»Hat der Scheißbaum Ihren Freund ertränkt?«, fragte Benjie.
Das war eine durchaus vernünftige Frage. Kowalski war seit über zehn Minuten verschwunden. Er hatte eine große Lunge, aber so groß war sie auch wieder nicht. Gray stellte sich auf die Zehenspitzen und versuchte, über die wogenden bleichen Wurzeln und die zitternden Dornen und Stacheln hinwegzuspähen.
Das hohle Innere des Mutterbaums leuchtete silbrig. Das Wasser des Tümpels war spiegelglatt. Es war nicht zu erkennen, ob Kowalski bereits wieder aufgetaucht war. Die seitlichen Ränder des Tümpels konnte Gray nicht einsehen, da sie von der Rundung des Baumstamms verdeckt wurden.
Besorgt blickte er Tyende an. Der Kuba hatte sich auf seinen Stab gestützt. Faraji stand neben ihm. Die Augenlider hatte der Stammesälteste halb gesenkt. Offenbar hatten die morgendlichen Anstrengungen bei dem Mann, der behauptete, über hundert Jahre alt zu sein, ihren Tribut gefordert.
Trotzdem reagierte Tyende. »Wenn Sie ihn erwählt, wird Sie sich seiner annehmen.«
Wie aufs Stichwort schoss auf einmal eine funkelnde Fontäne aus dem leuchtenden Wasser. Kowalski wurde von einem Wurzelgewirr in die Luft geschleudert. Er wand sich hilflos, spuckte hustend Wasser. Es floss ihm sogar aus der Nase.
Die Wurzeln beförderten ihn zum Rand des Tümpels und setzten ihn am Eingang ab. Kowalski landete auf allen vieren und spuckte abermals Wasser.
»Sie ist mit ihm fertig«, sagte Tyende.
Sieht ganz so aus …
Kowalski setzte sich auf die Hacken, schnappte nach Luft und fluchte lautstark. Dann richtete er sich auf. »Das mache ich nie wieder.«
»Alles okay bei Ihnen?«, rief Gray ihm zu.
»Wie fühlen Sie sich?«, fragte Benjie.
Kowalski schaute finster drein. »Wie eine verdammte ertränkte Katze. Wie soll ich mich schon fühlen?« Er stöhnte und spuckte aus. »Das Zeug schmeckt wie verschimmeltes Frostschutzmittel. Und es brennt höllisch, wo ich mich geschnitten habe.«
Er setzte sich stolpernd in Bewegung.
Gray hob den Arm und zeigte zum Tümpel. »Ihre Trinkflasche! Wir brauchen eine Probe von dem Wasser!«
Der Hüne seufzte schwer, offenbar nicht glücklich bei der Vorstellung, zum Tümpel zurückkehren zu müssen. Trotzdem drehte er sich um und löste die Flasche vom Gürtel.
Leider spielte jemand bei seinem Vorhaben nicht mit.
Als Kowalski wieder ins Innere des Baums treten wollte, richteten sich die Wurzeln auf wie gereizte Kobras und versperrten ihm mit ihren spitzen Dornen den Durchgang.
Kowalski hielt inne. »Also, das wird nicht passieren.«
»Sie müssen es wenigstens versuchen!«, rief Gray.
Kowalski funkelte ihn an. »Dann kommen Sie doch her und erledigen das.«
Bevor Gray ihm antworten konnte, summte und vibrierte das Satellitentelefon in seiner Tasche. Er holte es hervor. Den Akku hatte er nach dem letzten Gespräch mit Painter drin gelassen. Der Direktor beabsichtigte, sie mit dem Hubschrauber abholen zu lassen, sobald sie über das Heilmittel verfügten. Der vereinbarte Treffpunkt lag auf dem Felsrücken oberhalb des Tals. Dort würde der Hubschrauber ungehindert landen können.
Gray war erleichtert über die Ankündigung des Direktors. Er blickte zu Kowalski hinüber, der die Trinkflasche in der Hand hielt. Die Evakuierung musste möglicherweise verschoben werden.
Gray nahm das Gespräch an. »Direktor Crowe, wir haben ein …«
Painter fiel ihm in scharfem Ton ins Wort. »Gray, Sie müssen Ihre derzeitige Position verlassen. Sofort. Eine Drohne ist unterwegs zu Ihnen, bestückt mit einer MOAB . Die Bombe wird alles in einem Umkreis von mehreren Meilen zerstören.«
Gray presste die Hand ums Telefon. »Wann wird sie eintreffen?«
»In fünfzehn Minuten, vielleicht auch schon eher.«
Gray sah Kowalski und die leere Trinkflasche an. »Aber wir haben das Heilmittel noch nicht gesichert.«
»Egal. Schaffen Sie Ihren Arsch dort raus.«
Die Verbindung wurde unterbrochen.
Kowalski erwiderte finster seinen Blick. »Was jetzt?«
Gray bedeutete ihm zurückzukommen. Sie hatten keine Zeit, mit einem jahrtausendealten Baum zu streiten. »Vergessen Sie’s!«, rief er. »Laufen Sie!«
Dieser Aufforderung leistete Kowalski bereitwillig Folge. Trotzdem fragte er nach: »Warum? Wieso die Eile?«
»Eine Bombe ist zu uns unterwegs! In fünfzehn Minuten geht sie hoch!«
Kowalski fluchte und lief schneller. Die Wurzeln ließen ihn passieren und schlossen sich hinter ihm wieder. Er kam schlitternd zum Stehen und tippte Benjie mit dem Zeigefinger auf die Brust.
»Sie schulden mir fünfzig Mäuse.«
Benjie blickte verlegen Gray an. »Er hat mit mir gewettet, dass uns jemand hochgehen lassen würde, bevor alles vorbei ist.«
»Sie hätten die Wette nicht annehmen sollen.« Gray schob Benjie und Faraji zum Außenring aus schwarzen Wurzeln und spitzen Dornen.
Mit dem Ausdruck des Bedauerns bedeutete er Tyende, ihnen zu folgen.
Der Stammesälteste wirkte bestürzt, aber auch schicksalsergeben.
Alle setzten sich in Bewegung. Diesmal erwies sich der Wurzeltunnel als eher kleines Hindernis. Der Baum hatte die Dornen und Stacheln eingezogen, sodass sie alle schneller vorankamen.
In Grays Kopf lief ein Countdown. Der Detonationsradius einer MOAB betrug eine Meile – in Anbetracht der hohen Wände, die das Tal umgaben, war er vielleicht noch größer.
Es war aussichtslos, das Team in der zur Verfügung stehenden Zeit in Sicherheit zu bringen.
Zumindest gilt das für einige von uns.
Doch er wollte niemanden zurücklassen. Entweder sie schafften es alle oder keiner. Er wollte das goldene Königreich erreichen, die Stadt, die man aus der Goldader herausgemeißelt hatte. Hoffentlich würde sie ihnen ausreichend Schutz bieten.
Aber erst mal müssen wir dorthin kommen.
Gray hatte das Tunnelende erreicht und kletterte nach oben, wo er Ausblick hatte auf das wogende Wunderland aus leuchtenden Tümpeln und goldgrünem Wald. Der von den Hyphen ausgestoßene Sporennebel hing über der Lichtung.
»Weitergehen«, trieb er die anderen an. »So schnell ihr könnt.«
Er trabte los, wurde langsamer, wenn Benjie oder Tyende nach Luft schnappten, und forderte sie zum Weiterlaufen auf, wenn sie zu lange pausierten.
Der Boden bewegte sich unter ihren Füßen, was ihnen bewusst machte, dass der Großteil des Waldes im Erdreich verborgen war, ein riesiges Netzwerk von Wurzeln und Hyphen, das Gehirn einer uralten Intelligenz.
Gray, der wusste, was bevorstand und was alles zerstört werden würde, knirschte frustriert mit den Zähnen.
Wir hätten niemals hierherkommen sollen.
Was hatte es ihnen schon eingebracht?
Kowalskis leere Trinkflasche hüpfte an dessen Hüfte auf und ab. Gray hegte noch eine kleine Hoffnung, dass sich das Heilmittel gegen die sich ausbreitende Seuche vielleicht aus seinem Blut gewinnen lassen würde.
Schließlich hatten sie den Rand des urtümlichen Waldes erreicht. Dahinter lockte der dunklere Dschungel. Benjie wurde langsamer – nicht vor Erschöpfung, sondern aus Rücksicht auf Tyende. Der alte Mann atmete pfeifend, sein schweißüberströmtes Gesicht wirkte eingefallen. Den Stab hatte er unterwegs verloren. Kowalski stützte ihn an der einen Seite, Benjie an der anderen.
Gray nahm den Platz des Studenten ein. »Laufen Sie weiter.«
Sie setzten sich wieder in Bewegung und zwängten sich durch die dichte Barriere des dunklen Waldes, bis sie den eigentlichen Dschungel erreicht hatten.
Gray sah auf die Uhr.
9:38
Ihnen blieben nur noch sieben Minuten – höchstens.
Benjie wurde auf einmal langsamer und schaute sich um. »Wo sind die anderen?«, fragte er keuchend.
Gray bemerkte nun ebenfalls, dass Molimbo mit seinen Pygmäen und den Erdwölfen verschwunden war. Er schüttelte den Kopf. »Wir können nur hoffen, dass sie weit genug kommen.«
»Vielleicht spüren sie, dass etwas nicht stimmt, und haben sich in der Stadt in Sicherheit gebracht«, meinte Benjie.
»Vielleicht«, murmelte Gray skeptisch. Er musste daran denken, dass die Jäger vor dem alten Ort, dem von Knochen gesäumten untergegangenen Königreich, zurückgescheut waren.
Aber dafür war jetzt keine Zeit.
»Weitergehen«, sagte er.
Als sie losmarschierten, erschien auf dem Weg eine Art Waldgespenst. Der schneeweiße Erdwolf hielt vor ihnen an und hieß seinen zurückgekehrten Partner willkommen.
»Mbe!«, stieß Tyende keuchend aus.
Der Wolf flog wie ein Silberpfeil über das Pflaster und warf sich dem Stammesältesten entgegen. Er setzte sich an Tyendes Seite und ging neben ihm her. Seine Anwesenheit belebte den Ältesten. Er löste sich von Gray und Kowalski und streichelte dem Tier die Flanke, als gewinne er von ihm neue Kräfte.
Sie schritten schneller aus, eilten den gewundenen Weg entlang. Als sie die Gabelung erreichten, machte Tyende erneut schlapp. Er stolperte und blieb zurück. Gray ließ sich zurückfallen und fasste ihn unter. Der alte Mann zitterte. Gray spürte seinen Herzschlag unter den dünnen Rippen.
Der Kuba war zwar weit jünger als Molimbo, aber trotzdem über hundert Jahre alt, möglicherweise sogar hundertfünfzig. Vielleicht hatte es ja Jahrtausende gedauert, bis sich die extreme Langlebigkeit der Pygmäen herausgebildet hatte. Tyende war gewissermaßen immer noch ein Neuankömmling und empfänglich für die Verheerungen des Alters.
Kowalski näherte sich dem Ältesten von der linken Seite, um ihn notfalls zu tragen. Er versuchte, den Erdwolf beiseitezuschieben.
Mbe knurrte, offenbar nicht bereit, seinen Posten aufzugeben. Allerdings atmete auch der alte Erdwolf schwer und verdrehte vor Erschöpfung die Augen. Wie Tyende konnte auch das alte Tier die Zeit nicht anhalten.
»Wir sind fast da!«, rief Benjie und zeigte nach vorn.
Die Stadt lag dunkel da inmitten des Waldes. Die Flammen, die sie erhellt hatten, waren erloschen. Gray konnte nachvollziehen, weshalb die Pygmäen diesen Ort mieden. Er wirkte unheimlich.
Doch sie hatten keine Zeit, um sich mit Aberglauben zu befassen.
Er sah aufs leuchtende Zifferblatt seiner Uhr.
»Noch drei Minuten!«, rief Gray.
Benjie zuckte zusammen und lief auf die dunkle Fassade zu.
Würde die Zeit reichen?
Gray trieb alle zur Eile an. »Laufen Sie, so weit es geht!«
Benjie und Faraji gelangten zu einer Biegung. Sie nahmen eine Abkürzung, brachen durchs Unterholz und stürmten durch eine Ansammlung von Pilzen. Benjie zuckte zusammen, als hinter ihm ein Bovist zerplatzte. Totenschädel und Rippenbogen knackten unter seinen Stiefeln.
Er konnte nur hoffen, dass nicht auch seine Knochen diesem alten Mausoleum einverleibt werden würden.
Zusammen mit Faraji erreichte er den Eingang. Kowalski schaltete eine Taschenlampe ein, sodass sie lange Schatten warfen. Benjie schreckte zurück, doch Kowalski versetzte ihm einen Schubs.
»Los, rein da!«, rief er.
Benjie stolperte, fand das Gleichgewicht wieder und lief hinter Faraji her. Kowalski folgte ihnen und schwenkte die Taschenlampe. Die Wände wurden zu warmem Goldglanz erweckt. Benjie fuhr mit der Hand über die glatte Oberfläche, doch vor allem wollte er sich abstützen.
Der Boden war mit Knochen bedeckt. Die meisten Skelette waren noch unversehrt. Sie lagen dort, wo die Menschen gestorben waren. An einigen hafteten noch Kleidungsfetzen. Andere waren in Kettenhemden gehüllt, vom Alter geschwärzt. Pieken, Streithämmer und Schwerter kündeten von der Invasion, die Tyende erwähnt hatte.
Benjie nahm sich an Faraji ein Beispiel und versuchte, den Skeletten auszuweichen, um die Totenruhe nicht zu stören.
Kowalski war weniger rücksichtsvoll. Fluchend bahnte er sich einen Weg.
Beiderseits der Straße stapelten sich die goldenen Häuserblöcke immer höher. Überall spannten sich Brücken und Torbogen.
Benjie musterte staunend die Umgebung und fragte sich, wie es hier wohl früher ausgesehen haben mochte. Er stellte sich plaudernde, feilschende Menschen vor, umhertollende Kinder und spielende Erdwölfe.
Er blickte sich um und machte sich klar, dass der wahre Reichtum nicht hier in der Stadt zu finden war, sondern draußen im Wald, in dem das Königreich jahrhundertelang im Einklang mit der Natur gediehen war.
Das war der größte Schatz.
Auf einmal aber runzelte Benjie die Stirn.
»Wo ist Gray?«
»Sie müssen weitergehen«, sagte Gray und sah auf die Uhr.
Noch eine Minute …
Tyende war wenige Meter vor der Stadt stehen geblieben. Es war schwer zu sagen, wer als Erster angehalten hatte, der alte Mann oder sein Begleiter. Beide wollten einfach nicht mehr weiter.
Mbe setzte sich auf die Hinterbeine. Er hechelte, seine Brust hob und senkte sich. Gray hatte den Eindruck, er werde es nicht mehr lange machen. Der große Erdwolf legte sich auf den Boden und blickte zum Wald. Tyende kniete sich neben ihn und legte den Arm um seinen großen Gefährten.
»Das ist weit genug«, erklärte er.
Gray ahnte, dass er eine Strecke meinte, die sich nicht nach Meilen bemaß.
»Sie dürfen nicht aufgeben.« Gray streckte den Arm nach ihm aus.
Tyende wehrte ab. Mbe tat mit einem Knurren kund, was Tyende empfand. »Das ist keine Niederlage. Auch kein Aufgeben.« Er lächelte schwach, aber zufrieden. »Es ist so weit.«
»Aber …«
»Ich habe meine Geschichte erzählt. Ich habe sie weitergegeben. Das genügt.«
Gray überlegte, wie er ihn umstimmen könnte.
Tyende ließ den Blick über die dunkle Stadt schweifen und nahm den goldenen Kopfreif ab. »Jetzt ist der Moment gekommen, da Königreiche enden.« Er sah wieder zum Wald, genau wie Mbe. »Und dass Mütter ihre Kinder auf eigenen Beinen stehen lassen, was auch immer daraus werden mag.«
Gray fand sich damit ab, dass Tyende sich nicht von der Stelle rühren würde, doch bevor er sich selbst in Sicherheit brachte, wollte er noch etwas in Erfahrung bringen. »Das Heilmittel … könnte Kowalski es mit der Welt teilen?«
Tyende schaute ein letztes Mal zurück. Er wirkte traurig, als habe Gray nichts begriffen. »Molimbos Volk hat es mir vor langer Zeit erklärt. Sie ist großzügig mit Ihren Geschenken, doch sie sind von kurzer Dauer. Wird man ihrer teilhaftig, verfliegt die Wirkung rasch. Das Wunder hat Bestand, doch die dahinterstehende Kraft verdunstet wie Wasser an einem heißen Sommertag.«
Gray seufzte schwer.
Also nein …
Tyende wandte sich ab und bedeutete ihm zu gehen. »Sie haben alle Antworten, die Sie brauchen.«
Gray konnte nicht länger warten. Er machte kehrt und rannte in die goldene Stadt hinein. In seinem Kopf tickte die Uhr. Er meinte das ferne Winseln eines Triebwerks zu hören, das immer lauter wurde.
Im letzten Moment hechtete er durch einen Hauseingang und ging hinter der Wand in Deckung. Und zwar keinen Moment zu früh.
Als er mit den Knien den Boden berührte, zündete die Bombe. Der Boden bebte, er wurde hochgeschleudert. Draußen stürzte inmitten von Goldblöcken und Staub eine Brücke ein. Der Explosionsblitz ließ das ganze Königreich aufleuchten. Die Stadt funkelte in ihrer ganzen Pracht, dass es den Augen wehtat. Ein Hitzeschwall rauschte hindurch und versengte ihm die Bronchien.
Gray lag flach auf dem Boden. Er schlang die Arme um den Kopf und hielt sich die Augen zu. Er wartete, bis der Boden nicht mehr bebte und die Hitze nachgelassen hatte. Dann rappelte er sich hoch, taumelte zum Eingang und stützte sich am Türrahmen ab. Das Gold war erstaunlich kühl, ein weiterer Beleg für die Beständigkeit der Stadt.
Voller Sorge trat er nach draußen.
Tyende …
Gray ging zurück durch den funkelnden Schutt. Im strahlenden Morgenlicht sah er die beiden an der Stelle, an der er sie zurückgelassen hatte. Die Bombe hatte die Klippe entwaldet, sodass die Sonne zum ersten Mal seit Ewigkeiten die Stadt erstrahlen ließ.
Er eilte weiter.
Tyende lag hinter Mbe. Der Erdwolf hatte sich um den Mann zusammengerollt, als wollte er seinen Freund noch im Tod beschützen. Mit seinem großen schneeweißen Körper hatte er Tyende abgeschirmt und ihm erspart, die Zerstörung seines Zuhauses mit ansehen zu müssen.
Gray sank vor ihnen auf die Knie, legte dem Mann die Hand auf die Schulter und dankte ihm wortlos. Tyende regte sich. Ob durch ein Wunder oder dank der Zuneigung seines lebenslangen Freundes, jedenfalls atmete der Älteste noch, wenn auch schwach.
»Nicht bewegen …«, sagte Gray.
Tyende würde nicht mehr lange leben, doch er sollte wenigstens nicht einsam sterben.
Tyende schlug die Augen auf. Mit letzter Kraft tätschelte er Gray tröstend die Hand. »Ich … ich wundere mich, dass Sie Sie nicht für würdig befunden hat«, sagte er mit rauer Stimme. »Ich schon …«
Gray verspürte einen Anflug von Bedauern und schlechtem Gewissen.
Hinter ihm rumpelte es, dann hörte er Stimmen. Er blickte sich um. In der Dunkelheit schwankte eine Taschenlampe. Kowalski gelangte in Sicht, flankiert von Benjie und Faraji.
Gray winkte sie zu sich, ließ seine Hand aber auf Tyendes Schulter ruhen. Der alte Mann atmete pfeifend.
Als Benjie sie erreichte, schnappte er hörbar nach Luft.
»Können wir irgendetwas tun?«, fragte Gray leise. »Um es dir leichter zu machen.«
Tyende leckte sich die Lippen, setzte vergeblich zu sprechen an und versuchte es erneut. »Hilf mir … hilf mir sehen.«
Gray verstand, was er meinte, und lehnte ihn mit dem Rücken an die Wand. Tyende blickte an Mbe vorbei ins Tal. Das strahlende Morgenlicht hatte sich bereits verdüstert, die Sonne wurde von Rauch verhüllt. Das war nicht mehr das Halbdunkel des uralten Waldes, sondern etwas Bösartiges.
»Es tut mir leid«, flüsterte Gray.
So viel verloren und nichts gewonnen.
Tyende musterte die Zerstörung. Seine Schultern sackten herab, doch er behielt seine stoische Miene bei. » Manchmal braucht es ein Feuer, damit der Wald sich erneuert. Auch in den Flammen findet sich Hoffnung.«
»Aber …«
Tyende tätschelte Gray die Hand. »Wie gesagt … Mütter können nur eine Zeit lang warnen, tadeln und lehren. Irgendwann endet ihre Zeit. So wie meine. Dann werden watoto … watoto … «
Die Kräfte verließen ihn, die Gegenwart entglitt ihm. Immer wieder verfiel er in seine Muttersprache.
Faraji kniete sich neben ihn. »Watoto … heißt ›Kinder‹.«
Tyende regte sich. »Kinder, ja, sie müssen irgendwann … auf eigenen Beinen stehen … ihre eigenen Fehler machen.« Er richtete den Blick auf die Ruinen. »Ob sie nun rechtzeitig hekima erlangen oder …«
Tyende zuckte traurig mit den Schultern.
Gray blickte Faraji an.
»Bedeutet ›Weisheit‹, ja?«
Tyende legte Faraji dankbar die Hand aufs Knie. Der alte Mann wandte den Kopf, hob die Hand und winkte Benjie kraftlos zu sich heran. Der Biologe ließ sich neben ihm auf dem Boden nieder.
Tyende tippte auf Benjies Bein, dann deutete er auf dessen ausgebeulte Hosentasche. Benjie holte die Ndop-Figur hervor und streckte sie Tyende entgegen.
Der alte Mann seufzte zufrieden. Mit zitterndem Finger streichelte er das Gesicht von William Sheppard. Offenbar nahm er Abschied von seinem alten Freund und Lehrer.
»Die Mutter …«, flüsterte Tyende. »Ihre kostbarsten Gaben teilt Sie nur mit den Würdigsten.«
Auf William Sheppard hatte das gewiss zugetroffen.
Tyendes Arm fiel kraftlos herab, er rang nach Atem. » Ngedi mu ntey … im ngedi mu ntey … «
Das Kinn sank ihm auf die Brust.
Seine Zeit war abgelaufen.
Schweigen senkte sich herab.
Schließlich hob Benjie die geschnitzte Sheppard-Figur hoch. »Wir wurden für unwürdig befunden …« Er musterte die Zerstörung. »Vielleicht hatte Sie ja recht.«
Gray schüttelte resigniert den Kopf. Sheppard war es erlaubt worden, das Tal geheilt zu verlassen. Anschließend hatte der Reverend seine Geschichte dokumentiert und den Weg zur Errettung aufgezeigt. Dies alles hatte er im ngedi mu ntey aufbewahrt, dem kostbaren Kuba-Kasten. So wie Tyende es mit seinen letzten Worten bestätigt hatte.
Wir aber wurden für unwürdig befunden, auch wenn Tyende das anders gesehen hat.
»Wir sollten aufbrechen«, sagte Kowalski. »Wir dürfen den Evakuierungshelikopter nicht verpassen.«
Gray nickte und wollte losmarschieren, doch Faraji blieb knien und murmelte ein Gebet für seinen Stammesgenossen. Gray wartete respektvoll. Benjie steckte unterdessen die Ndop-Figur wieder ein.
Plötzlich legte Gray dem Biologen eine Hand auf den Arm. »Ngedi mu ntey … im ngedi mu ntey. «
Benjie runzelte die Stirn – dann machte er große Augen.
»Was ist?«, fragte Kowalski.
»Tyendes letzte Worte«, sagte Gray. »Er hat nicht von Sheppard geredet. Er wollte uns das Geschenk des Baums anbieten.«
Ein Mann, der uns für würdig befunden hat – auch wenn der Baum das anders sah.
Kowalski zog die Stirn kraus. »Was anbieten?«
»Die Antwort.« Benjie sah bestürzt auf die Figur in seinen Händen. Er reichte sie Gray. »Ngedi mu ntey im ngedi mu ntey .«
Gray nahm die Schnitzerei entgegen und übersetzte: »Kuba-Kasten im Kuba-Kasten.« Hoffnungsvoll blickte er die anderen an. »Die Kuba verwahren in diesen Kästen ihre wertvollsten Habseligkeiten, doch um den kostbarsten Besitz zu schützen …«
»… verwenden sie einen Kasten im Kasten«, beendete Benjie den Satz. »Den russischen Matrioschka vergleichbar.«
Alle Blicke waren auf Gray gerichtet.
Er untersuchte die Figur eingehend und fuhr mit den Fingern über das schwarze Wurzelholz des Mutterbaums. Dann sah er es: eine silbrige Ader unter Sheppards Kinn.
Behutsam legte er die Hand um den Kopf der Figur und versuchte, ihn zu drehen. Beim dritten Versuch ließ sich der Kopf ablösen, und es stellte sich heraus, dass die Figur so hohl war wie der Baum.
Gray neigte die Figur – ein feines Pulver rieselte auf seine flache Hand.
Die Körnchen funkelten silbrig.
Ein leuchtendes Zeichen der Hoffnung.