Am Tag nach Puschkins Festnahme sitzt Pia im Besuchsraum der Untersuchungshaftanstalt und wartet auf ihren Großvater. Nachdem sie draußen an dem großen Stahltor geklingelt und man sie hereingelassen hat, wurde sie zuerst in einen Raum mit einer Theke geführt. Dort musste sie ihren Rucksack abgeben und ihre Hosentaschen leeren. Danach ist sie zusammen mit einem Beamten durch einen langen Flur gewandert.
Alle paar Schritte haben sie vor Türen gestanden, die der Mann mit einem großen Schlüssel aufund hinter ihnen wieder zugeschlossen hat. Es ist richtig unheimlich gewesen, und sie hat sich vor dem Beamten gefürchtet, obwohl der eigentlich ganz nett zu ihr gewesen ist.
Der Besuchsraum wird von einer Glasscheibe in zwei Hälften geteilt. Auf jeder Seite der Scheibe steht ein Stuhl, auf hölzernen Ablagen sind Mikrofone angebracht. Vom einzigen Fenster aus blickt man auf eine hohe Betonmauer, die mit Stacheldraht und einzementierten Stahlstücken gesichert ist. Endlich öffnet sich die Tür hinter der Scheibe und ein Beamter bringt Puschkin herein. Opa sieht auf den ersten Blick aus wie immer. Er ist unrasiert, sein alter schwarzer Pullover hat Flecken, seine braune Cordhose ist zerknautscht. Bestimmt hat er drin geschlafen. Aber das ist nichts Besonderes, das tut er zu Hause auch manchmal. Während sich der Beamte in einer Ecke des Raumes an die Wand lehnt, setzt sich Puschkin umständlich auf den Stuhl und drückt auf den Knopf am Mikrofon.
»Hallo, mein Mädchen«, sagt er. Seine Stimme tönt verzerrt aus dem Lautsprecher, der links über ihr hängt.
Pia drückt ebenfalls auf den Knopf. »Hallo, Puschkin«, sagt sie. Wenn sie nicht aufpasst, fängt sie gleich an zu heulen. »Wie geht es dir?«
»Schlecht.«
»Alle glauben, dass du was Schlimmes angestellt hast. Aber ich glaube das nicht.«
Er lächelt. »Danke, Pia.«
»Was sollst du eigentlich verbrochen haben?«, fragt sie.
»In den letzten zwei Wochen haben sie hier in der Stadt in vier Banken eingebrochen. Dabei sind Tresore der Firma Security aufgeknackt worden. Die Dinger hätte ich früher mit verbundenen Augen aufmachen können. Aber diesmal habe ich nichts mit den Einbrüchen zu tun.«
»Wieso behalten sie dich dann hier?«
Puschkin lächelt. »Sie haben Beweise. Und die sprechen gegen deinen alten Opa.«
Pia schaut zu dem Beamten hinüber, der es sich inzwischen auf einem Stuhl gemütlich gemacht hat. »Können wir reden?«, fragt sie. »Ich meine, so richtig?«
Puschkin schüttelt den Kopf. Dann wischt er sich langsam mit dem Handrücken über die Stirn. Auf seiner Handinnenfläche steht was mit Kugelschreiber geschrieben:
FREITAG
15.00 Uhr
Taxi Hinterausgang
Hafenkrankenhaus
»Aber …«, beginnt sie.
Doch Puschkin legt den Finger auf den Mund. »Kapiert?«, fragt er.
Sie nickt. »Kapiert, Puschkin. Übrigens: Dein Glasschneider ist weg. Du hast ihn mir geschenkt, weißt du noch? Ich hab ihn in meinem Kleiderschrank versteckt. Hast du ihn dir genommen?«
Puschkin schüttelt den Kopf.
»Wer kann es dann gewesen sein?«, fragt Pia.
Als Puschkin nicht antwortet, fragt sie weiter: »Hast du einen Verdacht?«
Er winkt ab. »Vielleicht, vielleicht auch nicht. Wir werden sehen.«
»Heute Abend kommt Pablo«, sagt Pia zum Abschied. »Soll ich ihn von dir grüßen?«
»Tu das. Und sag ihm, er darf in meiner Wohnung an alles rangehen. Nur nicht an die Kommode im Schlafzimmer.«
»In Ordnung, Opa.«
Gleich nach dem Besuch im Gefängnis ruft Pia Johannes an und berichtet von dem Gespräch mit Puschkin.
»Wie will es dein Opa schaffen, ins Krankenhaus zu kommen?«, fragt Johannes. »Die Ärzte sind doch nicht blöd. Die merken bestimmt, wenn er ihnen was vorspielt.«
»Das lass mal seine Sorge sein.«
»Freitag also«, sagt Johannes, und seine Stimme zittert.
»Bloß keine Panik«, beruhigt sie ihn. »Das mit dem Taxi kriege ich schon hin.«
»Und was ist mit mir?«
»Für dich gibt es auch was zu tun. Erzähl ich dir später.«
Damit legt Pia auf. Johannes könnte echt ein bisschen mutiger sein. So wie der Lennart aus der Siebten zum Beispiel. Der ist mit seinem BMX-Rad sogar schon die Treppe vor der Schule runtergesprungen. Vierzehn Stufen mit einem einzigen Satz! Die meisten sagen, er spinnt. Pia findet ihn … na ja … irgendwie unbeschreiblich. Und geträumt hat sie auch schon von ihm.
Vor dem Abendessen hilft Pia ihrer Mutter beim Tischdecken. Pablo und seine Eltern kommen, da wird einiges an Besteck und Geschirr gebraucht. Außerdem kann sie dabei in der Küche unauffällig nach dem verschwundenen Glasschneider suchen.
»Wo bist du gewesen?«, fragt Mama, während sie die Avocados für den Salat schneidet.
»Ich bin rumgefahren«, antwortet Pia.
»Rumgefahren, aha«, sagt Mama. Und nach einer Pause: »Du warst nicht zufällig bei Opa?«
»Bei Puschkin?« Pia tut erstaunt.
»Du bist gesehen worden.«
»Von wem?«
»Von Tante Marga«, antwortet Mama. »Sie hatte einen Termin in der Nähe der Haftanstalt.«
»Zufall«, sagt Pia und denkt zum hundertsten Mal: Tante Marga ist eine alte Petze.
Mama stellt die Salatsoße auf den Tisch, baut sich vor Pia auf und schaut ihr tief in die Augen. »Dein Großvater hat einen schlechten Einfluss auf dich. Wenn ich gewusst hätte, wie oft ihr zusammensteckt, hätte ich nie zugelassen, dass er zu uns zieht. Vergiss nicht, dass er ein Verbrecher war. Wer weiß, vielleicht ist er es noch immer.«
»Puschkin ist unschuldig!«
»Das wird sich herausstellen.«
»Und wenn nicht?«, fragt Pia. »Wenn er seine Unschuld nicht beweisen kann?«
»Dein Opa wird einen fairen Prozess bekommen«, sagt Mama, ohne auf Pias Fragen einzugehen. »Aber er muss mitarbeiten, sagt sein Anwalt. Sonst wandert er für die nächsten Jahre ins Gefängnis. Da hilft ihm auch sein Alter nichts.«
Als Pia schweigt, fährt ihre Mutter fort: »Falls du irgendwas ausheckst, falls du Opa bei der Flucht aus der Haftanstalt helfen willst oder so, dann …«
»Dann?«
Mama lässt seufzend die Arme sinken und geht zum Kühlschrank. »Das Gefängnis ist ausbruchsicher. Das hat uns der Kommissar mit dem schwierigen Namen gesagt. Da kommt auch ein Fassadenkletterer und Tresorknacker wie Opa nicht raus. Er braucht es also gar nicht erst zu versuchen. Außerdem musst du dich in den nächsten Tagen um Pablo kümmern.«
Bevor Pia Mama antworten kann, klingelt es. Pia rennt zur Haustür und öffnet einem blonden Jungen. Er hat unwahrscheinlich blaue Augen und eine leicht gebräunte Haut. Allerdings ist er kleiner, als sie sich vorgestellt hat, höchstens ein paar Zentimeter größer als sie. Obwohl es draußen ziemlich kalt ist, trägt er nur ein dünnes blaues TShirt mit der weißen Aufschrift »Argentina«. Hinter ihm stehen ein Mann und eine Frau. Sie lächeln Pia an.
»Pablo?«, fragt sie.
Der Junge macht einen schnellen Schritt auf sie zu und drückt ihr, bevor sie reagieren kann, einen Kuss auf die linke und einen auf die rechte Backe.
»Hola, Pia!«, ruft er. »Da bin ich!«
Sie räuspert sich. Wahrscheinlich sind ihre Ohren jetzt mindestens so rot wie ihre Haare. »Ja … äh … hallo«, stottert sie.
Zum Glück kommt ihr Mama zu Hilfe. Sie begrüßt Pablo und seine Eltern und bittet alle ins Haus. Dann schaut sie auf ihre Armbanduhr. »Sie haben sicher Hunger. Wir können gleich essen«, sagt sie.
»Herzlichen Dank für die Einladung«, sagt Pablos Vater, ein Mann wie ein Bär und so blond wie sein Sohn. »Aber wir haben leider nicht viel Zeit. Wir haben noch einen dringenden Termin.«
In der Küche hat sich inzwischen die ganze Sippe versammelt. Kaum sitzen alle, erzählt Tante Marga, dass sie schrecklich gern einmal in Urlaub nach Argentinien fliegen würde. Da gebe es doch so viele wilde Tiere.
»Sie meinen bestimmt Afrika«, sagt Pablos Vater freundlich, während Pia die Augen verdreht.
Als Vorspeise gibt es gemischten Salat mit Avocados, als Hauptgericht Gnocchi mit Gorgonzolasoße. Pablos Eltern lassen es sich schmecken – wenn auch in einem atemberaubenden Tempo. Genauso schnell erzählen sie vom Flug, von Argentinien, von ihrem Haus und der Kälte in Deutschland. Nicht einmal Tante Marga schafft es, sie zu unterbrechen. Und das will was heißen. Nur Pablo scheint irgendwie nicht zufrieden zu sein. Immer wieder schaut er zum Herd hinüber, wo sich inzwischen das dreckige Geschirr stapelt.
»Ist was?«, flüstert Pia ihm zu.
»Gibt es kein Fleisch?«, flüstert er zurück.
»Hat’s dir nicht geschmeckt, Pablo?«, unterbricht Mama die beiden.
»Doch, muy bien«, antwortet er.
Noch vor dem Nachtisch – Mama hat zur Feier des Tages Tiramisu gemacht – springen Pablos Eltern auf. »Wir müssen los«, sagt Pablos Vater und schaut auf seine Armbanduhr. »Gibt es in der Nähe einen Taxistand?«
»Ich rufe Ihnen einen Wagen«, sagt Papa und verschwindet in der Diele.
»Sollten wir noch irgendwas wissen?«, fragt Mama. »Darf der Junge bestimmte Sachen nicht essen? Oder braucht er Medikamente?«
Pablos Mutter lacht. »Medikamente? Nein, Pablo ist rebosante de salud. Er ist kerngesund.«
Dann bedanken sich Pablos Eltern für das wunderbare Essen, für die tolle Gastfreundschaft und überhaupt, knutschen alles ab, was sie in die Finger kriegen, und laufen schließlich zum Taxi, das vor der Tür wartet.
»Uff«, macht Pia, als der Wagen um die nächste Ecke verschwunden ist. Im Gegensatz zu Einstein und ihren Eltern hat sie es verhindern können, dass sie geküsst wurde. Tante Marga hat sich mit Begeisterung auf die Backen knutschen lassen, vor allem von Pablos Vater.
»Schlafe ich bei dir?«, fragt Pablo, als sie wieder in der Küche sitzen und Mama den Nachtisch serviert. Pablo spricht fantastisch Deutsch. Nur ein winziger Akzent ist zu hören.
»Nein, bei Puschkin«, antwortet Pia, die wieder rot geworden ist. Das passiert ihr nur sehr selten.
»Bei Pias Opa«, sagt Mama. »Er ist im Moment im …« – sie zögert eine Sekunde – »… im Urlaub. Pia zeigt dir alles.«
Zehn Minuten später sind Pablos Sachen eingeräumt. Er hat nicht viel mitgebracht: ein paar T-Shirts, einen dünnen Pullover, zwei Hosen, Unterwäsche, seine Fußballschuhe und deutsche und spanische Bücher.
»Du wirst frieren«, sagt Pia.
Er schüttelt den Kopf. »Ich friere nie.«
»Wie kalt wird es in Buenos Aires?«, will Pia wissen. »Im Winter, meine ich.«
»Zehn Grad.«
»Minus?«
»Nein, plus.«
»Du wirst frieren«, wiederholt sie und überlegt sich schon, welchen ihrer Pullover sie ihm leihen wird.
»Esst ihr eigentlich nie Fleisch?«, fragt er.
»Nur zu Ostern und zu Weihnachten«, antwortet sie. »Leider.«
»In Argentina essen wir immer Fleisch«, sagt Pablo.
»Ich werde mit Mama sprechen«, sagt Pia.
Während die beiden in Puschkins Wohnung sitzen und reden, lässt Pia ein Gedanke nicht los: Wann soll sie Pablo erzählen, dass Opa verhaftet worden ist? Jetzt sofort? Oder später?
Als ob der Junge Gedanken lesen könnte, fragt er: »Wohin ist dein Opa in Urlaub gefahren?«
»Ja … äh …«, stottert Pia.
»Weißt du das etwa nicht?«
»Natürlich weiß ich das«, sagt sie. »Er ist an der See.«
»Im Hotel?«
»Ja, ja.«
»Und wann kommt er zurück?«
»Keine Ahnung. Wahrscheinlich erst, wenn du nicht mehr da bist.«
Pablo schaut sie eine Weile schweigend an. Ob er Verdacht geschöpft hat? Um ihn abzulenken, fragt sie: »Kommst du morgen mit in die Schule?«
Pablo schüttelt den Kopf. »Heute Nacht schlafe ich bestimmt nicht. Wir haben in Argentina eine andere Zeit, ich muss mich erst umstellen.« Er lacht. »Ich will nicht gleich am ersten Tag in deiner Klasse einschlafen.«
»Dann frage ich meinen Klassenlehrer, ob ich dich ab Montag mitbringen darf. Na dann: Schlaf gut, Pablo.«
Er springt auf und macht Anstalten, sie wieder zu küssen. Doch diesmal ist sie darauf vorbereitet. Sie dreht den Kopf zur Seite, gibt ihm einen Klaps auf die Schulter und läuft aus der Wohnung.
Am Morgen geht es Puschkin schlecht. Er hat in der Nacht kaum geschlafen, das verflixte Rheuma hat ihn gezwickt wie lange nicht mehr. Außerdem hat er wieder mal von Buenos Aires geträumt. Von den breiten Boulevards. Vom Rio de la Plata und dem alten Hafen, in dem es bis in den letzten Winkel nach Fisch roch. Von den Tango-Cafés im Stadtviertel San Telmo. Von Carmen, in die er bis über beide Ohren verliebt war, die er mit nach Deutschland hatte nehmen wollen. Er hat von dem riesigen Gebäude der Nationalbank geträumt und von einem der größten Tresore, vor dem er je gestanden hat. Er hat sich im sechsten Stock an einem dünnen Seil hängen sehen. Und er hat von dem Gesicht eines Mannes geträumt, das er vergessen zu haben glaubte. »Mañana«, hat der Mann gesagt, ohne dabei den Mund zu öffnen, »mañana.« Puschkin ist vor Schreck aufgewacht und hat danach nicht mehr einschlafen können. »Morgen«, hat der Mann gesagt. Was hat das zu bedeuten?
Puschkin steht auf, schlurft zur Toilette und wäscht sich. Er hat wieder in Hose und Pullover geschlafen, für den dünnen Schlafanzug, den er in der Kleiderkammer bekommen hat, war es in der Nacht zu kalt. Inzwischen stinkt Puschkin wahrscheinlich wie ein ausgewachsenes Wildschwein. Es wird höchste Zeit für eine Dusche.
Von den Nachbarzellen her ist das Klappern von Besteck und Geschirr zu hören, gleich werden sie mit dem Frühstück bei ihm sein. Na, dann mal los! Puschkin zählt bis drei, hält die Luft an, stellt sich auf die Zehenspitzen und beginnt, mit angehaltenem Atem Kniebeugen zu machen. Nach der zehnten bleibt er tief unten in der Hocke, atmet aus, hält die Luft wieder an – und steht blitzschnell auf. Im selben Moment wird ihm schwarz vor Augen.
Als er zu sich kommt, liegt er in einem blütenweißen Bett. Die Matratze ist ein bisschen durchgelegen, aber bei Weitem nicht so schlimm wie die in seni er Zelle. Ein junger Arzt mit Pferdeschwanz und einem Brillanten im Ohrläppchen sitzt am Bett und fühlt Puschkins Puls. Vor den schmalen Fenstern gegenüber sind Gitter angebracht, demnach haben sie ihn in die Krankenstation der Untersuchungshaftanstalt gebracht.
»Wie geht es Ihnen?«, fragt der Arzt.
»Schlecht«, antwortet Puschkin. Das ist geschwindelt. Bis auf eine leichte Übelkeit fühlt er sich eigentlich ganz gut.
»Sie sind zusammengebrochen«, sagt der Arzt. »Zum Glück hat man Sie bei der Frühstücksausgabe gefunden. Ihr Herz ist nicht in Ordnung. Wir können Sie hier nicht behandeln, dafür sind wir nicht ausgerüstet.« Er schüttelt den Kopf. »Man sollte alte Leute wie Sie gar nicht mehr einsperren.«
Da bin ich ganz Ihrer Meinung, würde Puschkin jetzt am liebsten sagen. Stattdessen murmelt er: »Hafenkrankenhaus. Da war ich schon mal. Professor Klein kennt mich.«
»Ach, der Herzspezialist. Das ist gut.« Der Arzt steht auf und drückt Puschkin die Hand. »Ich werde veranlassen, dass Sie auf seine Station kommen. Und jetzt versuchen Sie, ein bisschen zu schlafen, ja?«
Als der Doktor aus der Tür ist, atmet Puschkin auf. Die ältesten Tricks sind immer noch die besten – vor allem, wenn man es mit Grünschnäbeln wie diesem Arzt zu tun hat. In spätestens einer Stunde wird er im Hafenkrankenhaus sein. Er wird ein paar Untersuchungen über sich ergehen lassen müssen und danach wird er in aller Ruhe den zweiten Teil des Plans in Angriff nehmen.
Während Puschkin auf seinen Abtransport ins Krankenhaus wartet, sitzt Pia im Lateinunterricht und versucht, sich zu konzentrieren. Latein gehört nicht gerade zu ihren starken Fächern. Außerdem schweifen ihre Gedanken immer wieder ab – und zwar nicht zu Pablo, der fest geschlafen hat, als sie aus dem Haus gegangen ist. Nein, sie muss an Puschkin denken. Im Vergleich zu dem, was ihr morgen bevorsteht, ist lateinische Grammatik das Unwichtigste von der Welt.
»Schläfst du, Pia?«, hört sie die Stimme von Herrn Lötscher, der auch ihr Klassenlehrer ist.
»N-n-nein«, antwortet sie.
Herr Lötscher ist einer der nettesten Lehrer der Schule. Er ist der einzige, dem es richtig wehtut, wenn er schlechte Noten geben muss. Außerdem bringt er mindestens zweimal im Monat selbst gebackenen Kuchen mit. Herr Lötscher backt leidenschaftlich gern. Das sieht man ihm an.
»Geht’s dir nicht gut?«, fragt er.
»Alles in Ordnung«, antwortet sie. Er nimmt seine Lesebrille ab. »Du musst aufpassen, Pia«,
sagt er. »Den Dativ solltest du beherrschen.«
»Ich strenge mich an, Herr Lötscher«, sagt sie und fragt dann: »Darf ich am Montag Pablo mitbringen? Er ist mein Brieffreund aus Argentinien und für eine Woche zu Besuch.«
»Spricht er denn Deutsch?«
»Besser als ich, Herr Lötscher.«
»Dann habe ich nichts dagegen.«
Später in der Stunde schiebt Rebecca eine Botschaft von Johannes zu Pia hinüber. Täglich schreibt er ihr einen Liebesbrief, obwohl sie es ihm schon tausend Mal verboten hat. Aber an diesem Tag steht nichts von dem üblichen »Du hast so schöne Haare!« oder »Du bist schöner als Nicole Kidman!« drin. Heute hat Johannes in seiner krakeligen Schrift geschrieben: »Was soll ich am Freitag tun?«
Sie reißt vorsichtig ein Blatt aus ihrem Heft und schreibt darauf: »Große Pause, Ecke Mülltonnen!« Dann faltet sie das Papier und lässt es über Rebecca, Anna und Eva zu Johannes hinüberwandern. Anna und Eva kichern, doch das stört Pia diesmal nicht.
Nach dem Klingeln wollen die anderen mehr über Pablo wissen.
»Sieht er gut aus?«, fragt Rebecca.
»Spielt er Fußball?«, fragt Micha.
»Wie lange bleibt er?«, fragt Anna.
Pia bläst die Backen auf und ruft: »Darf ich auch mal was sagen? Gut. Pablo sieht aus wie Hugh Grant, spielt Fußball wie Maradona und bleibt eine Woche. Alles klar?«
»Was soll ich tun, Pia?«, fragt Johannes, als sie sich endlich bei den Mülltonnen treffen. Dort sind sie ziemlich allein, nur zwei Fünftklässler spielen mit einem Tennisball Fußball.
Pia beißt ein großes Stück von ihrem Schulbrot ab und beginnt mit vollem Mund zu sprechen. »Du kannst doch gut Dialekte nachmachen«, nuschelt sie.
Johannes nickt. »Bayrisch, sächsisch, schwäbisch, fränkisch – was du willst.«
»Und deshalb rufst du am Freitag bei der Polizei an.«
»Bei der Polizei?«, ruft er und wird ein bisschen blass. Dann verzieht sich sein Gesicht zu einem Grinsen. »Jetzt verstehe ich. Ich soll die Polizei auf die falsche Fährte locken. Ich soll sie anrufen und ihnen sagen, dass ich Puschkin irgendwo gesehen habe.«
Sie nickt. »Und das nicht nur einmal. Schick sie rum, bis sie den Drehwurm kriegen.«
»Und jedes Mal soll ich einen anderen Dialekt sprechen, damit sie nicht merken, dass es immer derselbe Anrufer ist. Richtig?«
»Kluger Junge.«
»Und wenn sie mich fragen, warum mir Puschkin aufgefallen ist?«
»Sag ihnen, dass ein kahlköpfiger alter Mann in Nachthemd und Mantel durch die Gegend läuft. Erzähl ihnen, dass du dir Sorgen um ihn machst.«
Einen Moment denkt Johannes nach. »Ich muss wissen, wo ihr hinfahrt und wann ich anrufen soll«, sagt er dann.
»Du hast doch ein Handy«, sagt sie.
»Klar.«
»Auch einen Stadtplan?«
Er nickt.
»Ich versuche, mir das Handy von meiner Mutter zu leihen, und rufe dich an, sobald wir im Taxi sitzen. Wenn ich Norden sage, erzählst du der Polizei was von einer Straße im Süden. Und wenn ich Westen sage …«
»… was von Osten«, unterbricht sie Johannes. »Mensch, Pia, ich bin nicht blöd.« Er atmet tief ein und aus. »Junge, Junge«, murmelt er. »Mit dir ist es verdammt, verdammt …«
»… gefährlich?«, hilft ihm Pia.
Er nickt. »Und aufregend.« Nach einer Weile fügt er hinzu: »Und schön.«
Als sie nach dem Klingeln wieder in ihr Klassenzimmer gehen, fragt Johannes: »Und?«
»Was und?«
»Wie ist er?«
»Pablo? Er ist in Ordnung. Vielleicht ein bisschen … ach, ich weiß nicht … stürmisch oder so.«
»Stürmisch? Aha.« Johannes verzieht das Gesicht. Sie kann sich genau vorstellen, was er denkt. Dabei ist nichts zwischen ihr und Pablo. Außer der doofen Küsserei.