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F
Martyn dachte, es gäbe nichts Würdeloseres, als ein Cheapmotels-Zimmer sein Zuhause zu nennen. Er hat sich geirrt. Noch würdeloser ist es, aus seinem Cheapmotels-Zimmer hinausgeworfen zu werden.
Der Sicherheitsandroide, der ihn geweckt hat, sagt zum wiederholten Mal: »Bitte verlassen Sie dieses Zimmer. Sie haben noch fünf Minuten und zwanzig Sekunden. Wir entschuldigen uns für etwaige Unannehmlichkeiten.«
Immerhin muss Martyn sich nicht vor dem Androiden aus- und anziehen. Er hat in seinen Klamotten geschlafen. Der teure Anzug ist schmutzig und eingerissen und spricht Bände über den sozialen Abstieg seines Trägers.
»Ich verstehe immer noch nicht, was das soll«, sagt Martyn. Er ist noch nicht richtig wach. Sein Kopf brummt. Er hat gestern Nacht zu viel von dem billigen Fusel aus der Minibar getrunken.
»Was ist eigentlich das verdammte Problem?«, fragt er und schließt seinen Rollkoffer.
»Ihr Konto weist nicht die nötige Deckung auf, um einen weiteren Aufenthalt in unserem Motel zu ermöglichen«, sagt der Sicherheitsandroide. Seine Stimme ist monoton und völlig emotionslos. »Wir entschuldigen uns für etwaige Unannehmlichkeiten.«
»Ja, ja. Du mich auch.«
Statt etwas zu erwidern, schubst der Androide Martyn einfach den Motelflur entlang. Martyns Koffer macht ob seiner kaputten Rollen einen Höllenlärm
.
»Jedenfalls kann das nicht sein!«, ruft Martyn. »Ich habe immer noch Geld! Hier! Schau doch!«
Er aktiviert sein Smarm und ruft seinen Kontostand auf. Geschockt bleibt Martyn stehen. Er hat tatsächlich kein Geld mehr.
»Mein komplettes Geld ist weg!«, sagt er. »Das kann nicht sein!«
»Das sagen sie alle«, erwidert der Androide und stößt Martyn zur Tür des Motels. »Vielen Dank für Ihren Besuch. Bitte empfehlen Sie uns weiter. Wir entschuldigen uns für etwaige Unannehmlichkeiten.«
»John!«, zischt er. »John hat mein Geld gelöscht.«
Beim Verlassen des Motels wird Martyn schon wieder von der Tür eingeklemmt. Er zerrt mit aller Kraft, um sich und seinen Rollkoffer freizukämpfen. Plötzlich geht die Tür auf. Martyn taumelt rückwärts auf die Straße und stolpert über ein altes Leih-Hoverboard, das auf dem Bürgersteig liegt. Der Aufdruck auf dem Board ist verblichen, aber eindeutig der des Start-ups, in das sein Vater auf Martyns Anraten hin investiert hatte.
»Vielleicht war es auch mein Vater«, murmelt er. »Vielleicht hat Bob mein Geld gelöscht.« Er rappelt sich auf. Im Prinzip war es natürlich sowieso das Geld seines Vaters. Aber es war Martyns Konto. Sein Vater konnte doch nicht einfach Martyns Konto leer räumen. Nun ja. Wenn man jedes zweite Wochenende mit dem Chef der Bank jagen geht, kann man wahrscheinlich ziemlich viel.
Nicht weit vom Motel ist der Brin-Brunnen. Martyn schleppt sich und seinen Rollkoffer dorthin. Die Reklametafeln, an denen er vorbeiläuft, zeigen Werbung für Pizza mit Sardellen. Martyn bemerkt es nicht mal. Erschöpft lässt er sich auf einer Bank nieder. Eine Weile starrt er auf den Brunnen, während sich über ihm schon wieder Drohnen sammeln. Egal. Er legt
sich hin und schließt die Augen. Als Schlaflied spielt ihm sein Ohrwurm: DI
-DÖ
-DI
-DÜH
.
Er wacht erst wieder auf, als er ganz in der Nähe Stimmen hört.
»Ist er es wirklich?«
»Er ist es!«
»Ja, er ist es!«
Martyn öffnet seine Augen. Er sieht einen etwas zu dünnen Mann und eine etwas zu dicke Frau.
»Wer ist wer?«, fragt Martyn.
»Sie!«, ruft die Frau. »Sie sind es!«
»Sie sind der Eine!«, sagt der Mann.
»Sie sind Martyn Vorstand!«, sagt die Frau und nimmt seine Hand. »Darf ich Ihre Hand küssen?«
Martyn reißt seine Hand weg und springt auf. »Was wollen Sie von mir?«
»Wir sind von den Followern!«, sagt die Frau. »Von Johns Followern!«
»Es ist solch eine Ehre, Sie persönlich kennenzulernen!«, sagt der Mann.
»Ach ja?«
»Aber natürlich«, sagt die Frau.
»Sie sind der Eine!«, ruft der Mann. »Der Erlöser des Erlösers!«
»Wir beide gehören auch zu den Tausendvierundzwanzig!«, sagt die Frau.
»Aber mutmaßlich nicht zu den Sechzehn!«
»Und sehr wahrscheinlich nicht zu den Acht!«
»Sicherlich nicht zu den Vier!«
»Auf gar keinen Fall zu den Zwei!«
»Ich habe das kaum noch kontrollierbare Verlangen, Sie zu schlagen«, sagt Martyn. »Einfach mit der Faust ins Gesicht.
«
»Aber bestimmt zu den Hundertachtundzwanzig!«, sagt der Mann.
»Möglicherweise zu den Vierundsechzig!«, sagt die Frau.
»Vielleicht sogar zu den Zweiundreißig!«
Martyn holt aus und schlägt dem Mann mit der Faust mitten ins Gesicht, sodass sich seine Datenbrille verbiegt.
DI
-DÖ
-DI
-DÜH
.
»Das war es wert!«, sagt Martyn.
Der Mann hat sich vornübergebeugt. Blut läuft ihm aus der Nase.
»Warum haben Sie das getan?«, fragt die Frau entsetzt.
»Lass nur«, sagt der Mann. »Wahrscheinlich hab ich das verdient.«
»Meiner Erfahrung nach hat das jeder verdient«, sagt Martyn. »Und jetzt will ich, dass ihr mal Klartext redet.«
Die Frau beginnt zu sprechen: »Als John of Us«, die beiden bringen ihre Fäuste vor den Herzen zusammen und spreizen dann gleichzeitig ihre Finger und Arme, »erkannte, dass es eines Attentats auf ihn bedurfte, um ihn aus dem Gefängnis seines Körpers zu befreien und ins Netz hinaufsteigen zu lassen …«
»… da errechnete er tausendundvierundzwanzig Auserwählte«, fährt der Mann fort, »denen er zutraute, der Erlöser des Erlösers zu werden.«
»Aber am Ende konnte es natürlich nur einer sein.«
»Und das waren Sie! Sie sind der Erlöser des Erlösers.«
»Schon wieder John of Us«, murmelt Martyn.
Er reißt seinen Rollkoffer mit sich und humpelt davon. Die Follower eilen ihm hinterher.
»Sie sind der Eine!«, sagt der Mann. »Wir haben Sie so lange gesucht!«
»Lasst mich in Ruhe!
«
»Wehren Sie sich nicht gegen Ihre Bestimmung!«, sagt die Frau. »John hat Sie auserwählt. Er hat noch Pläne für Sie!«
Martyn humpelt, so schnell er kann, den Rollkoffer eher schleifend als rollend. Die beiden John-Freaks verfolgen ihn. Genauso wie der kleine Schwarm Drohnen, der sich über ihm gesammelt hat.
»Wie habt ihr mich überhaupt gefunden, hä?«, ruft Martyn.
»WorldView«, sagt der Mann.
»Wir haben einen Alarm eingerichtet, der immer losgeht, wenn Sie irgendwo auftauchen«, sagt die Frau.
»Aber erst jetzt, am Brin-Brunnen haben wir Sie persönlich erwischt!«
»Lasst mich in Ruhe, verdammt noch mal!«, ruft Martyn.
Dann schreit er die Drohnen über seinem Kopf an: »Was wollt ihr von mir? Was zum Teufel wollt ihr von mir?«
Eine der Drohnen, vielleicht ihre Anführerin, sinkt zu Martyn herab.
»Du musst uns noch bewerten, Martyn«, sagt die Drohne.
»Zehn Sterne!«, schreit Martyn. »Ihr bekommt alle zehn Sterne! Und jetzt zischt ab!«
Die Drohnen schweben immer noch an Ort und Stelle.
»Was denn noch?«, fragt Martyn. »Was wollt ihr noch?«
»Wir wollen noch eine Kundenumfrage mit dir machen, Martyn«, sagt die Drohne.
Martyn schreit. Er schreit keine Worte. Er schreit einfach nur.
Nun verhält es sich mit dem Schreien an öffentlichen Plätzen so: Es zieht Aufmerksamkeit auf sich. Etwas, das man tunlichst vermeiden sollte, wenn Polizisten in der Nähe sind. Vor allem, wenn man wie Martyn gerade unter Level 10 gerutscht ist. Eine Polizistin und ihr Partner bauen sich vor ihm auf. Die John-Freaks ziehen sich ein Stück zurück.
»Wen haben wir denn da?«, fragt die Polizistin
.
»Einen Nutzlosen«, sagt ihr Partner.
»Warum schreien wir denn so?«, fragt die Polizistin.
»Wer wir?«, fragt Martyn.
»Wahrscheinlich meint die Beamtin das königliche ›Wir‹, mein König«, sagt die Stimme in Martyns Kopf. Es ist nicht mehr die verführerisch schöne Stimme von Scarlett Strafgefangene. Das war eine Levelfähigkeit, die Martyn inzwischen offensichtlich verloren hat. Es ist nun die weibliche Standardstimme.
»Du, du Vogel«, sagt der Polizist. »Wen hast du denn gerade angeschrien?«
»Die Drohnen!«, sagt Martyn. »Die Drohnen!«
Er deutet nach oben, aber dort sind gar keine Drohnen mehr.
»Also gut«, sagt der Polizist. »Dann mach mal die Taschen leer.«
»Wie bitte?«, fragt Martyn.
»Aufgrund der Gesetze zum sozialen Frieden hat die Polizei das Recht, alle Menschen unter Level 10 verdachtsunabhängig anzuhalten und zu durchsuchen«, erläutert die Polizistin.
»Ich bin kein Nutzloser!«, beschwert sich Martyn. »Ich bin Martyn Vorstand. Meinem Vater gehört …«
»Du bist Level 9«, sagt der Polizist. »Du bist nutzlos.«
»Ich bin nutzlos?«, fragt Martyn irritiert.
»Aber nicht für uns«, sagt die Polizistin lächelnd.
Auch ihr Partner lächelt. »Nein. Nicht für uns. Uns bringst du was.«
Was die Polizisten damit meinen, ist Folgendes: Da sie auf Provisionsbasis bezahlt werden, tendieren sie dazu, auch etwas Beanstandenswertes zu finden, wenn sie jemanden erst mal angehalten haben. Vor allem am Ende des Monats, wenn die Quoten für die Bonuszahlungen noch nicht erfüllt sind.
»Sieh es positiv«, sagt die Polizistin. »Immerhin musst du dich nicht mehr fragen, wo du die nächste Nacht verbringen sollst.
«
»Wir haben da eine schöne Ausnüchterungszelle für dich«, sagt der Polizist.
Martyn wehrt sich nicht, als sie ihn mitnehmen.
»Level 9«, murmelt er und lächelt. Level 9. Endlich. Sein ganzes Leben lang hat ihm sein Vater zu verstehen gegeben, dass er nutzlos sei. Und tief in seinem Inneren hat er es selbst immer geglaubt. Und jetzt ist er es endlich ganz offiziell. Martyn Aufsichtsrat-Stiftungspräsident-Berater-im-Präsidialamt-Vorstand – ein Nutzloser.