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Johanna hatte im Proberaum einen Spiegel aufgestellt. Die drei mussten sich sehen können, wenn sie spielten, sich nicht direkt zusehen, aber aus den Augenwinkeln wahrnehmen, wie sie sich bewegten, wie sie zueinander standen. Es war ein billiger, trüber Spiegel aus drei Teilen, den sie lose an die Wand gelehnt hatte. Jetzt stand sie davor und betrachtete die dunklen Ringe unter ihren Augen.

Zusammengefasst: Ein Mann kommt in eine kleine Stadt und erkundigt sich nach Magdalena Maier, an die sich scheinbar niemand erinnert.

Valerio würde den Mann spielen, der kam, um nach Magdalena Maier zu suchen. Lilo war die spukhafte Gestalt, die ihn dabei beobachtete. Sven der Metzger. Eine kleine Rolle würde Johanna selbst spielen, mit kurzem Auftritt ganz am Schluss und nur einem Satz, dem Schlusssatz:

Das Bankett ist eröffnet.

Ihr Bühnenmoment. Und eigentlich nur, weil es sich mit der Besetzung nicht anders ausging. Das Bankett ist eröffnet. Und danach macht sich das Dorf, repräsentiert von den drei Darstellenden, über das Festmahl her. Ende.

Sie saßen im Kreis auf dem kalten Boden im Proberaum, die Jacken unter sich ausgebreitet, die Textbücher vor sich liegen, Lilo machte Blasen mit ihrem Kaugummi, Valerio hielt sich mit beiden Händen an seiner Thermoskanne fest.

»Man kann den Text«, sagte Johanna, »ja auf zwei Arten lesen. Einmal als real: Ein Mann kommt und sucht nach dieser Frau, niemand weiß etwas über ihr Verschwinden. Ein Dorf, ein paar Bewohner, eine ungeklärte Geschichte. Eine Art Dorfkrimi. Die zweite Möglichkeit wäre, ihn als unwirklich zu lesen, als eine Art Erinnerungsnebel, Gespensterdorf.«

Nicken, Sven machte sich eine Notiz.

»Ich hätte gerne«, fuhr Johanna fort, »dass wir es so spielen, dass es im Unklaren bleibt, ob es nun real ist oder nicht.«

»Find ich gut«, meinte Sven, »bisschen off. Bisschen meta. Und dann könnten wir ein paar Performance-Elemente einbauen zwischen den Szenen.«

»Wie geht es euch mit euren Rollen?«

»Ich glaube, der Metzger, das ist so der Boss«, sagte Sven, »der, der eigentlich die Fäden in der Hand hat. Der manipuliert die anderen, macht so bisschen Gaslighting. Gefällt mir.«

»Meine Figur ist ja die einzige, die sich erinnern will«, antwortete Lilo, »Während alle anderen anscheinend vergessen haben, wer diese Frau war.«

Valerio blickte stumm in sein Textbuch. An seinen Schläfen zeichneten sich unter der Haut blau die Venen ab.

Aufwärmen. Die Hände zur Decke und unsichtbare Äpfel pflücken, die Hände zu Boden und sich fallen lassen, abschütteln. Laut ausatmen. Den Körper abklopfen, Unterschenkel, Oberschenkel, Bauch, Brust, Arme, Wangen. Den Körper spüren. Johannas Handy vibrierte, ein Anruf von Caro, sie drückte ihn weg.

»Gehen wir mal rein«, sagte sie, »wir probieren das aus. Szene 3. Bietet einfach mal an.«

Mit Matten und Klebeband hatte Johanna eine Bühne gebaut.

Sven und Valerio standen sich gegenüber.

Valerio: Ich suche jemanden. Ich suche Magdalena Maier.

Sven: Nie gehört.

Valerio: Unmöglich, sie wohnt doch gleich in dem Haus da vorne.

»Unmöglich«, sagte Johanna, »er meint das im wahrsten Sinne des Wortes. Nochmal.«

Alles andere bleibt draußen, dachte sie. Stemmte ihre Fußsohlen in die weichen blauen Matten. Du denkst doch nicht allen Ernstes darüber nach …

»Nochmal.«

Ich suche jemanden.

In der Pause kam Valerio mit seinem Textbuch auf sie zu. Die anderen saßen auf dem Sofa, das leise Geräusch aufbrechender Pistazienschalen war zu hören, Sven hat einen Zwei-Kilo-Sack mitgebracht, den er gedumpstert hatte am Abend zuvor. Klick. Klick.

»Wir spielen gar nicht, was da steht«, sagte Valerio. »Du änderst den Text.«

Klick. Klick.

»Ja«, antwortete Johanna und nahm ihm das Manuskript aus der Hand, »ein paar Sachen werden sich ändern. Keine Sorge. Ich hab eine Idee und ich weiß, das wird gut.«