Die Pflanzenheilkunde der Antike war empirisch. Durch Erfahrung und Beobachtung erkannte man die Heilkraft einer Pflanze. In der hippokratischen Medizin spielte die Phytotherapie noch keine allzu große Rolle. Kräutertees waren unbekannt. Man verwendete medizinische Tränke, die kalt angesetzt wurden, sogenannte Mazerationen, oder zerkleinerte die Droge und gab sie in Wein, Wasser, Honig und Essig dem Kranken zu trinken. Oft wurden Arzneimittel auch Mehl- oder Schlürfsuppen beigegeben.
Sehr gebräuchlich waren Zäpfchen, die vaginal oder rektal benutzt wurden. Bestandteil von Zäpfchen waren Honig, Myron (fertige Salbe mit einer Konsistenz zwischen Pflanzenöl und festem tierischen Fett), Harze, Myrrhe und Galbanum mit Wachs, Fetten und eventuell Wein. Als Salbe wird im Corpus Hippocraticum alles bezeichnet, was auf die Haut aufgetragen wird, also Honig, Fette, Öle, Milch und Wein. Als Grundlage einer Salbe dienten meist Schweinefett, Gänsefett und Öl.
Tampons, die zumeist in der Frauenheilkunde Verwendung fanden, wurden mittels eines feinen Leinenstückchens appliziert, an dem häufig ein Faden befestigt war, um es leichter wieder entfernen zu können.
Auch Kataplasmen, zähe Breiumschläge mit zugemischten Arzneimitteln fanden häufige Anwendung. Streupulver wurden für Wunden und Augenerkrankungen verwendet. Klistiere dienten zu vaginalen und rektalen Spülungen.
Im Rahmen der Viersäftelehre verordneten die Ärzte den Kranken häufig Abführmittel. Gern verwendeten die Heilkundigen die schwarze Nieswurz. Ihre Wirkung war durchschlagend und die Verwendung nicht ungefährlich. Sanfter wirkten reines Öl, Eselsmilch, Honig und süßer Wein. Als Brechmittel eignete sich die weiße Nieswurz besser. Aber auch durch das Kitzeln des Rachens mit einer Feder brachte man den Kranken zum Erbrechen. Gegen Eingeweidewürmer wie Bandwürmer und Askariden gebrauchten die griechischen Ärzte die Früchte oder Blätter des Keuschlammstrauches mit Ochsengalle und Zedernöl vermischt. Diese Mischung wurde alle drei Tage in Zäpfchenform in den Darm gegeben und verblieb dort 24 Stunden. Auch Darmspülungen mit einer Salzlake sollten helfen. Gleichzeitig wurde dem Wurmbefallenen geraten, viele rohe und gekochte Zwiebeln zu sich zu nehmen oder auch Knoblauch mit Honig und Wein.
Noch war die Auswahl an Heilpflanzen beschränkt. Erst durch die Alexanderfeldzüge (320 v. Chr.), als sich das Wissen um die verschiedensten Arzneimittel um ein Vielfaches erweiterte, stieg die Pflanzenheilkunde zu einer der bedeutendsten Therapien der Antike auf.
Die Ärzte kauften ihre pflanzlichen Arzneimittel bei Arzneimittelhändlern (pharmakopoloi) und Wurzelschneidern (rhizotomen) und stellten in der Regel selbst die Arznei her. Nach den Alexanderfeldzügen widmeten sich viele Ärzte und interessierte Laien der Heilpflanzenkunde und gaben pharmazeutische Schriften heraus. Einer der ersten war Theophrast von Eresos (ca. 370–ca. 285 v. Chr.) (s. S. 110), der als der Begründer der wissenschaftlichen Botanik gilt. Das berühmteste Werk sind sicher die Materia medica des Dioskurides, aber auch Plinius der Ältere (s. S. 131) und Celsus widmeten sich der Pflanzenheilkunde. Die ausführlichsten und kompliziertesten Rezeptierungen finden wir bei Galen.
Weiße Nieswurz (veratrum album) – Weißer Germer
Schon Theophrast beschrieb diese Pflanze und ihre Anwendung im 4. Jh. v. Chr. Die Viersäftelehre ging davon aus, dass bei einer Krankheit ein Ungleichgewicht der Säfte, also schwarzer Galle, gelber Galle, Schleim und Blut, herrschte. Das Zuviel eines Saftes musste korrigiert werden, indem man ihn abführte oder an einen anderen Ort weiterleitete. Auch angelagerte Schlacken- und Giftstoffe konnten durch Purgation (d. h. Entfernen schädlicher Stoffe aus dem Körper durch eine ausleitende Therapie wie verstärktes Abführen oder Hervorrufen von Erbrechen) eliminiert werden. Dabei war die Weiße Nieswurz einer der besten und am häufigsten angewandten Helfer.
Von einem Selbstversuch ist abzuraten, denn diese Gebirgspflanze ist durch ihre stark wirkenden Alkaloide hochgiftig, und ihre Dosierung war schon in der Antike ein Problem. Dioskurides beschreibt daher auch, dass man nur die fleischigen, leicht zerbrechlichen, weißen Wurzeln suchen sollte, die nicht zu brennend schmecken, da die anderen sehr schnell ein Erstickungsgefühl bewirken. Die Weiße Nieswurz reinigt den Körper durch Erbrechen. Bei Kranken ist natürlich Vorsicht geboten, da diese Pflanze sehr heftig wirken kann. Daher rät Dioskurides, die Wurzel mit einem Schlürftrank aus Brei oder Graupenschleim zu geben und vorher eine kleine Mahlzeit zu verordnen. Man kann auch ein Zäpfchen mit Essig in den After einführen. Auch das soll Erbrechen bewirken.
Aber nicht nur zum Purgieren ist die Weiße Nieswurz nützlich. Sie erregt, wie der Name schon sagt, Niesen. Die Ägypter glaubten, dass durch das Niesen krankheitserregende Dämonen und der Gesundheit abträgliche Stoffe den Körper verlassen. Als Zäpfchen eingeführt, tötet die Weiße Nieswurz den Embryo, wie Dioskurides berichtet. Die Wurzel wurde also als Abortmittel vielfach genutzt. Durch ihre drastische Wirkung glaubte man auch, dass sie bei der Behandlung von Geisteskrankheiten nützlich sei, da sie Körper und Seele erschütterte. Man kann aber auch einfach Mäuse im Haus mit der Nieswurz töten, dann aber mit Mehl und Honig gemischt.
Eine Einnahme von 2 g kann beim Menschen schon zum Tod führen. Trotzdem war die Weiße Nieswurz in der Antike als Heilmittel hochgeschätzt. Aufgrund ihrer Gefährlichkeit gehörte sie jedoch nur in die Hände sehr erfahrener Ärzte.
Abb. 21: Schlafmohn. Zur Gewinnung des Opiums werden die prallen Mohnkapseln angeritzt und der austretende Mohnsaft, das Rohopium, nach einigen Stunden gesammelt. Opium war eines der wichtigsten Heilmittel der Antike, denn man konnte mit ihm Schmerzen lindern und Schlaf fördern. Es war auch unverzichtbarer Bestandteil des Allheilmittels Theriak.
Schlafmohn (Papaver somniferum) – Opium
Theophrast berichtet, wie der Saft des Mohnes (Abb. 21) durch das Einritzen der Kapseln gewonnen wird. Gelangt der Saft an die Luft, so gerinnt er zu einer braunen Masse, dem Rohopium oder den „Mohn-Tränen“. Aber Mohn wurde mindestens schon seit Homers Zeiten angebaut, bereits viel früher in den alten Kulturen in Ägypten und Kreta genutzt und ist auch aus dem Paläolithikum Mitteleuropas bekannt. Götter wie Hypnos, der Gott des Schlafes, und Thanatos, der Gott des Todes, wurden mit Mohnpflanzen zusammen abgebildet. Aber auch Demeter, Aphrodite und Hermes schmückten sich mit der magischen Pflanze. Die berauschende Wirkung des Mohnes wurde in vielen Kulten genutzt, um Hellsichtigkeit und prophetische Gaben zu erlangen oder auch einfach als Aphrodisiakum.
Aufgrund der schlaffördernden und schmerzstillenden Wirkung war der Mohn eines der wichtigsten Heilmittel der Antike. Er war immer wesentlicher Bestandteil des Allheilmittels Theriak. Angeblich war Kaiser Marcus Aurelius, der Theriak viele Jahre täglich einnahm, durch das in ihm enthaltende Opium körperlich abhängig geworden.
Dioskurides beschreibt uns das weite Anwendungsgebiet des Schlafmohns. Natürlich wurde der Mohn in erster Linie bei allen schmerzhaften Erkrankungen angewandt. Gern nutzte man ihn auch, um tiefen Schlaf zu fördern. Galen schreibt, dass Opium die Sinne betäube und einen todesähnlichen Schlaf bewirke. Es fand daher auch zusammen mit Nachtschattengewächsen wie Bilsenkraut und Alraune bei Operationen Anwendung. Aber Mohn lindert auch den schmerzhaften Husten, wir nutzen diese Wirkung heute noch im Hustenmittel Codein, und heilt Magenbeschwerden.
Auch hier ist bei der Dosierung Vorsicht geboten. Die Ärzte der Antike warnten davor, dass ein Zuviel Lethargie und im schlimmsten Fall den Tod des Kranken bewirken könne.
Anwendungen nach Dioskurides:
in erster Linie Schlaflosigkeit und Schmerzen
fein gestoßene Mohnköpfchen mit Grütze gemischt als Kataplasma bei Geschwülsten
mit Honig eingekocht als schmerzstillendes Leckmittel bei Husten, Erkältung und Magenbeschwerden
fein gestoßener Same mit Wein gegen den Fluss der Frauen
mit Wasser gemischt als Umschlag auf die Stirn und Schläfen bei Schlaflosigkeit
erbsengroße Pastille des getrockneten Saftes als Schmerz- und Schlafmittel
hustenlindernd
verdauungsfördernd
mit Rosenöl aufgesprengt gegen Kopfschmerzen
mit geröstetem Eiklar und Safran bei Augenentzündungen
mit Essig bei Wunden
als Zäpfchen zum Einschlafen
mit Mandelöl, Safran und Myrrhe eingetröpfelt bei Ohrenschmerzen
Abb. 22: Echtes Tausendgüldenkraut (Centaurium erythraea). Tausendgüldenkraut enthält viele Bitterstoffe und ist somit für die Behandlung von Magen-Darm-Erkrankungen besonders gut geeignet. Das Kraut war in der Antike als Heilpflanze hoch geschätzt. Heute steht es unter Naturschutz.
Myrrhe – das Harz des Myrrhenbaumes
Myrrhe gehörte schon im Altertum zu den wertvollsten und teuersten Heilmitteln und wurde aus Arabien eingeführt. Wir erinnern uns an die Heiligen Drei Könige und ihre Geschenke an das Jesuskind. Laut Dioskurides hat die Myrrhe erwärmende, betäubende, verklebende und austrocknende Kraft. Sie hilft bei chronischem Husten und Brustschmerzen, starkem Durchfall und Fieber. Noch heute verwenden wir Myrrhetinktur gern bei Zahnfleischentzündungen. Auch Dioskurides empfiehlt die Myrrhe für die Mundpflege, da sie Zähne und Zahnfleisch fest macht und den Atem verbessert. Aber sie heilt auch eiternde, entzündete Ohren und offene Wunden, die bis auf den Knochen bloßgelegt sind und verklebt blutende Kopfwunden. Auch soll sie bei Wurmbefall hilfreich sein. Die Myrrhe ist aufgrund ihrer Heilkraft Bestandteil vieler Rezepte.
Die antiken Ärzte verwendeten gerne Harze als Heilmittel. Neben Myrrhe sind es Weihrauch, Mastix und Balsam, die häufig zur Anwendung kamen. Diesen Harzen ist gemeinsam, dass sie eine stark antibakterielle, entzündungshemmende und beruhigende Wirkung haben und zudem noch schmerzlindern sind. Da die Harze sehr teuer waren, kam es gerade bei ihnen häufig zu Arzneimittelfälschungen. Der Arzt musste also über ein großes botanisches Wissen verfügen, um Fälschungen, die oftmals sehr geschickt waren, zu erkennen.