Norfolk, England – Mai 2018

Daniel schlendert am Strand entlang zum Café, kauft zwei Eis und läuft zurück.

Vanille mit Himbeersoße, sagt er.

Perfekt, sagt Rae.

Sie wartet, bis er wieder sitzt und es sich bequem gemacht hat, bevor sie ihre nächste Frage stellt. Sie will so viele Dinge wissen und hat Angst, dass die Zeit nicht reicht.

Ihr wart also in Wales, sagt sie. Und wie bist du dann im Südwesten gelandet?

Ich habe eine Nadel in eine Landkarte gesteckt, erwidert er.

Du hast was?

Mum und ich hatten einen Riesenstreit. Sie wollte, dass ich studiere, aber ich hatte keine Lust. Dann hat es irgendwie geknallt. Ich habe ihr gesagt, ich gehe, und das habe ich auch getan.

Er lacht, doch es ist gar kein Lachen, sondern Trauer und Fassungslosigkeit, ein Stakkatoseufzer. Er denkt zurück an jenen Sommer, seine Mutter hatte sich die Haare rot gefärbt und war wie besessen vom anatomischen Zeichnen, brachte unentwegt Skizzen von Haut, Muskeln, Knochen nach Hause.

Sie meinte, dass ich eh nie gehen würde. Meinte, ich wäre kindisch.

Seine Erinnerung ist nah dran, aber nicht ganz korrekt.

Tatsächlich hatte Eve Berry gesagt: Du wirfst Spielsachen aus deinem Kinderwagen, weiter nichts.

Dieser Satz, dieser unerträgliche Satz. Sie wusste doch, wie sehr er die Schule hasste, wie kam sie nur auf die Idee, dass er studieren wollte? Er war nicht wie sie. Und alles, was ihr dazu einfiel, war, ihn mit einem schreienden Kleinkind zu vergleichen.

Blöde Kuh, sagte er. Ich gehe.

Eve folgte ihm auf den Fersen, als er in Annas Arbeitszimmer rannte, die gerahmte Karte von Großbritannien von der Wand riss, auf den Fußboden warf und das Glas mit dem Fuß zertrat. Er richtete den Rahmen auf und schüttelte ihn so, dass ein Teil der Scherben herausfiel, ein zackiges Loch hinterließ und ein Stück Papier freigab. Dann schnappte er sich einen Pin von Annas Schreibtisch und drückte ihn hinein: Somerset.

Du machst dich lächerlich, sagte Eve. Und du hast dich in die Hand geschnitten, guck mal.

Überrascht starrte er auf sein Blut. Er hatte nichts von dem Schnitt bemerkt, er war glühend und gefühllos, ein Pfeil im Flug, sonst nichts. Noch war er nicht weg, aber er war schon unterwegs.

Und das war’s?, fragt Rae, dann bist du einfach gegangen?

Mehr oder weniger, sagt Daniel. Es war nicht aus dem Moment heraus, wir hatten uns schon vorher die ganze Zeit gestritten.

Warum?

Na ja, entweder war sie mit dem Studium beschäftigt und nie da, oder sie hat mich herumkommandiert. Du kannst nicht ständig weg sein und gleichzeitig jemandem vorschreiben, wie er sein Leben führen soll.

Er erzählt ihr, dass Anna ihm einen alten Fiat Panda schenkte, als er seinen Führerschein gemacht hatte, ohne zu ahnen, dass das Auto für eine Weile sein Zuhause sein würde.

Was soll das heißen?, fragt Rae.

Das soll heißen, dass ich darin geschlafen habe, antwortet er. Bis ich einen Job gefunden hatte und mir eine Wohnung leisten konnte. Ich habe in einem Laden einen Zettel ins Fenster gehängt, dass ich Maler- und Tapezierarbeiten übernehme. Irgendwann bekam ich immer mehr Aufträge, und dann habe ich es als Vollzeitjob gemacht.

Daniel, das ist ja schrecklich.

Wieso, mir hat es gefallen. Es ist ausgesprochen befriedigend zu sehen, wie ein Haus sich verwandelt.

Das meine ich nicht, sagt sie. Es ist toll, dass du dich selbstständig gemacht hast. Aber dann warst du ja schon zweimal obdachlos. Das tut mir so leid.

Lass uns nicht davon anfangen. Erzähl lieber mal von dir, sagt er.

Letzte Woche hast du also draußen geschlafen, sagt sie, ohne auf sein Ablenkungsmanöver einzugehen. Weiß deine Mum davon?

Nein.

Darf ich fragen, was passiert ist?

Der Vermieter hat uns rausgeworfen, mit zwei Monaten Kündigungsfrist.

Dich und Erica.

Ja. Unser Zuhause ist jetzt ein Ferienhaus. Es ist das dritte Mal, dass mir das passiert ist, obwohl die Leute meistens verkaufen wollen. Er ist vorbeigekommen, um es uns persönlich zu sagen, hat uns sechs Flaschen Craft Beer in einer edlen Holzkiste mitgebracht.

Als Besänftigungsversuch, sagt sie. Habt ihr es getrunken?

Na klar, sagt er. Es war gutes Bier. Außerdem hatte Erica sich gerade von mir getrennt. Am selben Tag. Ich hätte alles getrunken.

Er denkt an das Rotkehlchen, das immer bei ihnen im Garten war, vor allem wenn er Unkraut zupfte, den Boden umgrub oder etwas Neues pflanzte. Sobald er fertig war, hüpfte es durch die Beete, suchte nach Würmern und begutachtete sein Werk. Oft war es noch da, wenn er längst hineingegangen war, um sich umzuziehen und das Abendessen vorzubereiten. Mikey ist noch beschäftigt, sagte Erica dann, wenn sie beim Geschirrspülen aus dem Fenster sah. Es ärgerte ihn, dass sie das Rotkehlchen immer Mikey nannte, als gehörte es ihr persönlich.

Rae sieht nachdenklich aus, sie schüttelt den Kopf. Diese Erica hat sich ja den perfekten Zeitpunkt ausgesucht.

So war das nicht, sagt Daniel. Sie wollte einfach nicht mehr mit mir zusammenleben, sich nicht dauerhaft binden. Ich glaube, für sie war es wie ein Zeichen. Außerdem ist in Wirklichkeit alles Mums Schuld.

Wieso das denn?

Nachdem meine sogenannte Großmutter aufgetaucht war, haben Erica und ich uns nur noch gestritten. Wenn Mum nicht gelogen hätte, wäre nichts von alldem passiert.

Bist du sicher?, fragt Rae. Worüber habt ihr euch denn gestritten?

Anscheinend war sie unglücklich, antwortet er. Aber sie hat mir nie etwas davon gesagt, ich hatte keine Ahnung.

Er hält inne, fragt sich, ob er nicht doch eine Art dunkle Vorahnung gehabt hat.

Er liebt diesen Ausdruck, dunkle Vorahnung, weil es darin um die Wahrheit geht, die aber dort ist, wo sie seiner Ansicht nach hingehört: unter die Oberfläche, zusammen mit all den geheimnisvollen Untertönen, und nur ab und zu erspäht man das Verborgene durch eine Andeutung, ein Gespür, eine Ahnung.

Er stellt sich Ericas Unglücklichsein als eine kleine Gestalt vor, die am Eingang zu einem Festival steht. Sie drückt einen Stempel auf seinen Handrücken. Jetzt haben Sie jederzeit Zutritt zum Festival des Unglücklichseins, sagt sie. Kommen Sie und gehen Sie, ganz wie Sie mögen.

Ja, er hatte eine dunkle Vorahnung gehabt, dass etwas nicht stimmte, natürlich hatte er das. Aber gibt es nicht immer irgendetwas, das nicht stimmt? Oder, anders ausgedrückt, ist es nicht normal, so eine Ahnung zu haben?

Ist alles in Ordnung?, fragt Rae.

Ja, sagt er. Entschuldige, ich habe nur gerade an Erica gedacht. Sie gehört zu denen, die immer auf der Suche sind, verstehst du? Sie ist nie wirklich angekommen.

Rae nimmt ein Päckchen Feuchttücher aus ihrer Tasche und wischt sich die Finger ab. Willst du auch?

Ja, danke.

Es gefällt ihm, dass sie Feuchttücher dabeihat.

Warum hast du nicht bei einem Freund auf dem Sofa geschlafen?, fragt sie. Couchsurfing wäre doch bestimmt besser gewesen, als unter einem Baum zu schlafen.

Meine Güte, ist das ein Verhör?, entgegnet er mit gespielter Entrüstung.

Tut mir leid. Sag mir einfach, wenn ich die Klappe halten soll.

Ich hasse diesen Ausdruck, Couchsurfing. Das klingt so, als wäre es cool, kein Zuhause zu haben, als wäre es ein Hobby, eine Lifestyle-Beschäftigung.

Ich verstehe.

Außerdem, sagt er, während er sein Eis isst, Mint Chocolate Chip, bin ich nicht so gut darin, Freundschaften zu schließen, wenn du verstehst, was ich meine. Du musst mich nicht gleich verurteilen, ich sehe, was in deinem Kopf vor sich geht.

Nichts dergleichen, ich bin die Letzte, die jemanden verurteilen würde, widerspricht Rae. Weißt du, wie es dazu gekommen ist, dass ich für FaZ arbeite?

Hast du doch erzählt, du hast jemanden geohrfeigt.

Ja, aber nicht nur das. Ich habe der Firma bei der Weiterentwicklung geholfen, bin so eine Art Expertin geworden.

Daniel sieht verwirrt aus.

Ich war ihre beste Kundin, sagt sie. Ich habe ständig Fremde gebucht.

Oh, sagt er überrascht.

Versteh mich nicht falsch, ich habe durchaus Freunde. Aber mir fehlt irgendwie die nötige Begeisterung für Freundschaften.

Ja, sagt er und nickt. Es ist nicht leicht, sich zu begeistern. So ganz allgemein.

Genau. Um ehrlich zu sein, leide ich unter einem chronischen Mangel an Begeisterung, was die meisten Leute angeht.

Ich auch, sagt er. Es gefällt ihm, wie oft sie einen Satz mit um ehrlich zu sein beginnt. Versteh mich nicht falsch, sagt er, für einen schönen Baum jederzeit, ich bin ja nicht gefühllos.

Sie lächelt. Das dachte ich mir schon, sagt sie.

Als er erneut eindöst, fragt sie sich, wie schläfrig er wohl ist, wenn er die Nächte nicht draußen verbringt. Wenn sein Leben normal läuft.

Dann fragt sie sich, was sie damit eigentlich meint, dass ein Leben normal läuft: wie ein Auto oder Zug, pünktlich, nach Plan?

Absurd, denkt sie.

Und doch weiß sie, wie sich eine Entgleisung anfühlt.

Und es ist interessant, hier zu sitzen und neben diesem schlafenden Mann aufs Meer zu blicken.

Es ist ungemein und wahnsinnig interessant.

Sie liegen auf dem Rücken und betrachten die Wolken.

Daniel hat Leslies Panorama-Sonnenbrille aufgesetzt, sie verleiht dem Himmel einen Bernsteinton.

Sie hören Möwen, Stimmen, einen Ball, der geworfen und gefangen wird, immer wieder.

Was du mich vorhin gefragt hast, sagt er. Warum ich nicht bei einem Freund untergekommen bin.

Hmm, sagt Rae.

Ich hab da eben mal drüber nachgedacht. Wenn ich bei einem Freund oder einem Bekannten auf dem Sofa geschlafen hätte, wäre es schwierig gewesen, dem Ganzen ein Ende zu setzen, falls mir der Gedanke gekommen wäre.

Dem Ganzen ein Ende zu setzen? Du meinst –

Ja. Mir. Meinem Dasein.

War das dein Plan?

Er hat erwartet, dass sie schockiert sein würde, entsetzt, verfinstert durch seine Finsternis.

Es gab keinen Plan, sagt er. Aber es war wohl ein Teil der Gemengelage.

Verstehe, sagt sie.

Außerdem war es, als würde mein ganzer Körper einfach Nein sagen, als würde alles in mir dichtmachen. Ich habe gar nicht nachgedacht.

Er blickt hoch zu den kreischenden Vögeln.

Ein Gezänk Möwen, sagt er.

Was Rae wieder an Eve erinnert. Und eine Erinnerung befreit die nächste, wie ein Affe, der seinem Käfig entkommen ist und durch die Korridore läuft, einen Schlüsselbund in seinen behaarten Händen: ein Pandämonium Erinnerungen.

Weißt du noch, wie deine Mum an Weihnachten so betrunken war, dass sie versucht hat, auf einem der Flamingos in unserem Vorgarten zu reiten?, fragt Rae. Wir haben immer noch das Foto davon. Du hast dauernd auf den Dingern gesessen.

Was ist eigentlich aus den Flamingos geworden?

Sie sind im Schuppen. Dad kann sich nicht von ihnen trennen. Die sind tonnenschwer, das glaubt man gar nicht. Aber wir schweifen ab.

Er fragt sie, ob ihre Arbeit für FaZ gut bezahlt ist, und sie bejaht das. Was das angeht, lässt sich ihre Chefin Sally Canto nicht lumpen.

Ich habe keine klugen Entscheidungen getroffen, sagt er. In vielerlei Hinsicht, aber vor allem beim Geld. Ich hätte mir schon vor Jahren ein kleines Haus kaufen sollen, vor meinem großen Abstieg.

Sie fragt ihn nach seiner Arbeit, ob es schwer ist, an Aufträge zu kommen.

Mund-zu-Mund-Propaganda, sagt er, das ist das A und O. Ich bin eigentlich ganz gut zurechtgekommen. Aber ich habe jetzt seit drei Monaten nichts mehr gemacht. Alles abgesagt, behauptet, ich wäre krank.

Vielleicht warst du das ja auch, sagt Rae. Das ist doch nichts Schlimmes.

Unpässlich, sagt er.

Das ist ein großartiges Wort, sagt sie. Es beschreibt mit so wenig Mühe so viel. Sehr treffend, oder?

Der Mann leidet an akuter Unpässlichkeit, sagt Daniel in hochnäsigem Tonfall.

Wenn du mich fragst, sagt Rae, sollte es viel öfter benutzt werden. Ich gehe manchmal zu einer Therapeutin namens Camille. Sie weigert sich, das Wort Depression zu verwenden. Sie fängt immer wieder davon an, wie wichtig Sprache ist, sie sagt, die passenden Worte sind eine Art Befreiung, und manchmal brauchen die Worte ein bisschen Drama. Wenn es jemandem also richtig schlecht geht, so schlecht, dass es ihm egal ist, ob er lebt oder stirbt, dann, sagt sie, leidet er an einem schweren Fall von Melancholie, an unüberwindlicher Traurigkeit, quälender Verzagtheit oder einem lähmenden Gefühl von Furcht und düsterer Vorahnung.

Interessant, sagt er.

Daniel kann sich nicht erinnern, wann er zuletzt binnen eines Tages so viel gesprochen hat. Er ist kein großer Redner. Das ist eines der vielen Dinge, die er von sich selbst glaubt.

Und diese Sprache heute fühlt sich an wie Luft, die durch sein Alleinsein weht.

Rae beugt sich vor und malt mit dem Finger eine Linie in den Sand. Es ist keine harte, gerade, unbeirrbare Linie, sondern eine geschwungene, fröhliche, wie eine Schallwelle, Vibrationen in der Luft. Es gibt ein Hoch und ein Tief und noch ein Hoch; einen Gipfel, einen Abhang, und dann geht’s wieder nach oben. Es ist eine Linie voll Abwechslung, voll Hoffnung.

Sie wendet sich um.

Wie ziehst du die Linie?, sagt sie. Das ist die Frage, oder? Du hättest beinahe eine harte Linie gezogen, es hätte das Ende von Daniel Berry sein können. Was bedeutet, dass ich den Nachmittag mit einem Mann verbringe, der beinahe nicht mehr existiert hätte. Und was hätte ich dann getan?

Etwas Besseres, sagt er.

Nein, definitiv nicht.

Er lächelt.

Und sie sieht dieses besondere Lächeln über sein Gesicht huschen.

Wie etwas, das sie gerne behalten möchte.

Wie etwas wirklich sehr Schönes.

Es verändert ihn, lässt ihn zugleich älter und jünger wirken.

Hast du schon mal eine richtig schlimme Trennung durchgemacht?, fragt er.

Wenn du meinst, ob mir schon mal jemand das Herz gebrochen hat, dann nein, bisher nicht. Aber was nicht ist, kann ja noch werden.

Mach keine Witze darüber, sagt er. Das ist wirklich nicht witzig, glaub mir.

Wie heißt Erica mit Nachnamen?

Yu. Erica Yu.

Das ist besser, sagt sie. Ich finde, du solltest von jetzt an immer ihren vollen Namen verwenden. Ungewohntes ist gut fürs Gehirn. Mach etwas anders, und wenn es nur eine Kleinigkeit ist. Denk Erica neu. Rüttel da oben mal alles durch.

Sie klopft ihm an den Kopf, eins zwei drei.

Du hältst mich bestimmt für einen totalen Loser, sagt er.

Daniel, weißt du eigentlich, mit wem du hier redest?

Mit wem denn?

Du redest mit jemandem, der einen Fremden als Begleitung für das Leonard-Cohen-Konzert gebucht hat, sagt sie. Das war 2008, und seither tue ich so was ständig.

Warum bist du nicht allein hingegangen?

Keine Ahnung. Normalerweise macht es mir nichts aus, Dinge allein zu tun.

Ich liebe Leonard Cohen, sagt er.

Ich auch, sagt sie. Willst du noch einen Keks?

Warum nicht.

Sie verschwinden abwechselnd in die Dünen. Das ist näher als die öffentlichen Toiletten, und alle machen es so.

Ein Stück weiter sind die FKKler, so, wie Gott sie geschaffen hat.

Daniel hört im Geist Raes Stimme: Mach etwas anders, das ist gut fürs Gehirn.

Und so sagt er sich an diesem Nachmittag, was soll’s, und geht ein Stück weiter in die Dünen.

Und jetzt ist auch er nackt, nur für ein paar Minuten.

Er hat all die Wörter für Nacktheit schon immer geliebt: nackig, nackert, pudelnackt, splitternackt, splitterfasernackt.

Er ist so nackt wie am Tag seiner Geburt, und da ist Sand unter seinen Füßen, und woher plötzlich diese Freude an Wörtern? Sie kommen aus dem Nichts, diese überraschenden Wörter, brechen durch seine karge Stimmung wie ein Schwung leuchtend bunter Blumen auf einem Kiesstrand.