Johanna räumte den Proberaum aus.
Bühnenproben. Eine Woche lang, drei Wochen bis zur Premiere.
Sie drehte den Schlüssel im Schloss und hatte das Gefühl, als würde sie dabei ein paar der Dämonen aus den letzten Monaten dort drinnen einschließen.
Sven holte die Sachen ab. Schlüsselübergabe.
Johanna trat nach draußen. Sie war schwer, das Wasser staute sich in ihren Beinen, ihre Organe drückten auf ihre Lunge, ihr Kopf war voll. Sie dachte an die Geburt von Pallas Athene, die aus dem Kopf ihres Vaters Zeus geschlüpft war. Er hatte tagelang Kopfschmerzen gehabt und dann hat man ihm den Schädel aufgespalten und Athene war herausgekommen.
Johanna rieb sich die Schläfen. Rieb sich die Augen im Sonnenlicht.
Zu Hause öffnete sie die Fenster und Türen. Zündete ein Räucherstäbchen an und lief damit von einem Raum zum nächsten. Stieß einen langen, lauten Schrei aus.
Es klingelte.
Johanna öffnete die Tür.
Caros Mund war trocken. Sie stand im Gang, den Rucksack umgeschnallt, ihre Hände krallten sich in ihre Jacke und sie traute sich nicht, hereinzukommen.
»Es wird anders, Johnny«, sagte sie.
Es gab so viele Dinge, die sie sagen wollte. Johanna beugte sich vor und legte die Arme um sie, so gut es mit dem dicken Bauch ging, und Caro dachte, dass es von außen aussehen musste, als würde Johanna auf sie fallen und Caro sie auffangen, aber das stimmte nicht. Sie schloss die Augen. Es wird anders.
»Bitte verzeih mir.«
Sie waren vorsichtig miteinander in den Tagen darauf. Caro kochte und Johanna aß, gemeinsam gossen sie die Blumen, fütterten die Katze.
»Wir bekommen das hin«, sagte Johanna, und Caro wusste nicht, ob sie das glauben konnte. Sie traute sich selbst nicht mehr. Die Holzente stand am Fensterbrett und sah ihnen zu.
Weil sie es nicht mehr schaffte, ins Hochbett hinaufzusteigen, schlief Johanna bei Caro im Zimmer. Zwischen ihnen lag das lange Schwangerschaftskissen. Caro träumte.
Sie träumte von einer großen Fabrik, von Großmüttern, die von der Decke hingen, und von einem Gespenst, das durch die Fabrik geisterte, und sie wusste, dass das Gespenst aus ihr selbst gekommen war, aber auch, dass es der Samenspender des kleinen Dinos war, und dann träumte sie, dass überhaupt alle Samen aus dem Gespenst kamen, auch der für Hannah, die plötzlich im Traum auftauchte und versuchte, sich zwischen den Heizkesseln vor Caro zu verstecken, und Caro dachte, dass das schön war, dass die beiden also Geschwister waren, und dann wachte sie plötzlich nassgeschwitzt auf und Johanna lag neben ihr. Ich will es richtig machen, dachte sie.
»Ich bin sehr zufrieden«, sagte ihr Professor. Er saß an seinem Schreibtisch, putzte gewissenhaft seine Brillengläser. »Sie machen das alles sehr ordentlich. Ich habe Sie empfohlen für das Karolinska-Programm, Sie haben das verdient. Schicken Sie Ihren Lebenslauf hinterher und ein Foto, der Rest sind dann Formalitäten.«
Caro rannte. Die Straße hinunter, drei Mal um die Ecke, die Stufen hinab und dann den Kanal entlang. Atmen, Schritte, Musik, Atmen.
Sie spürte ihre Fußballen, ihre Waden, Schultern, Arme, die Wangen, die Schläfen, ihr Herz.
Sie sah die Straßenbahn über die Brücke fahren, sie sah Studentinnen im Gras sitzen und an ihren Textmarkern kauen. Auf dem Kanal fuhr ein Boot mit Touristen vorbei, sie winkten, und die erhobenen Kameras blitzten. Sie rannte.
Im Kopf folgte sie dem weiteren Lauf der Donau. Slowakei, Ungarn, Kroatien, Serbien, Rumänien, Bulgarien, die Ukraine und Moldawien. Es war warm. Der Wind trieb gelben Blütenstaub durch die Luft und auf den Fahrradwegen malten Kinder mit bunter Kreide Muster auf den Boden. Himmel und Hölle.
Die Playlist shuffelte zu Like I used to von Sharon van Etten. Caro hörte Johanna singen. Caro hörte Johanna sagen: wenn du die Wahl hättest.
Sie sah eine halb gegessene Eiswaffel am Boden liegen, über die sich die Tauben hermachten, ein junges Paar mit Pizzakarton und Blumenstrauß.
Caro konnte sehen, wie schön es war. Wie schön der Tag war und wie schön, einfach zu laufen, immer weiter. Sie sah sich selbst dort in der Straßenbahn sitzen, die dicken Wälzer auf dem Schoß, und sie wollte sich selbst gerne zurufen, dass es besser werden würde. Dass alles besser werden würde.