Wenn jemand fragte, wie sie sich kennengelernt hatten, sagte Johanna:
Ich habe Caro aufgelesen.
Als wäre Caro etwas sehr Kleines gewesen.
Bald wollte Caro nicht mehr an die Person denken, die sie vor dieser Begegnung gewesen war, und tat, als hätte die Zeit in Wien mit Johanna begonnen.
Während der ersten beiden Semester hatte Caro gelernt wie besessen. Wenn sie gerade nicht in der Bibliothek war, hatte sie mit den anderen getrunken. Irgendwann hin und wieder auch allein. Und zu viel geraucht und gefeiert und dann wieder nächtelang vor ihren Büchern gesessen, und oft tagelang kaum gegessen, und all das war ganz normal gewesen. So machten es alle. Caros Freundeskreis damals bestand nur aus Männern, alle kumpelhaft und laut und von oben bis unten mit AXE-men eingesprüht. Sie tranken gemeinsam und ab und zu machten sie Sport und immer fühlte Caro sich unter Druck gesetzt. Überhaupt erinnerte sich Caro später vor allem an den Druck und wie sich alle daran aufgeilten. Dem Druck standzuhalten bedeutete etwas wert zu sein. Unter Druck konnte sie sich selbst spüren. Der Druck war Caros Verbündeter, er hatte sie von ihrer Familie weg und nach Wien gebracht, er hatte ihr eine Form gegeben, wie wenn Grafit in einer hydraulischen Presse bei 60 000 bar zusammengepresst wurde. Ihre Familie hatte es nicht verstanden.
Wenn schon Chemie, dann mach es doch auf Lehramt. Du wärst eine super Lehrerin. Wenn schon studieren, dann in Graz. Das sind nur anderthalb Stunden. Dann kannst du jedes Wochenende heimfahren. Da werden alle deine Freunde sein.
Sie war trotzdem gegangen, ohne ihren Segen. Dann lag sie in Wien in ihrem Zimmer im Studentenwohnheim oder morgens um drei betrunken im Volksgarten, bekam Heimweh und Sodbrennen und Komplimente für ihre schönen, blauen Augen. Manchmal gab es Filmrisse. Damals war sie mit Jakob zusammen gewesen und schaffte es nicht, ihn zu verlassen, weil Jakob der einzige Mensch war, der sich um sie kümmerte.
Gegen Ende ihres zweiten Semesters war sie auf einer Party der Physikalischen Fakultät eingeladen gewesen. Orange Pingpongbälle, rote Becher, weiße Poloshirts, laute Bässe. Die Becher waren sofort wieder leer, niemand schien bei Bewusstsein bleiben zu wollen. Auch Caro nicht. Das Mädchen, mit dem sie sich eben noch unterhalten hatte, war verschwunden, nur ihre Segelschuhe standen noch im Gang.
Caro hatte weitergetrunken und getanzt und sich später auf der Herrentoilette übergeben, weil die Schlange zur Damentoilette zu lang war.
Plötzlich war da das Gefühl, keine Luft mehr zu bekommen. Sie hatte sich durch die Menge nach draußen gedrängt und war ein paar Schritte weit gelaufen, um den Rauchern zu entkommen, die in Trauben vor dem Gebäude standen. Alles drehte sich, in ihr und um sie herum. Sie hatte sich auf die Stufen in einen Hauseingang gesetzt und die Augen geschlossen. Hatte an die Feuerwehrfeste zu Hause gedacht und wie ihr die Tante erklärte, wo sie beim Dirndl die Schleife binden musste.
»Willst du einen Bissen?«
Caro hatte die Augen wieder geöffnet. Vor ihr stand eine junge Frau mit wilden Haaren, Netzstrümpfen und grünen Schuhen und hielt ihr ein angebissenes Mürbteigkipferl hin.
Das Erste, was Caro an Johanna aufgefallen war, war ihre Sprache. Wie sie jedes Wort klar und zu Ende sagte und dabei mit der Stimme auf und ab wanderte. Nach zwei Semestern mit Abkürzungen und Zahlen, mit Codes und Formeln schien es Caro, als käme diese Stimme aus einer anderen Welt.
Caro starrte auf das Kipferl im Laternenlicht, sie dachte an fremde Keime und fragte sich, was diese Frau ihr da gerade anbot.
»Ich heiße Johanna«, sagte Johanna, »und du schaust ziemlich fertig aus.«
Dann hatte Caro abgebissen und es hatte unwahrscheinlich gut geschmeckt, und als sie runterschluckte, hatte Caro gespürt, wie ein Teil ihrer Selbstachtung zurückkehrte.
Sie schloss sich der Gruppe an, mit der Johanna unterwegs war, sie liefen durch die ausgestorbene Stadt.
Deine Ausstrahlung macht was her, hatte Johanna gesagt, genau so.
Sie sprachen über Elternschaft bei Seepferdchen, während Johanna zwischen zwei parkenden Autos pinkelte, und über die richtige Betonung des Wortes Labor. Johanna sagte, dass sie Theater machte, und Caro erzählte von der Autobiografie von Wekwerth, die sie gelesen hatte.
Keine Ahnung, wovon du da redest, hatte Johanna anerkennend geantwortet.
Bevor Caro in den Nachtbus gestiegen war, hatte Johanna ihre Nummer in Caros Handy eingetippt und ihr gesagt, sie solle eine Nachricht schreiben, wenn sie zu Hause angekommen war. Zurück im Studentenwohnheim rührte sich Caro eine Elektrolytlösung in ihr Wasserglas und schrieb an Johanna:
Eine Woche später meldete Caro sich wieder und fragte Johanna, ob sie gemeinsam in eine Ausstellung gehen wollten. Johanna sagte zu und tauchte mit schlechter Laune und Sonnenbrille beim Treffpunkt auf. Später hatte Caro erfahren, dass sie kurz zuvor von einer Produktion gefeuert worden war, weil sie sich mit dem Intendanten gestritten hatte. Trotzdem war sie gekommen und während sie durch die Gänge liefen und große knöcherne Skulpturen betrachteten, kotzte sie sich aus über den Kulturbetrieb, die mangelnde Wertschätzung. Caro nickte zu allem, die anderen Ausstellungsbesucher warfen ihnen böse Blicke zu.
Danach war Johanna müde und wollte nach Hause. Sie fragte Caro halbherzig, ob sie mitkommen wolle, und Caro kam mit. Und als sich Johanna dann in der Wohnung auf die Couch warf und den Fernseher anmachte, setzte Caro sich einfach dazu, und als Johanna später kurz einschlief, ging Caro in die Küche und räumte auf und irgendwann erschien Johanna in der Tür und sagte: Du bist ja immer noch da.