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Caro saß auf dem Balkon, obwohl es kalt war, sie hatte die Beine angewinkelt und ihre Knie drückten gegen das Metallgeländer. Den Reißverschluss ihrer Jacke bis zur Nase hochgezogen, blätterte sie im Textbuch für das Theaterstück. Die Stadt lag in einem seltsam hellen, starren Licht, als würde der Tag nicht vergehen, als wäre er eingefroren.

Wo bis vor Kurzem ein kleiner Tisch gestanden hatte, war nur ein dunkler Kreis geblieben, die Sonne hatte die Holzdielen dort nicht ausgebleicht. Zwei Wochen zuvor hatte Johanna einen großen Flohmarkt im Innenhof veranstaltet, hatte den Großteil ihrer Sachen die drei Stockwerke hinunter und nach draußen getragen, wo sie sie zu Spottpreisen an Freunde, Bekannte und Nachbarn verkaufte. Als würde sie sich bereits auf den Umzug vorbereiten, als wäre sie in Gedanken schon in Berlin.

Jetzt waren die Regale in der Wohnung leer, die Wände nackt, und bisher machte Johanna keine Anstalten, diesen Raum wieder zu füllen.

Von drinnen hörte Caro leise das Ruckeln der Nähmaschine. Wenn sie den Kopf drehte, sah sie Johanna in der Küche sitzen, weit über den Tisch gebeugt, der überquoll von Stoffen und Papierschablonen.

Ich nähe mir ein Kostüm, hatte Johanna geschrieben, und repariere alte Sachen. Bring mit, was du an kaputten Kleidungsstücken hast.

Der Wind fuhr durch karge Kastanienbäume, nur wenige Menschen waren auf der Straße unterwegs. Mit von der Kälte steifen Fingern blätterte Caro die Seiten um.

am Rand – ein Stück von Martin Wolka

Die Seiten reflektierten das Licht, Caro las mit zusammengekniffenen Augen.

Ein Dorf. Ein Fest. Eine ausgelassene, maskierte Gesellschaft, die sich beim Bankett über große Fragen unterhielt, während alle die Mitternachtseinlage herbeisehnten.

Die Balkontür wurde aufgerissen, Johanna umarmte Caro von hinten und drückte ihre warme Wange gegen ihren Hals.

So fest war ihr Griff, dass es beinahe wehtat.

»Alles in Ordnung?«

»Bald«, antwortete Johanna im Flüsterton.

Caro nickte, Wange an Wange. Johannas Geruch umfing sie, Rauch und Sanddorn und eine Ahnung von Aftershave.

»Zehn Seiten noch, dann komm ich rein.«

Die Straßenbahn rollte vorbei, kurz blitzte die Oberleitung, dann war es wieder still.

»Du Fleißige«, sagte Johanna leise, »wahrscheinlich warst du in einem früheren Leben eine Biene. Oder ein Eichhörnchen. Wahrscheinlich sind wir uns nie begegnet.«

»Kaffee?«, fragte Caro später und legte das Textbuch vor Johanna auf den Küchentisch, neben den Haufen alter Kleidungsstücke, die Johanna eins nach dem anderen ausbesserte, gerissene Nähte, Löcher.

»Gefällt es dir nicht?«, fragte Johanna zurück.

»Ich weiß nicht«, in einer kleinen Kanne schäumte Caro Sojamilch auf, versuchte dabei, nicht auf die Stofffetzen zu steigen, die überall herumlagen. »Es ist … überladen, irgendwie. Gefühlt geht es um alles und nichts. Ein bisschen so, wie ich mir vorstelle, dass ein 25-jähriger Philosophiestudent schreibt.«

Bis vor zwei Monaten hatte Johanna mit Martin was gehabt, dann hatte sie es beendet und ihn gefragt, ob sie sein Stück aufführen durfte. Ein stiller Typ mit roten Lederschuhen, Caro hatte Martin nur einmal getroffen.

Über der Gasflamme begann die Espressokanne zu zischen.

Johanna nickte, den Blick auf das Stück Stoff zwischen ihren Fingern gerichtet.

»Diese eine Figur«, sagte sie dann, »Magdalena Maier.«

»Die, die verschwindet«, antwortete Caro.

»Genau. Die interessiert mich. Warum ist sie verschwunden? Und wohin?«

Caro dachte darüber nach. Eine Frau, die verschwunden ist, ein Dorf, das vorgibt, nichts zu wissen. Ein Mann, der nach ihr sucht, zwei Gestalten, die erzählen, wie Magdalena Maier sich Stück für Stück aufgelöst hat.

»Frauen verschwinden nicht einfach so«, sagte Caro, drehte die Flamme ab.

»Anscheinend doch.«

Durch die Küchentür kam Minusch herein, zuckte zusammen, als die Nähmaschine wieder zu rattern begann, duckte sich unter die Anrichte.

»Ich werde dem nachgehen«, murmelte Johanna, biss das lose Fadenende mit den Zähnen ab und legte das Top zu den anderen ausgebesserten Kleidungsstücken. Vorsichtig stellte Caro die Kaffeetasse neben der Nähmaschine ab.

Johanna arbeitete Teilzeit in einem Lokal, und trotzdem oder genau deswegen mochte sie es, wenn jemand anderer ihr einen Kaffee machte, eine Tasse für sie aussuchte, vor sie hinstellte, Caro wusste das. Johanna wünschte sich das Schaumherz, das Caro versuchte, mit dem Löffelende zu zeichnen, und das nie wirklich aussah wie ein Herz.

Die beiden Küchenstühle hatte Johanna ebenfalls verkauft, also setzte sich Caro auf eine leere Getränkekiste. Sie beobachtete Johanna dabei, wie sie Caros blaue Strumpfhose aufhob, sie umkrempelte, den Finger durch das Loch steckte und dann nach einem Faden in der passenden Farbe suchte.

»Und daraus«, sagte sie und deutete auf eine Bahn schwarzen Stoff, »nähe ich dann das erste Kostüm.«

Das erste Kostüm. Für das erste eigene Stück. Caro fand: Das war ein gutes Zeichen.

Noch waren da Ringe unter Johannas Augen und manchmal verlor sich ihr Blick irgendwo im Nichts, aber Caro sagte sich, dass es nur eine Frage der Zeit war, bis sie wieder ganz angekommen sein würde, in diesem Leben. Ein paar Tage noch, vielleicht Wochen.

Mit dem nackten Fuß betätigte Johanna das Pedal, die Brauen zusammengezogen, ein paar Strähnen hingen nach vorne, gefährlich nahe an der Stichplatte. Vorsichtig strich Caro ihr die Haare zurück und band sie mit einem der Stoffreste zusammen.

Dachte: Hoffentlich geht es ihr besser, bevor es kalt wird. Bevor der Winter da ist.

»Wenn du die Wahl hättest«, sagte Johanna, »zwischen zwei Jahren weniger Lebenszeit oder dass sich deine Zunge für den Rest deines Lebens anfühlt wie die einer Katze – was würdest du nehmen?«

»Zwei Jahre weniger«, antwortete Caro.

»Ich auch. Bringst du mir das Nadelkissen? Das liegt im Zimmer auf dem Schreibtisch.«

In Johannas Zimmer saß Minusch jetzt neben dem Fernseher und putzte sich.

Niemand hat heute noch einen Fernseher, hatte Caro zu Johanna gesagt und Johanna hatte darauf bestanden, dass sie ihn brauchte, dass es ihr ein gutes Gefühl gab, wenn sie die Stimmen im Hintergrund hörte. Dass sie so zur Ruhe kam. Jetzt war der Bildschirm schwarz und Caro dachte, dass Johanna eine ganze Weile schon nicht mehr zur Ruhe gekommen war.

Daneben eine Dose Haarspray, eine angebrochene Packung Aspirin.

Am Fensterbrett standen zwei schwere Kristalle, und dazwischen steckte, neben der Absage aus Berlin, ein Foto von Johannas Mutter. Eine hagere Frau mit schwarzen Haaren, halb im Schatten eines gelben Sonnenschirms. Das Foto war ausgeblichen, der Hintergrund schlecht zu erkennen. Johanna benutzte es manchmal zusammen mit einem Glas, um Spinnen aus dem Zimmer auf den Balkon zu tragen.

»Caro?«

Das Geräusch der Nähmaschine war verstummt.

»Stehst du Modell für mich?«, fragte Johanna, als sie zurück in die Küche kam, und nahm Caro das Nadelkissen aus der Hand. Caro schlüpfte aus ihren Kleidern.

Mit dem schweren, schwarzen Stoff umwickelte Johanna ihren Körper, betrachtete sie von allen Seiten. Dann begann sie den Bereich unter ihren Armen abzustecken, um ihre Taille, um die Brust. Eine Handvoll Stecknadeln zwischen die Lippen geklemmt.

»Schön wird das«, lispelte sie, und dann, als sie fertig war, noch einmal: »Das wird schön.«

Mittlerweile war es draußen dunkel geworden, Caro betrachtete ihre eigene Spiegelung im Fenster. Verschwommen ihr blasses Gesicht über der Flut aus schwarzem Stoff.

Johanna folgte ihrem Blick.

»Hauptsache, du weißt es«, sagte sie dann und sah dabei Caros Spiegelung an.

»Was weiß ich?«, fragte Caro.

»Dass ich das Zeug dazu gehabt hätte. Dass ich nach Berlin hätte gehen können und irgendwann an großen Häusern arbeiten. Hauptsache, du vergisst es nicht und kannst mich später dann daran erinnern.«

Caros Spiegelung nickte.

»Ich werde es nicht vergessen.«