Alexandria war eine von mehreren Städten gleichen Namens, die Alexander der Große gründete. Gesehen hat Alexander sie nie, doch wurde er dort begraben. Unter König Ptolemaios I. (322–283 v. Chr.), dem ehemaligen Freund und Feldherrn Alexanders, wurde Alexandria die Hauptstadt Ägyptens. Ptolemaios und seine Nachfolger waren der Wissenschaft sehr zugewandt. Sie gründeten die große Bibliothek und das Museion, das Haus der Musen, eine schnell berühmt werdende wissenschaftliche Akademie im Palastbezirk. Damit schafften sie ideale Wirkungsbedingungen für Wissenschaftler aller Sparten, aber besonders bekannt wurde Alexandria durch seine medizinische Schule. Die Herrscher ließen sehr viel Geld in ihre Wissenschaftsinstitutionen fließen und lockten so zahlreiche berühmte Ärzte an, die hier ungehindert forschen und lehren konnten. Damit nahm die hellenistische Medizin einen enormen Aufschwung. Auch das Corpus Hippocraticum wurde vermutlich hier zusammengestellt. Unter den Ärzten Herophilos und Erasistratos (siehe Ärzteporträts S. 42 und 43), denen die Ptolemaierherrscher Sektionen an Menschen, aber auch Vivisektionen an verurteilten Verbrechern erlaubten, erweiterten sich besonders die anatomischen und physiologischen Kenntnisse; auch die Chirurgie entwickelte sich nun in großen Sprüngen. Die Akademie hatte ihre glanzvolle Hoch-Zeit erreicht. Alexandria wurde unter den Ptolemaiern das Zentrum der Wissenschaft der bekannten Welt.
Im Jahr 47 v. Chr. ging die Bibliothek im Zuge einer Strafaktion Caesars in Flammen auf. Nach erheblichen Verlusten an wertvollen Schriftrollen wurde sie daraufhin mit der Bibliothek von Pergamon zusammengelegt. Nach der Schlacht von Aktium, 30 v. Chr., wurde Ägypten römische Provinz, Alexandria verlor ein wenig an Glanz, aber bis zur Spätantike drängte es junge Wissenschaftler, dort zu studieren. Bis zur Zerstörung der Akademie war Alexandria die beste und berühmteste Ausbildungsstätte für Ärzte. Alexandrias Ruf als kulturelles und wissenschaftliches Zentrum der Antike wirkte lange nach und blieb bis heute erhalten.
Erasistratos von Keos – der Arzt, der über Leichen ging
Erasistratos wurde um 320/310 v. Chr. auf der Kykladeninsel Keos als Sohn des Arztes Kleombrotos geboren. Zusammen mit dem Schwiegersohn des Aristoteles, Metrodoros, studierte er bei Chrysippos von Knidos und schloss sich eng an die knidische Schule an. Er interessierte sich für das gesamte Spektrum der Medizin. Leider sind uns nur noch wenige Titel seines äußerst umfangreichen Werkes überliefert.
Als junger Mann wurde er Hofarzt des Königs Seleukos I. Nikator von Syrien in Antiochia. Angeblich diagnostizierte er dort bei dem Seleukidenprinzen Antiochos durch Fühlen des Pulses die lebensbedrohliche Liebeskrankheit. Der Prinz war nämlich unsterblich in die Frau seines Vaters, Stratonike, verliebt. Erasistratos gelang es, den König dazu zu überreden, Stratonike seinem Sohn abzutreten, der sie unverzüglich heiratete und dadurch geheilt wurde. Ob die junge Frau damit einverstanden war? Das ist uns leider nicht überliefert.
Später wirkte Erasistratos in Alexandria. Die Ptolemäerherrscher erlaubten ihm, für seine Studien Vivisektionen an verurteilten Verbrechern vorzunehmen. Die Auflage war, dass die Verurteilten bei der „Behandlung“ ums Leben kommen mussten. Bei lebendigem Leib eröffnete er den Verurteilten die Bauchhöhle oder den Brustraum und durchtrennte das Zwerchfell. Zusätzlich führte er zahlreiche Sektionen an Verstorbenen und Vivisektionen an Tieren durch. Die Methode mag uns grausam erscheinen, seine daraus geschöpften Erkenntnisse waren jedoch umfassend. Erasistratos unterschied sensorische und motorische Nerven und sagte, dass sie dem Gehirn entsprängen. Er beschrieb detailliert Groß- und Kleinhirn und erahnte die Bedeutung des Kleinhirns für die Koordination. Schon früh vermutete er anatomische Verbindungen zwischen Venen und Arterien, erkannte Bauchwassersucht als Folge der Leberzirrhose, erfasste, welche toxischen (giftigen) Veränderungen Schlangenbisse an inneren Organen verursachten, beschrieb die Blutgefäße in allen Einzelheiten und erkannte die Herzklappen in ihrer Funktion. Überraschenderweise entdeckte er den Blutkreislauf nicht, wie auch seine berühmten jüngeren Ärztekollegen bis zur frühen Neuzeit den Mechanismus der Blutzirkulation nicht erkannten. Er glaubte, dass die Adern mit Blut und Luft/Pneuma gefüllt seien. Erst Galen, der ein Gegner der Lehren des Erasistratos war, widerlegte ihn.
Erasistratos wagte auch größere chirurgische Eingriffe. Er eröffnete die Bauchhöhle, um direkt auf der Leber seine Medikamente zu platzieren oder um Eiteransammlungen im Bauchraum abzusaugen. Neu war auch die Gefäßligatur (-unterbindung), die es überhaupt erst ermöglichte, solche Operationen auszuführen, ohne dass der Patient bei dem Eingriff verblutete. Seine anatomischen Erkenntnisse halfen ihm, einen S-förmigen Blasenkatheter für die männliche Harnröhre zu entwickeln.
Obwohl der Arzt die Viersäftelehre der Hippokratier ablehnte, ähneln seine Vorschriften zur Lebensweise und Diätetik denen des Hippokrates: nur milde Abführmittel, Zurückhaltung bei Aderlässen, mäßiges Essen, viele Spaziergänge, kalte Bäder und Dampfbäder. Erasistratos lokalisierte Krankheit in den festen Bestandteilen des Körpers und unterschied sich damit wesentlich von der Viersäftelehre.
Eine Schule der Erasistrateer bestand bis ins 2. Jh. n. Chr. und brachte einige berühmte Ärzte hervor. Galen, als entschiedener Gegner der Erasistrateer und ihrer Solidarpathologie, scheint maßgeblich an der Auflösung dieser medizinischen Schule beteiligt gewesen zu sein.
Um 245 v. Chr. soll sich Erasistratos, unheilbar erkrankt, auf Samos mit Gift das Leben genommen haben.