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Zur Einweihung der neuen Räumlichkeiten gab es eine Feier am Institut, einen Sektempfang in kleinem Rahmen, nur ein paar Mitarbeiter, die Praktikanten waren nicht geladen.

Aus Pflichtbewusstsein ging Caro hin, aus Pflichtbewusstsein trank sie das erste Glas Prosecco und dann die nächsten vier, um sich die Situation erträglicher zu machen.

»Du siehst ganz anders aus ohne weißen Mantel«, sagte Felix, der sich von den beiden Professoren gelöst und zu ihr gestellt hatte, mit ein paar Soletti, die er, wie Caro fand, auf eine sehr anzügliche Art wegknabberte.

»Solltest du nicht mit denen netzwerken?«, fragte Caro und deutete auf die beiden Männer und den Institutsleiter, die dazu übergegangen waren, sich gegenseitig irgendwelche Bilder auf ihren Handys zu zeigen. »Dir einen Platz verschaffen im old boys club? Ich erhöhe deine Karrierechancen bestimmt nicht.«

»Noch einen Schluck?«, fragte er unbekümmert und füllte ihr Glas. Es war kalt im Foyer und es hallte – der denkbar ungastlichste Ort für ein abendliches Beisammensein, mit seinem blanken Steinboden, dem hellen Licht und dem Durcheinander von Flyern und Plakaten an der Pinnwand neben dem Treppenaufgang. Drei Stehtische waren immerhin mit einem weißen Tischtuch bedeckt worden, auf dem Beistelltisch gab es einen gekauften Schokoladenkuchen, in dem fünf Kerzen steckten, die niemand anzündete.

Caro dachte an die totipotenten Zellen und daran, wie bald man dann auch schon nicht mehr totipotent war, für das ganze restliche Leben nicht, und dass man dann vielleicht mit Ende zwanzig in so einem zugigen Foyer stand und all die kommenden Institutsfeiern vor sich sah, an denen man noch teilnehmen würde, bis man irgendwann nach zwanzig, dreißig Jahren schließlich die Autorität hatte, die Kerzen auf dem gekauften Kuchen anzuzünden, und dann vielleicht alleine betrunken hinauswankte, auf die größte Sinneskrise des eigenen Lebens zu.

Sie leerte ihr Glas und sah Felix an, sie hatte keine Lust mehr auf ihre eigenen Gedanken.

»Wie geht’s jetzt weiter?«, fragte sie. Felix knabberte seine Soletti.

Zu Hause, dachte Caro, lag Johanna gerade im Bett oder stand am Küchenfenster und starrte hinaus, und allein die Vorstellung war so beklemmend, dass Caro überall lieber sein wollte als in der Wohnung mit ihr.

Die drei Professoren brachen bald auf, sogar ihnen schien es zu ungemütlich zu sein, sie sagten, sie würden in ihr Stammlokal übersiedeln, und ob die Jugend denn mitkommen wolle, Caro und Felix verneinten höflich, sagten so etwas wie morgen früh raus und die drei verließen einigermaßen belustigt das Institut.

»To go?«, fragte Felix Caro und hielt eine ungeöffnete Sektflasche hoch.

Nebeneinander liefen sie durch die leeren Straßen, Felix, der mittlerweile wirklich betrunken war, stieß immer wieder gegen Caro und ihr war es recht, weil es ihre Gedankenkreise unterbrach.

»Machst du dir keine Sorgen?«, fragte sie ihn und nahm ihm die Flasche aus der Hand.

»Worüber denn?«, fragte er zurück. Das reichte ihr als Antwort.

Sie gingen ein Stück schweigend, dann musste Felix kurz in die Büsche verschwinden. Caro setzte sich auf einen Mauervorsprung, trank von dem mittlerweile nicht mehr sprudelnden Sekt und erinnerte sich, was Johanna über das Kümmern gesagt hatte.

Felix kam zurück, lehnte sich dicht neben ihr an die Mauer.

»Das hier ist kein Date«, sagte Caro mit leicht lallender Stimme.

»Weiß ich doch«, antwortete Felix, »weiß ich doch, dass du nicht auf Männer stehst.«

Caro musterte ihn von der Seite, zog die Flasche weg, als er danach griff.

»Ich habe einmal zu dir gesagt, dass ich keine Lust habe, mit dir was trinken zu gehen, und daraus schließt du, dass ich lesbisch bin?«

Sie war ehrlich beeindruckt. Und ein bisschen neidisch auf so viel Selbstbewusstsein. Wieder wich sie Felix aus, als er nach der Flasche greifen wollte, und nahm selbst einen großen Schluck. Sie bogen rechts ab zur Votivkirche, auf der Wiese davor wurde Felix langsamer, sie breiteten seine Jacke auf dem feuchten Gras aus und setzten sich. Vereinzelt hatten sich andere Gruppen im Park zusammengefunden, aus irgendeiner Box kam Techno, ein Mann lief zwischen den Studis hin und her und bot Bier für zwei Euro fünfzig an. Caro fühlte sich ein bisschen schwindelig, sie war froh, zu sitzen. Sie pflückte ein Gänseblümchen, seine Blüte hatte sich bereits verschlossen.

»Ich bekomme die Stelle – ich bekomme sie nicht – ich bekomme die Stelle – ich bekomme sie nicht«, summte Caro vor sich hin und rupfte ein paar der winzigen blassrosa Blütenblätter aus. Felix lachte.

Sie hatten sich beide beworben um den Forschungsaustausch in Stockholm und irgendwie hatte Caro das Gefühl, dass diese Konkurrenz sie enger miteinander verband.

»Wieso arbeitest du eigentlich in letzter Zeit?«, fragte Felix.

»Nicht, um dich auszustechen«, antwortete Caro und warf die Blume weg.

Aus seiner Jackentasche fischte Felix einen kleinen gehäkelten Beutel, nahm einen Grinder heraus und begann einen Joint zu drehen.

Caro warf einen flüchtigen Blick auf ihr Handy.

Eine Nachricht von Johanna vor zwei Stunden.

Kommst du noch?

»Magst du?«, Felix reichte ihr den Joint. Seit drei Jahren hatte Caro kein Gras mehr geraucht, das letzte Mal mit Chris zu seinem zwanzigsten Geburtstag. Sie nahm zwei tiefe Züge, musste lachen über sich selbst.

»Wenn du die Wahl hättest«, sagte Caro und nahm noch einen Zug, »zwischen frei und einsam sein oder Familie, was würdest du nehmen?«

»Das ist so eine bekiffte Frage«, erwiderte Felix.

Caro lächelte und beschloss, dass sie Felix nie von dem kleinen Dino erzählen würde und dass sie damit sich selbst so, wie sie jetzt war, ein Stück weit bewahren würde.

Das Gelächter der anderen, das Kratzen im Hals, der letzte Schluck Sekt.

»Du schaust so versonnen«, sagte Felix.

Neben ihnen brach eine Runde junger Menschen auf, beutelten das Gras von den Hosen und mit ihnen verschwand Katy Perrys Song I kissed a girl aus der Boom-Box in die Nacht.

Caro wollte nicht nach Hause. Dort war es still, dort war Johanna, und Johanna ging es schlecht.

»Wollen wir uns noch ein Bier holen?«, fragte sie.

Felix musterte sie von der Seite. Seine Hand lag neben ihrer auf der Jacke.

»Ich will nichts von dir«, sagte sie grinsend, schob ihr Kinn vor, »ich will bloß nicht heim.«

Felix gähnte, sagte aber nichts.

Jemand schob einen Kinderwagen mit Plastiksäcken voller Kleidung an ihnen vorbei über die Wiese. Sie blieben sitzen.

Gegen drei Uhr morgens bekam Felix Heißhunger, und sie holten sich bei dem einzigen Würstelstand, der noch offen hatte, zwei Berner Würstel mit Semmel und Essiggurke und Senf und Caro überlegte, wann sie zum letzten Mal Fleisch gegessen hatte, wahrscheinlich bei ihrer Familie, und sie kam sich ein bisschen ekelhaft vor mit den fettigen Lippen. Bei der Vorstellung, wie Felix und sie sich jetzt küssten, nach Senf schmeckend, musste sie lachen, und Felix lachte mit.

»Langsam sollte ich wirklich ins Bett«, sagte er, als es zu dämmern begann.

»Sei nicht so langweilig«, lallte Caro.

Er musterte sie, zum ersten Mal sah sie ihn ehrlich verunsichert.

»Ich bringe dich heim«, sagte er schließlich.

»Ich schaff das alleine«, antwortete Caro.

»Ja, ja.«

Felix nahm sie am Arm und winkte ein Taxi heran.

»Was ist deine Adresse?«, fragte er, während er ihr half, einzusteigen, und für einen Moment musste Caro überlegen.

Jetzt, bei Tagesanbruch, wirkte Felix nicht mehr so unbeschwert, über den Rückspiegel warf er dem Taxifahrer einen entschuldigenden Blick zu. Caro schloss die Augen.