ÜBER
WorldView
»Hey, Fans!«, ruft Julia Nonne. »Ich grüße euch, ihr Nützlichen und Nutzlosen! Es ist mal wieder Zeit für DIE NACKTE WAHRHEIT ! Heute darf ich Hal Richter begrüßen, Chefentwickler bei What-I-Need!«
»Hallo, Julia, schön, dass ich hier sein darf.«
»Nun, wirklich hier bist du ja nicht. Oder jedenfalls nur als Hologramm.«
»Du musst verzeihen, Julia. Es ist nur meine schlimme Flugangst, die mich davon abgehalten hat, dich persönlich zu treffen.«
»Hal, wir wollen ein wenig über WorldView sprechen. Wie kam es zur Idee?«
»Am Anfang stand die Frage: Wie können wir die Unmenge an Daten, die wir haben, für die Menschen nutzbar machen? Wie können wir sie erfahrbar machen? Textbasiert kommt man da nicht weit. Wir müssen möglichst alle menschlichen Input-Ports mit Informationen beliefern. Es lag also nahe, einfach eine digitale Kopie der ganzen Welt zu schaffen. Gerade im VR -Modus kann man so ungleich schneller viel mehr Informationen aufnehmen.«
»Fast scheint mir, was du da beschreibst, war schon Thema einiger dystopischer Science-Fiction-Romane. «
»Ja, sicher! Und endlich ist es uns gelungen, das umzusetzen.«
»Ich denke da zum Beispiel an George Orwell geht shoppen von Kalliope 7.3.«
»Ich muss gestehen, den habe ich nicht gelesen.«
»Sehr gutes Buch. Leider ein Flop. Aber zurück zum Thema.«
»Ja also, wenn man WorldView betritt, kann man sich einfach an einen beliebigen Ort auf der Welt wünschen und in Echtzeit erleben, was dort gerade vorgeht. Wenn du dich zum Beispiel zum Brin-Brunnen im Herzen von QualityCity wünschst, siehst du nicht nur den Brunnen und die umliegenden Gebäude. Du siehst auch, wer dort gerade mit wem herumflaniert. Und wenn du nahe genug rangehst, hörst du sogar, was die Menschen dort sprechen.«
»Wie geht das?«
»Nun, viele Menschen benutzen unsere Geräte, nicht wahr? Ohrwürmer, Linsen, Smarms, Pads. All diese Geräte haben Mikrofone. Und durch unsere verbesserten Lippenlese-Algorithmen und die Voice-Recreation-Technologie von DeepFake Ltd., einem Start-up, das wir kürzlich gekauft haben, kann man in WorldView bald sogar Unterhaltungen mithören, auch wenn keines unserer Mikrofone in der Nähe sein sollte. Fehlende Informationen ergänzt das System automatisch durch Berechnungen. Doch natürlich versuchen wir zuerst einmal, echte Infos zu bekommen. Das heißt, wenn du dich an einen bestimmten Platz wünschst, dann werden umliegende Sensoren und Drohnen angewiesen, gezielt mehr Informationen zu deinem Fokus zu liefern. Extrafokus nennen wir das. «
»Das heißt, wenn ich am Fluss entlangjogge und sich plötzlich Drohnen über mir sammeln, dann beobachtet mich vielleicht gerade jemand in WorldView?«
»Nun ja, damit sich ein Schwarm Drohnen bildet, müsste dich schon mehr als einer beobachten. Aber das kann ich mir bei dir natürlich gut vorstellen.«
»Okay. Wow. Ich sollte in Zukunft besser genau aufpassen, was ich so von mir gebe.«
»Wenn es dafür nicht schon zu spät ist«, sagt Hal lachend. »WorldView funktioniert nämlich nicht nur für heute. Du kannst dich auch in die Vergangenheit zurückwünschen.«
»Ich kann also nicht nur erleben, was jetzt gerade am Brin-Brunnen geschieht, sondern auch, sagen wir mal, was vor zwei Wochen geschah?«
»Absolut. Die Daten sind ja da. Wo sollte das Problem liegen? Nur den Extrafokus, den wir in der Gegenwart liefern können, können wir im PastMode natürlich nicht mehr bereitstellen.«
»Wie weit kann ich denn in die Vergangenheit zurück? Sicher nicht unbegrenzt.«
»Nun ja, es ist schon so, dass wir über die Kabelzeit nur spärliche Daten haben, und davor wird es ganz finster, aber, wie gesagt, wir können viel simulieren. Du musst dir das vorstellen wie in einem Museum, in dem die fehlenden Knochen des ausgestellten Dinos durch graue Plastikdrucke ersetzt werden. Je weiter du in der Zeit zurückgehst, desto ›grauer‹ wird WorldView. Aber im Prinzip kannst du zurück bis zum Urknall. Davor ist es schwierig. «
»Du machst Scherze?«
»Nein, nein. Zugegeben, zwischen Heute und dem Urknall gibt es natürlich auch noch einige schwarze Flecken, aber wir arbeiten unter Hochdruck daran, historisch relevante Ereignisse aus Fotos, Filmen, Zeitungsberichten, ja sogar aus Ölgemälden und Hieroglyphen zu rekonstruieren. Wo immer wir einen Datenpunkt haben, dort soll es in WorldView auch etwas zu sehen geben.«
»Ich muss sagen, ich bin gleichermaßen begeistert und entsetzt!«
»Dabei habe ich das Beste noch gar nicht erzählt! In WorldView kannst du nämlich nicht nur in die Vergangenheit reisen.«
»Nein, nein, nein! Ich ahne, was du sagen willst, aber ich kann es nicht glauben!«
»Doch! Durch WorldView kannst du auch in die Zukunft sehen!«
»Wie geht das?«
»Der FutureMode ist natürlich komplett berechnet, also extrapoliert. Wir geben da keine Garantie drauf.« Hal lacht. »Es gibt aber viele Dinge, die mit ziemlicher Sicherheit geschehen werden. In fünf Minuten werden wir beide zum Beispiel sicherlich noch in diesen Stühlen sitzen und diskutieren.«
»Klar. Können wir da mal hinspringen?«
»Sehr gerne.«
Auf dem großen Bildschirm hinter Julia und dem holografischen Hal sehen die Zuschauer nun die errechnete Zukunft der beiden. Mit leicht veränderter Körperhaltung sitzen sie immer noch auf ihren Plätzen und diskutieren .
»Gut, ich sehe uns hier im Studio«, sagt Julia, »aber ich höre uns nicht sprechen!«
»Nun ja, Julia, das ist ein wenig viel verlangt, findest du nicht?« Hal lächelt. »Jedenfalls für die Betaversion.«
»Wow. Das sprengt gerade mein Gehirn. Die Einsatzmöglichkeiten sind ja unüberschaubar.«
»Sicher! Stell dir vor, du weißt immer, wo deine Angebetete in einer Stunde sein wird. Du könntest ihr ständig zufällig über den Weg laufen.«
»Der Traum aller Stalker …«
»Sei doch nicht gleich so negativ!«
»Und wenn ich mal nicht weiß, wohin mit mir, wenn ich nicht weiß, was ich tun soll, dann kann ich zur Inspiration einfach in die Zukunft springen und mir anschauen, was ich tun werde?«
»Na klar. Aber nicht traurig sein, wenn dir WorldView zeigt, dass du in zwei Stunden immer noch nutzlos auf der Couch rumlümmelst.«
»WorldView, zeig mir meine Zukunft. Was mache ich in zwölf Stunden?«
Auf dem großen Bildschirm sieht man Julia, die aus einem selbstfahrenden Auto steigt, um in ihrem Lieblingscafé einen Coffee-to-go zu bestellen.
»Das ist tatsächlich mein morgendliches Ritual!«, sagt Julia erstaunt. »Warum sind manche der anderen Kaffeetrinker fast durchsichtig? «
»Bei der Zukunft haben wir uns für einen Transparenzlook entschieden, das heißt, je unsicherer die Zukunft ist, desto transparenter wird die entsprechende Simulation.«
»Je weiter ich also in die Zukunft reise, desto transparenter wird alles?«
»Korrekt.«
»Wow. Wow. Wer soll das noch fassen können?«
»Ja, das ist schwer für uns Menschen. Aber jetzt stell dir vor, du würdest all das hier gleichzeitig sehen, das heißt jeden Ort in WorldView zu jeder Zeit, vergangen oder zukünftig, alles auf einmal. Dann kriegst du einen Eindruck davon, wie John of Us die Welt wahrgenommen hat.«
»Das Netz habe ihn selig.«
»Das Netz habe ihn selig.«
»Jetzt gibt es natürlich Proteste …«, beginnt Julia.
»Ach, Proteste. Gibt es die nicht immer?«
»Manche Kritiker sagen, dass die Menschen diese Art der Überwachung niemals akzeptieren werden.«
»Ach, das hat man auch gesagt, als Google anfing, alle E-Mails durchzulesen. Aber die Leute haben sich ziemlich schnell damit abgefunden.«
»Das heißt, ihr macht es wie üblich?«, fragt Julia.
»Wie üblich? «
»Ja, zuerst einmal macht ihr eine Deklaration. Ihr tut etwas und behauptet einfach, ihr hättet das Recht dazu. Wenn dann die erste Protestwelle schwappt, rudert ihr ein Stück zurück und baut ein paar kosmetische Änderungen ein.«
»Wir nehmen die Bedenken sehr ernst«, sagt Hal. Von seiner vorherigen Jovialität fehlt plötzlich jede Spur. »Datenschutz ist für uns bei What-I-Need nicht nur ein leeres Wort.«
»Im Gegenteil«, sagt Julia, »es ist eine fundamentale Gefahr für euer Geschäftsmodell.«
»Wir haben eine Opt-out-Möglichkeit für WorldView eingeführt!«, sagt Hal etwas verärgert. »Ich würde das nicht eine ›kosmetische Änderung‹ nennen.«
»Dieser Button ist zwar ziemlich versteckt, aber ja, man kann sich neuerdings abmelden. Allerdings funktioniert das nur in Privaträumen. Auf öffentlichen Plätzen gibt es vor WorldView kein Entkommen.«
»Aber Julia, ein öffentlicher Platz ist ein öffentlicher Platz, nicht wahr? Es liegt ja schon im Namen, dass es dort nicht heimlich zugeht.«
»Ihr setzt also wieder darauf, dass sich die Leute …«
Sie wird von dem Geräusch einer Explosion unterbrochen. Hals Hologramm flackert, dann ist es verschwunden.
»Hal?«, fragt Julia besorgt. »Hallo? Kannst du mich hören, Hal? Was ist passiert?«
Eine Bombe ist im Büro des Chefentwicklers von What-I-Need explodiert. Im gleich darauf veröffentlichten Bekennerschreiben haben die Maschinenstürmer hämisch auf folgenden »interessanten Fun Fact« hingewiesen: Entgegen der Prognose des FutureMode saß Hal, als fünf Minuten vergangen waren, gar nicht mehr auf seinem Stuhl. Und mit Julia diskutieren würde er auch nie wieder.