französische Ausdruck für »reinen Tisch machen«. Innerhalb eines Jahres hatten die Rebellen mehr als siebzigtausend Pygmäen abgeschlachtet.

Kein Wunder, dass sie sich von uns bedroht fühlen.

Speere wurden in Farajis Richtung gestoßen. Mit hängenden Schultern wich er stolpernd zurück.

»Sieht so aus, als kämen wir mit Diplomatie nicht weiter«, bemerkte Kowalski.

Benjie wollte nicht aufgeben. Er machte sich die verschiedenen Optionen klar, spielte sie im Kopf durch und bewertete sie anhand seines Kenntnisstands. Er hatte gelesen, die Pygmäen verfügten über eine lebendige Tradition mündlicher Überlieferung in Form von Geschichten und Liedern.

Könnte es sein, dass sie sich an die Ereignisse vor hundert Jahren erinnern?

Er wandte sich an Gray. »Zeigen Sie ihnen Sheppards Fotos. Wir wissen, dass er hier gewesen ist. Vielleicht erkennen sie ihn wieder.«

Gray überlegte kurz, dann nickte er. »Warum nicht? Einen Versuch ist es wert.«

Während Gray die Schwarz-Weiß-Fotos aus der Kabine holte, eilte Benjie zum Heck, öffnete die Klappe, holte Farajis Rucksack hervor und packte den ngedi nu ntey des Schamanen aus, den kostbaren Kuba-Kasten des Stamms. Er nahm den Deckel ab und zog die Ndop-Figur heraus, die dem Gedächtnis der Jäger vielleicht auf die Sprünge helfen würde.

Dann ging er wieder nach vorn. »Wir sollten beides mitnehmen. Vielleicht klappt es ja.«

Gray zeigte auf Kowalski. »Sie bleiben hier.«

Kowalski zuckte mit den Schultern, offenbar zufrieden damit, Wache zu schieben. Benjie vermutete allerdings, dass Gray vor allem verhindern wollte, dass der Hüne die Pygmäen mit seinem ungehobelten Auftreten verschreckte.

Gray und Benjie gingen zu Faraji hinüber. Das blieb nicht unbemerkt. Weitere Jäger traten aus der Deckung des Waldes hervor und umzingelten sie an drei Seiten.

Faraji blickte sich zu ihnen um und erschrak, als er sah, was Gray und Benjie in Händen hielten. Vielleicht fürchtete er, sie wollten die kostbaren Gegenstände als Gastgeschenke verwenden.

Benjie erklärte ihm, was sie vorhatten. »Wir möchten wissen, ob diese Leute Reverend Sheppard kennen. Wir wissen, dass er hier vorbeigekommen ist …«

Einer der Pygmäen trat vor. Er war alt, hatte graues Haar und schlaffe Haut, unter der sich dünne Muskelstränge abzeichneten. Seine Augen aber wirkten hellwach.

»Shep. Perd«, sagte er und sprach den Namen aus, als handele es sich um zwei Worte. Offenbar hatte er von dem Geistlichen schon gehört.

Benjie blickte Gray an, der daraufhin vortrat und die Fotos auffächerte. Er zeigte sie dem alten Mann, der sie finster betrachtete. Mit dem Speer schlug er sie Gray aus der Hand. Flatternd fielen sie zu Boden.

Faraji bückte sich erschrocken, um sie aufzusammeln.

Der alte Mann richtete den Speer auf Benjie und zeigte auf die Schnitzfigur, die er in Händen hielt. Benjie schluckte nervös und hielt sie hoch.

Der alte Jäger trat vor und entriss ihm die Figur. Er betrachtete sie und roch sogar daran. Mit dem Finger fuhr er vom Safarihut zum fein modellierten Gesicht hinunter, das aus silbrig gemasertem Ebenholz geschnitzt war. Schließlich reichte er es voller Ehrerbietung zurück. Er pflanzte den Speer auf den Boden und blickte sie erwartungsvoll an.

Als Faraji Gray die Fotos reichte, legte der ihm die Hand auf die Schulter. »Erzähl ihnen von der Gefahr aus dem Wald. Von unserer Suche nach Sheppard. Von der vergessenen Stadt im Dschungel.«

Faraji schwenkte den Arm. »Ich schon gesagt. Nicht das mit Reverend Sheppard. Aber sonst alles, ja.«

Gray legte frustriert die Stirn in Falten. »Wenn hier draußen irgendwo ein Heilmittel versteckt ist, müssen wir es finden.«

Benjie bemerkte, dass der alte Mann den kurzen Wortwechsel verfolgt und die Augen leicht zusammengekniffen hatte, als habe er verstanden, worum es ging. Als er den Blick wieder auf die Ndop-Figur richtete, wirkte er bekümmert, vielleicht auch enttäuscht.

Ehe Faraji nachhaken konnte, wandte der alte Jäger sich ab. Er hob den Arm und erteilte seinen Leuten mit einem durchdringenden Pfiff den Befehl zum Abzug. Mit den Eindringlingen war er anscheinend fertig.

Gray trat vor. »Warte!«

Benjie aber hatte sich geirrt. Der Mann hatte den Jägern nicht den Abzug befohlen – er hatte Verstärkung herbeigerufen.

Schattenwesen lösten sich aus dem Dunkel des Waldes, traten ins Licht der Scheinwerfer und umringten sie. Die Tiere näherten sich mit gesenktem Kopf, die stumpfen Schnauzen mit langen Tasthaaren besetzt. Die großen Ohren waren aufgerichtet und am Ende büschelig. Das zitternde Fell am kurzen, gebogenen Hals hatte Ähnlichkeit mit Stacheln. In den dunklen bernsteinfarbenen Augen spiegelte sich das Licht.

Die Tiere reichten den Jägern bis an die Schultern.

Trotz ihrer Größe erkannte Benjie die Tiere wieder.

Zumindest ahnte er, was sie einmal gewesen waren.

Um seine Angst in den Griff zu bekommen, betrachtete er sie eingehender und konzentrierte sich darauf, weitere Merkmale zu identifizieren.

Das gestreifte Fell bestätigte seine Einschätzung. Allerdings schimmerte es so stark, dass es in den Augen wehtat. Es war, als versuchten die Tiere, mit der Umgebung zu verschmelzen. Kein Wunder, dass sie das Rudel zuvor nicht bemerkt hatten. Im Dschungel waren die Tiere vom flirrenden Schatten kaum zu unterscheiden.

»Fisi ndogo «, flüsterte Faraji, der die Tiere trotz ihrer veränderten Erscheinung ebenfalls wiedererkannt hatte.

Gray blickte von Faraji zu Benjie.

»Proteles cristata«, erklärte Benjie. »Erdwölfe.«

Gray runzelte die Stirn. »Das sollen Wölfe sein?«

»Eigentlich ist die Spezies eher mit den Hyänen verwandt als mit den Wölfen«, sagte Benjie. »Aber die hier sind riesig.«

Benjie beobachtete die normalerweise zurückgezogen lebenden Tiere aufmerksam. Für gewöhnlich ernährten sie sich von Termiten und anderen Insekten. Das galt für ihre kleineren Verwandten, nicht aber für diese Hundert-Kilo-Monster. Sie bleckten Zähne, die offensichtlich nicht nur zum Verspeisen von Insekten taugten.

Das Rudel verhielt sich mucksmäuschenstill.

Der alte Mann näherte sich dem größten Tier und hielt ihm die Hand hin. Der Erdwolf stupste sie mit der Nase an, dann kam er näher und rieb sich an ihm. Dabei wedelte er mit dem dicken, buschigen Schwanz – ohne Benjie und die anderen Fremden aus den Augen zu lassen.

Der alte Mann beugte sich vor und bewegte lautlos die Lippen. Benjie musste an Tucker und Kane denken, doch er spürte, dass diese Verbindung noch intimer war und weiter zurückreichte. Das Tier senkte einmal den Kopf, dann streifte es mit der Schulter an der Wange des Pygmäen und wandte sich ab. Mit einem Satz verschwand es im Dschungel.

Der alte Jäger folgte dem Erdwolf, und alle anderen, Tiere wie Menschen, schlossen sich ihm an. Benjie und dessen Begleiter verharrten an Ort und Stelle – bis der alte Mann sich auffordernd umsah.

»Er möchte, dass wir ihn begleiten«, sagte Benjie.

Gray winkte Kowalski zu sich. »Dann machen wir das.«

Benjie wechselte kurz einen Blick mit dem Jäger. Von der Intensität seiner dunklen Augen sträubten sich ihm die Nackenhaare. In diesem Moment hatte Benjie das Gefühl, der Dschungel blicke ihn an.

Was der Wahrheit womöglich recht nahe kam.

6:04

Gray marschierte hinter den Jägern her. Trotz ihrer geringen Körpergröße legten sie ein flottes Tempo vor und folgten einem Weg, den sie kannten. Nach einer halben Stunde hatte er die Orientierung verloren.

Vor dem Aufbruch hatte Gray ihre Position vorsichtshalber auf der digitalen Landkarte markiert. Wenn er sich umblickte, war er trotzdem unsicher, ob er den Rückweg finden würde.

Benjie und Faraji – beide heftig schwitzend – folgten ihm dichtauf.

Kowalski hielt etwas Abstand zur Gruppe. Die Shuriken hatte er geschultert. Die Pygmäen hatten keine Einwände dagegen gehabt, dass sie ihre Waffen und die Rucksäcke mitnahmen. Andererseits verfügten sie über wirksamen Schutz. Die Wölfe liefen an den Flanken mit, ließen sich im Wald aber nur für kurze Momente blicken.

Trotz der Gefahr, die von den Tieren ausging, fand Gray ihre Anwesenheit auch beruhigend. Wenn die Pygmäen eine so radikal veränderte Spezies gezähmt hatten, musste es eine Verbindung zwischen ihnen und dem Ursprung des Virus geben.

Darauf hoffte er jedenfalls.

Sie marschierten weiter durch den mit Gesteinsformationen durchsetzten Wald. Einzelne Felsnadeln stießen durch das Blätterdach. Hin und wieder mussten sie große Felsbrocken überwinden. Das bisschen Himmel, das sie sahen, wurde allmählich heller. Die Sonne war noch nicht aufgegangen, doch es würde nicht mehr lange dauern.

Im Wald herrschte tiefe Stille, nicht einmal Vogelrufe oder Affengeschrei waren zu hören. Sogar das Sirren der Mücken war verstummt. Die Ruhe setzte ihm zu. Jeder Schritt kam ihm vor wie ein Übergriff. Er ertappte sich dabei, dass er die Luft anhielt, aus Angst, die Einsamkeit zu stören.

Schließlich folgten sie einem ausgetrockneten Flussbett. Zu beiden Seiten ragten hohe Felsen aus der Dschungelvegetation auf. Die glatten Kiesel führten sie zu einer mit nassem Farn bewachsenen Felswand. Erst jetzt wurde Gray bewusst, dass es sich bei dem vermeintlichen Flussbett um eine alte Straße handelte, die sich im Lauf der Jahrhunderte in einen holperigen Trampelpfad verwandelt hatte.

Er endete vor einem Riss im Felsgestein. Die kleinen Jäger hielten an und versammelten sich zwischen zwei wohlbekannten Säulen, die den Eingang einrahmten.

Mit einem Ausruf des Erstaunens stolperte Benjie weiter vor. »Wir haben es geschafft.«

Faraji schaute mürrisch drein und sprach den Namen aus wie einen Fluch. »Mfupa Ufalme.«

»Ich hoffe, das ist die Blasen an meinen Füßen auch wert«, nörgelte Kowalski.

Bevor sie näher treten konnten, stürmte ein dunkler Schatten aus dem Hohlweg hervor. Es war der riesige Erdwolf, der sich zuvor zurückgezogen hatte. Er eilte an die Seite des Stammesältesten und umkreiste ihn ein Mal, wobei er an ihm streifte. Das hatte nichts Unterwürfiges oder Kriecherisches, sondern war eher eine nüchterne Begrüßung.

Alle Augen richteten sich auf den Eingang.

Der Erdwolf war nicht allein erschienen. Ihm folgte ein zweiter älterer Wolf, der noch größer war als er. Sein graues, zotteliges Fell war dunkel gestreift, die Schnauze schneeweiß. Er tappte aus dem Schatten hervor und blieb wachsam stehen.

Als Nächstes tauchte ein hochgewachsener dunkelhäutiger Mann auf, dessen kurz geschorenes Haar ebenfalls schneeweiß war. Er stützte sich auf einen Stab aus poliertem weißem Holz. Er war Kongolese, wenngleich Gray vermutete, dass er keine Staatsangehörigkeit besaß und dass weder Regierungen noch Grenzen ihm etwas bedeuteten. Trotz seines hohen Alters musterte er die Jäger und die Neuankömmlinge mit klarem Blick.

Auf den Stab gestützt, trat er am Erdwolf vorbei. Er trug Sandalen und ein einfaches braunes Gewand mit schwarzen Stickereien in Form von Rauten und Speeren. Gray kannte das Muster. Faraji bezeichnete es als mbul bwiin , und es war den Herrschern der Kuba vorbehalten. Auf der Brust des Mannes war ein doppelter, in sich zusammengefalteter Knoten abgebildet, der den Blick auf sich zog. Die Kurven und Faltungen schienen sich zu bewegen, als der Mann aus dem Schatten ins Licht des anbrechenden Tages trat.

Auch dieses Symbol kannte Gray, Faraji hatte sie darauf aufmerksam gemacht. Das war ein imbol und kündete von der Anwesenheit eines Königs. Der goldene Kopfreif des Mannes war ein weiterer Beleg für seine Stellung.

Die Jäger erwiesen ihm ihren Respekt und neigten das Haupt, jedoch ohne Unterwürfigkeit.

Der König hob grüßend den Arm und sagte mit fester Stimme: »Wenn Ihr nach Antworten sucht, folgt mir.« Erstaunlicherweise sprach er Englisch mit schwachem britischem Akzent. Er wandte sich ab, jedoch nicht, ohne vorher eine Warnung auszusprechen. »Dies solltet Ihr wissen. Es könnte sein, dass Ihr abgewiesen werdet. Sie ist zornig – und unerbittlich.«

Er trat durch den Eingang.

Gray blickte seine Begleiter an. Er hatte zahllose Fragen, doch eine stand im Vordergrund.

Von wem zum Teufel redet er da?