Mehrere Tage später brachen sie auf, um zur Stadt zurückzufahren. Als sie die Elendsviertel der Bronx erreichten, wußte Miss Lonelyhearts, daß Bettys Heilmittel nicht gewirkt hatte, und daß es kein bloßes Geflunker gewesen war, als er sagte, er könne die Briefe nie vergessen. Die Erkenntnis tat ihm wohl; er war sich selber nachgerade als Schwafler und Schwachkopf vorgekommen.
Auf der Straße drängten sich die Menschen mit traumhafter Heftigkeit. Wie er so ihre geknickten Hände und verzerrten Lippen sah, kam ihm der sehnliche Wunsch, ihnen allen zu helfen, und da es sich um ein ehrliches Gefühl handelte, war er glücklich, trotz des schlechten Gewissens, das damit einherging.
Er sah einen Mann, der am Rande des Grabes zu stehen schien, in ein Kino hineinhumpeln, wo ein Film mit dem Titel »Blonder Traum« lief. Er sah eine zerlumpte Frau mit einem großmächtigen Kropf ein Liebesgeschichtenmagazin aus einem Mülleimer herausfischen, allem Anschein nach freudig erregt.
Vom Gewissen angestachelt, begann er seine Beobachtungen zu verallgemeinern. Schon immer hat sich der Mensch mit Träumen gegen sein Elend gewehrt. Früher waren Träume eine Macht, jetzt aber sind sie durch Kino, Rundfunk und Presse verkitscht worden. Unter mancherlei Verrat ist dieser der übelste.
Was seinen Anteil daran verschlimmerte, war der Umstand, daß er den Christustraum zu träumen vermochte. Zwar hatte er versagt, aber daran waren nicht so sehr Shrikes Spott oder seine Selbstanfechtungen schuld, vielmehr sein Mangel an Demut.
Schließlich lag er wieder im Bett. Ehe er einschlief, nahm er sich hoch und heilig vor, nach Demut zu streben. Am Morgen, als er sich auf den Weg ins Büro machte, erneuerte er sein Gelübde.
Zum Glück war Shrike nicht auf der Redaktion, so daß seiner Demut eine Prüfung vorerst erspart blieb. Er setzte sich sogleich an den Schreibtisch und begann Briefe zu öffnen. Nachdem er etwa ein Dutzend aufgemacht hatte, kam ihn ein Gefühl der Übelkeit an, und er beschloß, seinen Artikel für die nächste Ausgabe zu schreiben, ohne irgendwelche Briefe gelesen zu haben. Er wollte sich nicht allzu streng auf die Probe stellen.
Die Schreibmaschine war abgedeckt; er führte ein Blatt Papier in die Walze ein.
»Christus ist für dich gestorben.
Ans Kreuz genagelt starb er für dich. Leiden ist das Geschenk, das er dir hinterlassen hat, und nur durch Leiden kannst du ihn erkennen. Halte dieses Geschenk wert, denn …«
Er riß das Blatt aus der Maschine. Schon das Wort »Christus« kam ihm eitel vor. Nachdem er lange den Stapel Briefe auf seinem Tisch angestarrt hatte, schaute er zum Fenster hinaus. Ein gemächlicher Frühlingsregen verwandelte die staubigen Teerdächer in glänzendes Lackleder. Das Wasser machte alles glitschig; weder sein Blick noch sein Gefühl fanden einen Halt.
Wieder am Schreibtisch, nahm er einen dikken Brief zur Hand, der in einem schmutzigen Umschlag steckte. Er las ihn aus demselben Beweggrund, aus dem ein Tier an seiner verwundeten Pfote zerrt: um den Schmerz abzutöten.
Liebe Miss Lonelyhearts,
als Verehrerin Ihrer Artikel, weil Sie so guten Rat wissen für alle die in Not sind so wie ich auch, wäre ich Ihnen sehr dankbar, wenn Sie mir raten würden, was ich machen soll, nachdem ich Ihnen meine Not geklagt habe.
Während des Kriegs sagte man mir, wenn ich meine Vaterländische Pflicht tun wolle, solle ich den Mann heiraten, mit dem ich verlobt war, da er fürs Vaterland einrücken mußte und um es kurz zu machen, wir wurden getraut. Nachdem der Krieg vorbei war, mußte er noch ein paar Jahre Dienst tun, da er sich verpflichtet hatte, und ich ging natürlich arbeiten, da er damals als er dem Vaterland diente nur $ 18 sein eigen nannte. Drei Jahre lang arbeitete ich regelmäßig und mußte dann zu Hause bleiben, weil ich Mutter wurde und mein Mann inzwischen verschiedene Stellen annahm, an denen er es jeweils nicht lange aushielt, weil er gern in die Ferne schweifte. Das ging, bevor das Kind kam, weil ich da regelmäßig arbeiten konnte und die Rechnungen bezahlt wurden, aber als ich aufhörte, kam alles ins Rutschen. Dann ging es zwei Jahre und ein Junge kam hinzu. Meine Tochter wird bald acht Jahre alt und der Junge sechs.
Nach der zweiten Geburt war ich fest entschlossen, trotz meiner Gesundheit, da ich einen Autounfall hatte, als ich das erste Kind erwartete, wieder Arbeit zu suchen, aber die Schulden häuften sich so rasch, daß es fast einen Kran brauchte um sie aufzuheben, geschweige denn eine kranke Frau. Ich ging nachts arbeiten, wenn mein Mann zu Hause war, damit jemand das Kind beaufsichtigen konnte, und das ging so bis der Junge drei Jahre alt war, als mir einfiel, ein Zimmer zu vermieten an einen, der bei seiner Schwester gewohnt hatte, die aber nach Rochester gezogen war, so daß er eine Bleibe suchen mußte. Mein Mann war einverstanden, da er sich sagte, die $ 15 Miete wären für ihn eine Erleichterung, da dieser Mieter ein Witwer mit zwei Kindern war und ein Freund von meinem Mann und mit ihm ausging usw. Nachdem wir den Mieter ungefähr ein Jahr lang gehabt hatten, kam mein Mann eines nachts nicht nach Hause, und dann zwei Nächte lang, usw. Ich ließ ihn als vermißt ausschreiben, und nach zweieinhalb Monaten sagte man mir, ich solle nach der Grove Street gehen, was ich auch tat, und er wurde verhaftet, weil er sich weigerte für mich und die Kinder aufzukommen. Nachdem er drei von den sechs Monaten abgesessen hatte, bat mich der Richter, es nochmals mit ihm zu versuchen, was ich dummerweise auch tat und als er nach Hause kam, verprügelte er mich dermaßen daß ich nachher mehr als $ 30 für den Arzt ausgeben mußte.
Er bezog eine Rente vom Militär und ich mußte natürlich damit in den Laden und sie einwechseln da er zu faul war mußte ich immer in seinem Namen unterschreiben und »per« vor den Namen setzen und als der Hausbesitzer uns hinauswerfen wollte und ich ihn rasch bezahlen wollte unterschrieb ich den Scheck wie gewöhnlich vergaß aber das »per« und um sich zu rächen, weil er drei Monate gesessen hatte, ließ er sich aus Washington eine Kopie des Schecks kommen, um mich wegen Fälschung anzuzeigen, da aber der Fleischer wußte, daß ich die Schecks immer unterschrieben hatte usw. konnte man mir nichts tun.
Er hat mich oft bedroht, indem er sagte, der Mord an Mary Mills ist unaufgeklärt geblieben und dasselbe wird dir auch passieren, und oft wenn ich sein Bett machte, fand ich einen Hammer, eine Schere, ein Messer, oder ein Stemmeisen usw. und wenn ich ihn fragte was soll das, tat er jeweils als wisse er von nichts oder sagte, die Kinder haben es dort versteckt, und dann gingen ein paar Monate hin und ich ging wie gewöhnlich meiner Arbeit nach, da der Mieter an jenem Tag zu Hause bleiben mußte, das Material für seinen Arbeitgeber war nämlich nicht eingetroffen und so konnte er nicht zur Arbeit, da er Stückarbeiter ist. Ich hatte mir angewöhnt, das Essen für den nächsten Tag noch vor dem Zubettgehn zu Kochen, damit ich erst um sieben aufstehen mußte, da mein Sohn damals im Spital war wegen einer Krankheit die mein Mann auflas als er fürs Vaterland kämpfte und mit der er mich angesteckt hat, ich mußte auch in die Klinik von wegen Einspritzungen. Während ich also noch im Bett lag, schickte mein Mann, ohne daß ich etwas davon wußte, den Mieter eine Zeitung holen und als er zurückkam war mein Mann weg. Als ich dann aus meinem Zimmer kam, sagte man mir deshalb mein Mann sei ausgegangen. Ich richtete den Kindern das Frühstück und aß selber und machte dann am Zuber die wöchentliche Wäsche, und während der Mieter die Zeitung las kam um zwölf Uhr mittag meine Mutter vorbei, um nach dem Kind zu sehen, damit ich ausgehen und mit putzen etwas verdienen konnte. Es sah etwas unordentlich aus in der Wohnung, die Betten waren nicht gemacht, es war nicht aufgeräumt und mußte auch noch etwas reinegemacht werden, da ich den ganzen Vormittag gewaschen hatte und nicht dazu gekommen war. So dachte ich denn ich mache das jetzt solange meine Mutter da war und mir helfen konnte, damit ich schneller fertig sei. In aller Eile putzte ich die Zimmer, damit alles blitzblank sei und mein Mann mir nachher keine Vorwürfe machen könne. Wir hatten drei Betten, und ich war gerade am letzten, einem Doppelbett, und ich bückte mich, um mit dem Besen den Flaum und Staub darunter hervorzukehren, als ich aufeinmal ein Gesicht wie eine Teufelsfratze erblickte, von dem man nur das Weiße der Augen sah und die Hände, als wollten sie jemand erwürgen, und dann bewegte es sich und ich hab mich dermaßen erschrokken, daß ich bis am Abend ganz außer mir war und in den Beinen gelähmt. Ich dachte, ich würde überhaupt nie mehr gehen können. Meine Mutter holte einen Arzt und er sagte, wer so etwas tut, gehört in eine Irrenanstalt. Es war mein Mann, der von sieben Uhr morgens bis gegen halb zwei unter dem Bett gelegen hatte, in seinem eigenen Kot, statt ins Badezimmer zu gehen, und alles bloß, um mir einen Schrecken einzujagen.
Da ich ihm nicht trauen konnte, wollte ich nicht mehr mit ihm schlafen, und da ich dem Mieter gekündigt hatte, falls mein Mann vielleicht eifersüchtig war, so schlief ich im Bett des Mieters in einem andern Zimmer. Manchmal wenn ich nachts aufwachte sah ich ihn an meinem Bett stehen und wie ein Verrückter lachen oder völlig ausgezogen herumgehen usw.
Ich kaufte mir eine neue Nähmaschine, da ich mit Näharbeit etwas verdienen muß, und eines nachts als ich meine Arbeit ablieferte, fand ich beim nachhausekommen die ganze Wohnung ausgeräumt, und er hatte die Nähmaschine aufs Versatzamt getragen und überhaupt alles was sich versetzen läßt. Seit er mich erschreckt hatte, war ich nachts immer voller Angst, wenn ich der Kinder wegen aufstehen mußte, er stehe vielleicht hinter einem Vorhang und springe mich an oder werde tätlich, bevor ich Licht machen konnte. Nun, ich sah ein, daß ich ihn nicht zur Arbeit anhalten konnte und daß ich Mutter und Wirtschafterin und Brotverdienerin usw sein mußte, und auf die Länge konnte ich auch nicht meine Nerven herunterwirtschaften, einmal hatte ich nämlich eine gute Stelle verloren, weil ich in den Nerven herunter war. So zog ich denn einfach von ihm weg, er war ja ohnehin nicht mehr viel zu Hause. Doch er bat mich, es noch einmal zu versuchen, und da er schließlich der Vater meiner Kinder ist, willigte ich ein und dann machte er wieder so verrückte Sachen, mehr als ich hier erzählen kann, und ich ging wieder weg von ihm. Viermal zogen wir zusammen und viermal ging ich weg. Bitte, Miss Lonelyhearts, glauben Sie mir, nur um der Kinder willen, das ist dummes Zeug. Nehmen Sie es mir nicht übel, ich weiß ja nicht wie Sie dran sind, ich weiß nur, daß ich in mehr als drei Jahren von ihm insgesamt bloß $ 200 bekommen habe.
Vor etwa vier Monaten überreichte ich ihm eine Vorladung wegen Vernachlässigung der Unterhaltspflicht, und er zerriß sie und ging weg und seither habe ich ihn nicht mehr gesehen, und da ich Lungenentzündung hatte und mein Töchterchen die Grippe, geriet ich mit den Arztrechnungen in Rückstand und wir mußten in die Klinik und als wir entlassen wurden, mußte ich den Mieter wieder ins Haus nehmen, da er wenigstens sichere $ 15 die Woche bedeutete, und falls mir etwas zustieß, wäre er da, um für die Kinder zu sorgen, aber er wird oft zudringlich und da niemand sonst im Haus ist, wenn er am Sammstagabend betrunken nach Hause kommt, weiß ich nicht, was ich machen soll, bis jetzt habe ich ihn aber noch nicht gelassen. Wo mein Mann ist, weiß ich nicht, ich habe nur einmal einen schändlichen Brief von ihm bekommen, in welchem er sogar seine unschuldigen Kinder verdächtigt und sich höhnisch nach dem Lieblingsmieter erkundigt.
Liebe Miss Lonelyhearts, bitte seien Sie mir nicht böse, daß ich Ihnen einen so langen Brief geschrieben und Ihre Zeit so lange in Anspruch genommen habe, aber wenn ich alles aufschreiben wollte, was ich mit ihm erlebt habe, das würde ein Buch füllen, und verzeihen Sie mir bitte, daß ich gewisse Dinge beim Namen genannt habe, ich mußte Ihnen doch eine Vorstellung davon geben, was bei mir daheim vorgeht. Jede Frau hat doch ein Recht auf ein Heim? Also, Miss Lonelyhearts, kommen Sie bitte in der Zeitung mit ein paar Zeilen auf meinen Brief zu sprechen, damit ich weiß, daß Sie mir helfen. Soll ich wieder mit meinem Mann zusammenleben? Wie kann ich für den Unterhalt meiner Kinder aufkommen?
Für alles was Sie mir raten können vielen Dank zum Voraus
hochachtungsvoll
BREITSCHULTRIG
P.S. Liebe Miss Lonelyhearts, Sie dürfen nicht glauben, ich sei wirklich breitschultrig, ich will damit nur sagen, wie ich zum Leben stehe.