Vier große Ärzteschulen bzw. medizinische Lehren sind in Rom auszumachen: Die Dogmatiker, die Empiriker, die Pneumatiker und die Methodiker.
Die Dogmatiker standen ganz in der Tradition des Hippokrates. Sie vertraten eine rationalistische Medizin, die nach Ursachen und Zusammenhängen forschte und großen Wert auf anatomische und physiologische Kenntnisse legte. Auch Herophilos und Erasistratos, die beiden großen Anatomen, werden der dogmatischen Schule zugerechnet.
Die Methodiker machten es sich ein wenig einfacher. Asklepiades von Prusa (s. S. 54) und sein Schüler Themison von Laodikeia gelten als Begründer der Schule. Anatomie und Physiologie spielte für die Methodiker keine Rolle, auch die Kenntnis der Krankheitsursache war für die Behandlung von sehr untergeordneter Bedeutung. Der ganze erkrankte Körper wurde gesehen, der sich entweder in einem Zustand der Spannung, der Erschlaffung oder deren Mischung befand. Daraus ergab sich die Behandlung. Ein gespannter Körper musste durch erschlaffende Mittel therapiert werden, ein erschlaffter durch anspannende, tonisierende Arzneimittel und physikalische Anwendungen. Somit brauchte ein Arzt der methodischen Schule wenig theoretisches Wissen und nur wenige Heilmittel. Kein Wunder, dass Thessalos von Tralleis behauptete, er könne einen Arzt in sechs Monaten ausbilden. Aber auch der gut ausgebildete und äußerst fähige Arzt Soranos von Ephesos gehörte dieser Schule an. Durch ihn wurde die methodische Lehre sehr viel differenzierter und erlebte einen neuen Aufschwung.
Im Gegensatz zu den Methodikern hatte die Schule der Pneumatiker eine philosophische Grundlage, die Lehre der Stoa. Nach der Stoa besaß jeder Körper, belebt oder unbelebt, das Pneuma, die ganze Welt war vom Pneuma durchdrungen. Die Pneumatiker übernahmen diese Grundidee und übertrugen sie auf den menschlichen Körper. Das Pneuma war für sie der Träger aller vitalen, psychischen und kognitiven Funktionen. Die Arterien, die vom Herzen ausgehen, enthielten das Pneuma, das mit jedem Herzschlag durch die Adern getrieben wurde. Durch das genaue Befühlen des Pulses konnte der Arzt schon Wesentliches über die Beschaffenheit des Pneumas und damit über den Zustand des Körpers erfahren. Das Pneuma konnte sich in seiner Zusammensetzung verändern, zu dickflüssig werden oder zu dünn, oder es konnte sich in einem ungesunden Tempo durch den Körper bewegen, zu schnell, zu langsam, schwankend oder hüpfend. Die vier Elementarqualitäten, warm, kalt, feucht und trocken, waren mit dem Pneuma verknüpft. Stimmte die Mischung nicht, nahm das unmittelbaren Einfluss auf das fließende Pneuma. Die Pneumatiker legten großen Wert auf eine wissenschaftlich fundierte Medizin. An einem berühmten Vertreter der Schule, Aretaios von Kappadokien (s. S. 77), kann man gut erkennen, wie kenntnisreich und rational begründet das Wissen des Arztes war und, der Lehre der Stoa gemäß, wie seine Schriften von ethischem Gedankengut durchzogen sind.
Wie der Name schon andeutet, stützte sich die Lehre der Empiriker auf die Erfahrung. Die Dogmatiker glaubten an verborgene Ursachen für eine Krankheit, die Empiriker meinten, durch Beobachtung und Beschreibung der Symptome einer Krankheit genug über sie zu wissen. Das Forschen nach der Ursache erschien ihnen sinnlos. Damit war es auch nicht mehr notwendig, Sektionen vorzunehmen. Indem man Ähnliches auf Ähnliches übertrug, konnte man sicher und ohne viele Umstände mancherlei Erkrankungen therapieren.
Aber nicht alle Ärzte rechneten sich einer Schule zu. Viele nahmen sich aus jeder Lehre das heraus, was ihnen sinnvoll erschien und therapierten ihre Patienten nach bestem Wissen und Gewissen.
Asklepiades von Prusa – der Kaltwasserheiler
Die Lebensdaten des griechischen Arztes Asklepiades sind nicht genau bekannt. Er wurde in der 2. H. des 2. Jh. v. Chr. in Bithynien (Kleinasien) geboren und kam als junger Arzt nach Rom. Hier wirkte er zunächst als erfolgreicher Redner und gewann die Freundschaft einiger bedeutender römischer Politiker wie Crassus und Cicero. Nachdem er Fuß gefasst hatte, wandte er sich der Heilkunst zu. Deswegen war er ja eigentlich nach Rom gekommen.
Asklepiades prägte entscheidend das römische Bäderwesen. Nach den schlechten Erfahrungen, die die Römer mit Ärzten wie Archagathos, dem „Schlächter“, gemacht hatten, versprach Asklepiades „sicher, rasch und angenehm“ zu heilen. Neben seinen Kaltwassertherapien in Form von Waschungen, Duschungen und Bädern, durch die er bekannt wurde, verordnete er auch Warmwassertherapien, Thalasso-ähnliche Behandlungen, Massagen, passive Bewegungen wie Getragenwerden im Sessel, Spazierenfahren, Schaukeln in einem Schwebebett, aktive Bewegungen wie Gymnastik und Spazierengehen, Weinkuren, Fasten, Luft, Licht und Musik. Aderlass, Brechmittel und Einläufe wandte er nur mit Vorsicht und sehr ungern an. Seine Therapie umfasste diätetische, physikalische und psychische Behandlungen, war also das, was wir heute als „ganzheitlich“ bezeichnen würden.
Asklepiades’ Methoden kamen gut an. Unter seinen Patienten fanden sich so illustre Persönlichkeiten wir Marcus Antonius und Mucius Scaevola. Sein Auftreten muss sehr selbstbewusst und dabei außerordentlich gewinnend gewesen sein. Er war ein Künstler darin, sich selbst zu vermarkten und inszenierte spektakuläre öffentliche Heilungen wie das Erwecken eines Scheintoten, der bereits auf dem Scheiterhaufen lag. Sein Ruf brachte ihm sogar ein lukratives Angebot ein, an den Hof Mithridates’ VI. zu kommen, das er jedoch ablehnte. Stattdessen sandte er dem König seine Schriften.
Asklepiades schrieb zahlreiche Werke, zwanzig Titel sind uns namentlich bekannt, aber ihr Inhalt ging verloren. Galen behauptete, dass Asklepiades über keine guten anatomischen Kenntnisse verfügte. Allerdings gilt der Grieche als Erfinder des Luftröhrenschnittes bei Angina, und er unterschied differenziert zwischen akuten und chronischen Erkrankungen. Ausgehend von den Atomtheorien der Platonschüler Herakleides Pontikos und Epikuros entwickelte der Arzt seine eigene Lehre. Asklepiades lehrte, dass Körper und Seele aus unsichtbaren Teilchen bestehen. Solange sich diese Teilchen frei und ausgewogen bewegten, war der Körper gesund. Trat eine Störung bei der freien Bewegung der Teilchen auf, wurde der Mensch krank. Diese physikalische Denkweise unterschied sich grundlegend von der chemischeren Betrachtungsweise der Säftelehre der Hippokrates-Schule. Während die Hippokratiker der Ansicht waren, dass die Natur die Heilerin der Krankheiten war, schrieb Asklepiades „Nicht nur, dass die Natur nichts nützt, sie schadet sogar bisweilen.“
Asklepiades starb vermutlich durch einen Unfall hochbetagt um das Jahr 56 v. Chr. Mit ihm hatte die wissenschaftliche Medizin Einzug in Rom gehalten. Die Römer öffneten sich für die ärztliche Kunst und schafften die Voraussetzung für den einsetzenden Zustrom griechischer Ärzte.