Mit dem Beginn der Naturforschung in der griechischen Antike wurden auch Sektionen an Tieren vorgenommen, um Erkenntnisse über Anatomie und Physiologie zu erlangen. Der Begriff „Anatomie“ leitet sich vom griechischen anatemnein ab, was in etwa „zerschneiden, zergliedern“ bedeutet. Das Sezieren menschlicher Leichen war mit einem Tabu belegt. Verstorbene waren unantastbar. Daher behalf man sich mit der Sektion von Tieren und schloss von der tierischen Anatomie auf die menschliche. Embryos und Föten waren von diesem Verbot ausgenommen, auch totgeborene Kinder, da sie ja nach antikem Verständnis noch nicht gelebt hatten und vor allem auch nicht beseelt waren.
Abb. 8: Abbildung einer Sektion. Buchmalerei, französisch, 15. Jh., aus: Barthelemy l’Anglais, Livre de la propriété des choses, Ms. français 9140. Sektionen wurden nur zu wenigen Zeiten geduldet oder gar gefördert. Sie stellten immer ein ethisch-moralisches Problem dar, dem der Forschergeist entgegenstand. Bibliothèque Nationale, Paris.
Die Erforschung der Anatomie und Physiologie erreichte im 3. Jh. v. Chr. ihre erste große Blütezeit. Die Ptolemaier-Herrscher, selbst gebildet und im aristotelischen Geist erzogen, dabei rücksichtslos und frei von jeglichem Tabu-Denken, gründeten zwei der bedeutendsten wissenschaftlichen Institutionen der Welt, das Museion und die Bibliothek von Alexandria. Das Wissenszentrum zog Wissenschaftler aus aller Welt an. Bedeutende Ärzte folgten dem Ruf der Ptolemaier, denn hier konnten sie mit Unterstützung der Herrscher ungehindert ihren Forschungen nachgehen. Sektionen am Menschen waren erlaubt und wurden sogar gefördert. Auch Vivisektionen an Menschen wurden den ärztlichen Wissenschaftlern ermöglicht.
Diese Phase, in der Sektionen an Menschen (Abb. 8) erlaubt waren und gefördert wurden, dauerte jedoch nicht lange. Nach dem Tod der bedeutenden Anatomen Herophilos und Erasistratos bekamen die Ärzte aus der Schule der Empiriker die Oberhand. Die Empiriker bezweifelten den Sinn von Sektionen, die Schule der Methodiker meinte gar, ohne anatomische Kenntnisse auskommen zu können. Somit stagnierte erst einmal die Erkenntnisgewinnung im Bereich der Anatomie und Physiologie.
In römischer Zeit waren die meisten bedeutenden Ärzte der Ansicht, dass grundlegende anatomische Kenntnisse für einen Arzt unumgänglich seien und Teil der Ausbildung sein müssten. Eine Sektion an menschlichen Leichen war jedoch nach wie vor unüblich und wurde aus ethischen Gründen abgelehnt. Nicht alle waren damit zufrieden. Celsus (s. S. 139) bedauert, dass eine Sektion am Menschen nicht möglich war, da sie zur Erkenntnisgewinnung eigentlich unumgänglich sei. Die römischen Ärzte griffen auf die Schriften und Abbildungen ihrer hellenistischen Vorgänger zurück und behalfen sich mit Sektionen an Tieren, gerne Affen und Schweine. Ärzte wie Galen scheuten sich auch nicht, öffentliche Vivisektionen an Tieren vorzunehmen. Er entwickelte gar ausgeklügelte Vorrichtungen, um das zappelnde Tier während der qualvollen Prozedur ruhig zu halten.
Schwere Verwundungen bei Soldaten und Gladiatoren erweiterten ebenfalls das anatomische Wissen. Schon deshalb ging so mancher Arzt zur Legion. Hier hatte er ausgiebige Möglichkeiten, seine anatomischen Kenntnisse zu erweitern. Kaiser Marcus Aurelius (reg. 161–180 n. Chr.) soll seinen Ärzten erlaubt haben, Sektionen an gefallenen Barbaren vorzunehmen. An verstorbenen Angehörigen nicht-barbarischer Völker blieb die Sektion ein Tabu. Auch an verstorbenen Sklaven wurden keine Sektionen vorgenommen. Während des Medizinstudiums wurde mit Hilfe der nackten Körper lebender Sklaven und nur von außen die Anatomie des Menschen erklärt.
In byzantinischer Zeit war man sich des Wertes von Sektionen an Leichen durchaus bewusst, ohne dass sie durchgeführt wurden. Besonders in frühchristlicher Zeit wurden Sektionen am Menschen von den Kirchenvätern auf das Äußerste verdammt. Die Leiche eines Menschen war nach wie vor unantastbar. Doch wurden in der berühmten Medizinschule von Salerno im 11. Jh. durchaus auch Sektionen an menschlichen Verstorbenen durchgeführt, wenn man auch meistens auf Schweine zurückgriff. Die Kirche sah Sektionen am Menschen nicht gern, sie waren jedoch nicht ausdrücklich verboten.