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»Das Gleiche wie immer?«, fragte die Kellnerin, während sie mit drei schnellen Bewegungen die Tischplatte abwischte. Caro nickte.

Gleich da, schrieb Jakob.

»Zweimal«, sagte Caro.

Es war ihre Mittagspause und sie hatte Jakob gestern Abend spät geschrieben, ob sie sich zum Essen treffen wollten. Eigentlich war das verboten.

Es macht keinen Sinn, dass wir uns noch treffen, er und ich, hatte Caro zu Johanna gesagt, vor Monaten, und sie hatte geantwortet:

Dinge machen keinen Sinn, sie haben einen Sinn. Oder sie ergeben einen.

Elf Monate war sie mit Jakob zusammen gewesen, kein ganzes Jahr.

Jakob sagte später, er hätte sich damals zuerst in ihre schönen langen Haare verliebt, an einem Nachmittag auf den Stufen zur Bibliothek.

Er sagte es, lange nachdem sich Caro von ihm getrennt hatte, bei einem dieser Treffen sagte er es, von denen Caro wusste, dass sie ihnen beiden nicht guttaten.

In dem Aquarium neben der Theke schwammen kleine silberne Fische hin und her, Caro folgte ihren Bewegungen. Nach links, wenden, nach rechts, wenden. Daneben knisterte der Heizkörper, ihr Mund fühlte sich trocken an. Schwanger. Das Wort pochte laut gegen ihre Schädeldecke. Ihre Fingernägel drückten kleine Halbmonde in ihre Handflächen.

Die Tür zu dem kleinen Bistro ging auf und Jakob kam herein, mit roten Wangen und ein bisschen außer Atem. Er hängte seinen Mantel an einen der goldenen Haken neben der Tür und nahm ihr gegenüber Platz. Über sein Hemd hatte er einen dunkelblauen Hoodie gezogen, auf dem groß das Logo der Uni stand, der Hemdkragen hatte sich im Nacken verdreht, Caro unterdrückte den Impuls, ihn zurechtzuzupfen.

»Du siehst müde aus«, sagte Jakob.

»Du auch.«

Jakob war aufgetaucht, ein paar Monate, bevor sie Johanna kennengelernt hatte.

Im ersten Semester hatte ein Professor sie und Jakob gebeten, einen Vortrag zu halten über die Vorzüge des Studiums, vor ein paar Schulklassen. Caro wusste, dass man sie ausgewählt hatte, weil sie eine Frau war, weil sie eine Vorbildfunktion einnehmen sollte für die jungen Mädchen. Warum sie Jakob ausgesucht hatten, wusste sie nicht. Vielleicht wegen seiner sanften Augen.

Sie war nervös und durchgeschwitzt gewesen, noch bevor sie die Schule betraten, Jakob hatte ihr gut zugeredet.

Nach ihrem Vortrag führten sie gemeinsam ein Experiment mit der ganzen Klasse durch, bei dem es um die Bestimmung der Iodzahl von Kokosfett ging, niemand war wirklich interessiert, und danach dauerte es ewig, den Chemiesaal wieder sauber zu machen.

Wollen wir mal was trinken gehen?, hatte Jakob gefragt, während er Kokosfett von einer Tischplatte wischte.

Dann folgten elf Monate, von denen Caro später hauptsächlich einige wenige Bilder in Erinnerung blieben. Wie Jakob ihr zum Geburtstag ein Blaukehlchen aus Keramik als Geschenk neben ihre Schlafzimmertür stellte, das zwitscherte, wenn man daran vorbeilief. Wie er sich beim Sex an ihrem Hals festsaugte, wie ein Oktopus, so lange, bis ein großer, dunkler Fleck entstand, so lange, bis es wehtat. Wie er ihre Wäsche zu heiß gewaschen hatte und dann sagte, es sei unabsichtlich gewesen. Caro hatte gespürt, dass er sie wollte, so wie man eine Arbeitsstelle wollte oder eine Wohnung in einer begehrten Gegend. Es gab ihr ein Gefühl von Sicherheit, zu Beginn.

Wenn du die Wahl hättest, sagte Johanna damals und erklärte ihr, dass alles etwas bedeutete. Dass es etwas anderes war, zu sagen Es geht mir gut und Ich kann mich nicht beschweren.

Jakob war erschrocken, als sie sich die langen Haare abgeschnitten hatte, und vielleicht hatte er es damals schon verstanden. »Im Labor sind lange Haare gefährlich«, hatte Caro nur gesagt.

Zum Schluss hatten sie sich gegenseitig so verletzt, dass es zunächst fast unerträglich war, wenn sie sich trafen.

»Also, was ist los«, fragte Jakob und wischte mit dem Ärmel über die Tischplatte.

Die Fische im Aquarium starrten Caro mit gelben Augen an.

»Seit Monaten hab ich nichts von dir gehört.«

Sie wusste nicht, was sie antworten sollte. Irgendwie hatte sie gehofft, Jakob würde sie ansehen und es einfach verstehen, ohne ein Wort.

Johanna war schwanger und Caro war wütend. So wütend.

Die Kellnerin kam und stellte die zwei Tofu-Bowls vor ihnen ab.

»Mahlzeit.«

Draußen lief eine Gruppe Kindergartenkinder in gelben Warnwesten vorbei, in Zweierreihen hielten sie einander an der Hand.

»Ich wollte dich einfach gerne sehen«, antwortete sie und sah ihm an, dass er ihr nicht glaubte.

»Ich war zufällig eh in der Gegend«, sagte er.

Caro nahm sich ein Paar Essstäbchen, Jakob eine Gabel. Sie schämte sich.

Zuerst aß sie die kleinen Tomaten, dann die grünen Bohnen, dann die Sojasprossen, dann den schwarzen Reis, ohne Jakob anzusehen. Schluckte und dachte an das Gefühl, das sie als Kind gehabt hatte, wenn sie nach der Schule zur Beichte ging. Der Hagebuttenstrauch am Weg und wie sie an der Kirchenmauer auf und abgelaufen war, unsicher, was sie erzählen sollte. Nach der Beichte hatte es sich gut angefühlt, als hätte sie jemand repariert, zumindest bis zur nächsten Woche. Ihre Brüder hatten aus den Hagebutten Juckpulver gemacht.

»Ich weiß, du hättest gerne einen Hund gehabt«, sagte sie und schob ihre Schüssel beiseite.

»Was?«, fragte Jakob mit halbvollem Mund.

»Es tut mir leid, dass ich einfach Nein gesagt habe«, sagte Caro.

Jakob musterte sie. Er wirkte alarmiert, wie ein Tier, das jeden Moment bereit war, anzugreifen oder wegzulaufen.

»Also hättest du im Nachhinein doch einen gewollt?«

»Nein«, erwiderte sie. Nein. Die Vorstellung hatte ihr Angst gemacht. Angst davor, dass Jakob den Hund lieber haben würde als sie, und auch, dass der Hund Jakob lieber haben würde, als sie Jakob lieb haben konnte.

»Ich hab gedacht, es würde uns guttun«, sagte Jakob und nahm einen Schluck Cola light, »aber ist ja jetzt auch egal.«

Zwischen seinen Schneidezähnen war ein winziges Stück Koriander hängen geblieben.

»Ich hab gedacht, du wolltest mich damit an dich binden«, antwortete sie.

Die Kellnerin kam und räumte das Geschirr ab. Zweimal öffnete Jakob den Mund, schloss ihn wieder, rückte seine Armbanduhr zurecht.

»Du hast dich an mich geklammert, Caro«, sagte er dann, leise.

»Du hast so getan, als würde ich ohne dich nicht klarkommen«, erwiderte sie.

»Ich hab mich um dich gekümmert.« Seine Stimme wurde wieder lauter.

»Du hast mich isoliert.«

»Du hattest ein Alkoholproblem.«

Jakob fuhr sich mit der Serviette über den Mund.

Die Tür ging auf und zu, ein Lieferbote schob sich mit seinem großen grünen Rucksack an ihnen vorbei. Caro spürte ihre Magensäure aufsteigen, das Brennen in der Brust, den ätzenden Geschmack im Mund.

»Dafür wolltest du mich treffen?«, fragte Jakob, atmete geräuschvoll aus. »Gut, Entschuldigung angenommen. Es ist okay, dass wir keinen Hund hatten.«

Während er sprach, starrte sie an ihm vorbei die Fische an. Das Aquarium war so klein, die Fische schwammen so dicht, dass es ganz einfach sein musste, die Hand ins Wasser zu tauchen und ein paar von ihnen zu greifen. Ob Minusch das schaffen würde, überlegte Caro. Ob sie ein paar erwischen könnte mit ihren Pfoten, oder ob sie ins Aquarium fallen würde bei dem Versuch.

»Sag halt, was los ist mit dir.«

Jakob war zu einem versöhnlichen Tonfall übergegangen, einem unwiderstehlich kumpelhaften Tonfall, einem Ich-bin-auf-deiner-Seite-Tonfall. Eine Zeit lang war Caro süchtig danach gewesen. Sie dachte an die Hunde, die sie zu Hause gehabt hatten, wie sie als junge Welpen gekommen waren, aufgedreht und verspielt, und alles zerkaut und zerkratzt hatten, und wie ihr Vater sie erzogen hatte, wie sie stiller geworden waren mit der Zeit, wie sie sich duckten und anfingen, zurückzuschrecken, wie sie gestorben waren nach zehn, zwölf Jahren, wie bitter sie geweint hatte und Kreuze gebastelt für die Gräber im Garten. Wie ihre Mutter ihr eines Tages gesagt hatte: Du bekommst noch ein Brüderchen. Wie viel Angst ihr die Vorstellung gemacht hatte. Dann das Schreien in der Nacht, das Schreien untertags, die winselnden Hunde, die gereizte Mutter, die laute Stimme des Vaters, und sie allein in ihrem Zimmer, wo sie mit zusammengebissenen Zähnen Mikado spielte. Sie dachte an Johanna und wie groß die Angst gewesen war, sie zu verlieren, während sie auf Antwort auf die Bewerbung nach Berlin warteten, und wie erleichtert sie gewesen war, dass Johanna bleiben würde, und dass die Schwangerschaft sich jetzt anfühlte wie ein Schlag ins Gesicht, der sie nach hinten taumeln ließ, sie wusste nicht wohin.

Plötzlich streckte Jakob die Hand aus und berührte Caros Arm.

»Caro«, sagte er, »hey. Du musst mal deinen Scheiß auf die Reihe bekommen, ehrlich. Und keine Sorge. Ich werd mich versprochen nicht mehr um dich kümmern.«

Caro schluckte. Eine der Mitarbeiterinnen kam mit einem kleinen Beutel aus der Küche und fütterte die Fische im Aquarium. Jakob griff nach seiner Jacke.