Das Leben in einer Lebensversicherung
D ie Zahlen waren da. Die Zahlen zur Statistik, die die Todesursachen in Küstenorten vorhersagte. Die üblichen Verdächtigen – Krebs, Schlaganfall, Herzinfarkt – wiesen zutreffende Werte auf, das war immerhin ein Trost. Allerdings hatte Una die Anzahl der Unfälle unterschätzt: ein Missgeschick mit einem Einkaufswagen, eine Eselsstampede und eine Blumenampel (Begonien), die nicht länger an ihrem Haken hing.
Sie schaute zu der LED -Lampe direkt über ihr, dann auf ihren Bildschirm und wieder zur Decke. Die Lampe hing noch. Der sechste Stock der Katapult Insurance war nach wie vor ein risikoarmes Arbeitsumfeld. Es war vielmehr ihre Karriere, die in Gefahr war. An diesem Freitag war bis 17:29 Uhr alles innerhalb der Standardparameter verlaufen, doch dann war eine E-Mail von der internen Revisionsabteilung eingetroffen. Zwischen der Anzahl tödlicher Unfälle, die Una prognostiziert hatte, und der Anzahl tatsächlich eingetretener Unfälle bestand eine winzige Diskrepanz. Dabei hatte ihr dieses Projekt die Beförderung zur Teamleiterin einbringen sollen. Normalerweise musste sie sich nicht den Kopf darüber zerbrechen, ob ihre Berechnungen korrekt waren.
Unas Kollegen zogen bereits die Reißverschlüsse ihrer Rucksäcke zu und drückten zum letzten Mal in dieser Woche Strg-Alt-Entf. Sie wollte nicht das ganze Wochenende über die E-Mail nachgrübeln, und Ajay saß noch in seiner Glaskabine, einer von vieren in den Ecken des Großraumbüros. Also nahm sie ihren Lieblingskugelschreiber und ließ ihn immer wieder klicken, während sie zu ihm hinüberging.
Ajay stand an seinem höhenverstellbaren Schreibtisch, sein Headset ruhte auf seinen ergrauenden Schläfen, und er musterte den Bildschirm, als handele es sich um einen Kollegen aus Fleisch und Blut. Als er sie bemerkte, winkte er sie herein und klappte das Headset-Mikrofon hoch.
»Hi, Una, wie läuft’s?«, fragte er.
»Ganz gut«, erwiderte sie und klickte unablässig mit dem Kugelschreiber, während sie ihm gegenüberstand. Es kam ihr falsch vor, sich auf den Stuhl vor seinem Stehtisch zu setzen. »Hast du mal ein paar Minuten?«
Er musterte ihr Gesicht, als läse er eine Power-Point-Präsentation Korrektur. »Klar. Ich wollte dich sowieso über ein paar Dinge auf den neusten Stand bringen. Schieß los.«
»Es geht um die Küstenort-Zahlen. Ich muss die Unfälle mit Todesfolge noch mal prüfen. Sie weisen eine winzige Diskrepanz zu den aktuellen Dreimonatsprognosen auf, die auf den Kundenangaben basieren. Du weißt ja, wie die interne Revisionsabteilung sein kann. Ich mache Überstunden, um das zu bereinigen.«
»Ja, ich hab die Mail gelesen.« Ajay zupfte sich am rechten Ohrläppchen. »Jetzt hör mir mal zu. Ich finde, das sollte jemand prüfen, der weniger betriebsblind ist. Daher hab ich die Sache Tim übertragen.«
Una umklammerte krampfhaft ihren Kugelschreiber. Das war ein Desaster! Ausgerechnet Tim! Bereits seit sie vor fünfzehn Jahren gemeinsam am Graduiertenprogramm teilgenommen hatten, stand sie in seinem Schatten. Er war der einzige Mitbewerber in der Firma, der die nötige Erfahrung für die Teamleitung mitbrachte. Und ihr Boss Ajay würde in seiner Funktion als Abteilungsleiter die Personalentscheidung treffen.
»Ich glaube, es wäre besser, wenn der Fall bei der bisherigen Sachbearbeiterin bleibt«, erwiderte sie mitten im Klick. »Bei mir.«
»Versteh das nicht falsch«, sagte Ajay. »Deine Arbeit ist immer top – du bist in unserer Abteilung die Expertin dafür, Worst-Case-Szenarien zu erkennen. Aber ich habe dir ja schon mal gesagt, dass du dich manchmal scheust, neue Methoden auszuprobieren, und lieber bei den bewährten bleibst. Ich will nicht die interne Revision im Nacken haben.«
»Aber die Statistik basiert auf meinen Recherchen, und ich will herausfinden, wo der Fehler liegt.« Unas Stimme klang zunehmend höher und weinerlicher. Nicht gerade ein Zeichen von Stärke.
Ajay schob sich die randlose Brille die Nase hoch. »Okay, wie wäre es damit? Ihr könnt gemeinsam recherchieren – als Team. Ich will sowieso, dass Tim mehr mit anderen zusammenarbeitet, und du könntest dabei lernen, wie er die Sache angeht. Ein Dream-Team!«
Una hatte beim Kugelschreiberklicken ihren persönlichen Rekord gebrochen. Alle wussten, wie schrecklich Tim darin war, mit anderen zusammenzuarbeiten. Sie wären kein Dream-Team, sondern ein Albtraumpaar.
»Und noch was«, sagte Ajay. »Du kennst ja sicher die Balanced Scorecard unserer Abteilung und weißt, wie wichtig es ist, dass sich alle auf die damit verbundenen Arbeitsprozesse einlassen und sie respektieren.«
Was war die Balanced Scorecard ? Glücklicherweise kannte Una aus einem Webinar für aktives Zuhören diverse Arten des Kopfnickens, und so bedachte sie Ajay mit der Variante für »bitte weiterreden«.
»Mir ist aufgefallen, dass du dieses Jahr noch keinen Urlaub beantragt und fünfzehn Tage vom vorigen Jahr mit rübergenommen hast.«
»Ich hatte in letzter Zeit viele Deadlines.«
»Ich weiß dein Engagement zu schätzen, aber unsere Abteilung steht nur bei 99,5 Prozent, und wir brauchen 100, um im grünen Bereich zu sein. Du weißt, die Geschäftsleitung sieht sich diese Zahlen sehr genau an, und dass du zu wenig Urlaub nimmst, beeinträchtigt deinen Scorecard -Wert.«
Una runzelte die Stirn. »Aber ich komme gern zur Arbeit. Ich verstehe nicht, warum ich dafür bestraft werden soll, dass ich hier erscheine.«
Ajay schwieg, was bedeutete, dass er ihre Haltung für falsch hielt, ihr das aber nicht sagen würde.
Die Wahrheit war, dass Urlaub für sie eine Herausforderung darstellte, seit die meisten ihrer Freunde Kinder hatten. Letztes Jahr hatte sie auf einer Gruppenreise die »Juwelen Italiens« besichtigt, doch die Gruppe hatte Unas Sorge über den steigenden Pegelstand in Venedig nicht zu schätzen gewusst und war auf dem anstrengenden Trip zum Schiefen Turm von Pisa sogar richtig feindselig geworden.
»Okay, gut«, sagte sie. »Ich nehme mir definitiv frei. Bald.«
»Danke. Das wäre dann alles. Hab ein schönes Wochenende.« Ajay griff zu seinem Headset. »Ich hab jetzt einen Telefontermin. Würdest du auf dem Weg hinaus die Tür schließen?«
Una verließ das Büro und stierte auf den feuerfesten roten Teppich. Hatte sie etwa ihr Gespür verloren? War es überhaupt die richtige Arbeit für junge Leute, die Lebenserwartung anderer einzuschätzen? Die Überprüfung der strittigen Zahlen würde sie viele Stunden kosten. Zeit für Kaffee.
Auf dem Weg zur Küchenzeile hörte sie das statische Knistern einer Lycra-Hose. Der Stoff rieb rhythmisch aneinander, als ihr Träger in der Gangmitte an ihr vorbeischritt: der neoliberale Tim, in einem orangefarbenen, einteiligen Radsportoutfit.
»Leute, ich bin dann mal weg«, verkündete er. Auf seiner Legomännchen-ähnlichen Frisur trug er einen locker sitzenden Fahrradhelm. »Habt ein tolles Wochenende. Wollt ihr wissen, was ich morgen mache? Ich rolle in meinem Zorb den Parliament Hill runter. Für einen guten Zweck.«
Seine Ankündigung sorgte nur für verhaltenes Raunen im Team, und er zog die Stirn kraus, während er die Küchenzeile ansteuerte. Una folgte ihm dichtauf und erreichte ihn, als er gerade die Milch einer Kokosnuss in eine Wasserflasche umfüllte.
»Hey, Tim, radelst du nach Hause?« Beiläufig schüttete sie den Inhalt ihrer Tasse in die Spüle. »Ich war übrigens gerade bei Ajay. Wie läuft’s mit den Zahlen der Küstenorte?«
»Interessante Lektüre, diese Unfallberichte«, antwortete er. »Viel Standardkram dabei – ausbüchsende Rasenmäher, durchdrehende Saugroboter –, aber auch ein paar neue Sachen. Ich hatte noch nie einen Fall mit einer Blumenampel.«
»Weißt du, Ajay meint, wir sollten als Team daran arbeiten. Wir können ja vielleicht am Montag mal brainstormen.« Innerlich erschauderte sie. Brainstorming ermutigte die Leute dazu, spontan dumme Ideen auszuspucken, statt vorher darüber nachzudenken und sie zu verwerfen. Allerdings wäre das eine gute Gelegenheit herauszufinden, ob Tim bereits etwas Nützliches entdeckt hatte.
Er richtete sich zu voller Größe auf. »Nein, danke. Ich bin ein Tim-Player, kein Team-Player.«
Una schob den Spülschwamm in ihre Tasse und scheuerte sie kraftvoll. »Na gut. Absolut kein Problem.«
»Hör zu, Una, deine ursprüngliche Analyse weist keinen signifikanten Fehler auf. Sie ist solide und kompetent erstellt. Aber machen wir uns nichts vor, du bist nicht gerade dafür bekannt, innovativ oder mutig zu sein. Nimm das nicht persönlich. Ich wurde nur hinzugezogen, um das Ganze einen Gang höher zu schalten. Ich zeig dir gern, was ich herausgefunden habe, sobald ich fertig bin.«
Am Getränkeautomaten drückte Una mit dem Zeigefinger auf die Taste für entkoffeinierten Espresso. Den Knopf drückte sie jeden Tag auf exakt dieselbe Weise. Dann wählte sie die Option für die doppelte Menge. So – das war innovativ und mutig.
»Schön. Ich verfolge sowieso einen eigenen Ansatz – etwas Neues.«
»Echt? Klingt interessant. Erzähl mir mehr«, bat Tim.
»Ich arbeite noch daran.«
»Null Problemo, wir sehen uns am Montag. Und freu dich, zumindest haben wir es nicht mit Haustierversicherungen zu tun.« Er nippte an seiner Flasche und sprintete dann zu den Aufzügen.
Una kehrte an ihren Schreibtisch zurück. Sie konnte Tim nicht mehr über ihren neuen Ansatz verraten, weil sie keinen hatte. Sie wandte nur ihre vielfach erprobten Methoden an, genau wie Ajay gesagt hatte.
Also begann sie noch einmal von vorn und überprüfte sämtliche Faktoren, die sie zur Vorhersage der Todesursachen aus den Kundendaten genutzt hatte: Alter, Geschlecht, Familienstand und Einkommensniveau. Dann ging sie zu den gesundheitlichen Faktoren über: Rauchen, Alkoholkonsum, Ernährung und Umfang der körperlichen Betätigung. Nach zwanzig Minuten war sie so sehr auf ihren Bildschirm konzentriert, dass sich die bewegungsgesteuerte Deckenbeleuchtung abschaltete und sie aufstehen und winken musste, damit das Licht wieder anging. Eine Gestalt in ihrer Nähe ließ sie zusammenschrecken, und als sie sich ihr zuwandte, blickte sie auf ihre eigene Reflexion im Fenster. Ihr Spiegelbild sah verängstigter aus, als sie sich fühlte.
Allein im Büro über den Computer gebeugt, versorgt mit Kaffee und einer kleinen Packung Rosinen mit Joghurtglasur aus dem Automaten, fragte sich Una, ob sie genug unternahm, um ihre eigene Lebenserwartung zu maximieren. An diesem Morgen hatte sie einen Artikel gelesen, demzufolge ein gutes Maß an sozialer Einbindung das Leben um 2,1 Jahre verlängern konnte. Die meisten Kollegen aus dem sechsten Stock waren zu Naomis Abschiedsfeier gegangen. Im Dog and Bucket würde es laut sein, die Leute würden sich bis auf den Bordstein drängen, und sie hätte Mühe, jemanden zu verstehen. Trotzdem hätte sie vielleicht hingehen sollen, um sich von Naomi zu verabschieden, statt hier zu sitzen, wo ihr nur das Summen der Klimaanlage Gesellschaft leistete.
Ihr Telefon piepte leise – eine SMS von einer unbekannten Nummer.
Hast du das mitbekommen una? ken hat mir ein smartphone geschenkt xx
Ihr Telefon klingelte, diesmal eine bekannte Nummer.
»Hi, Mum.«
Ihre Mutter hockte sicher auf dem Klappstuhl im Flur, am Festnetzanschluss ihrer Wohnung in Eastbourne, in der sie lebte, seit Una damals mit dem Studium begonnen hatte.
»Hast du meine SMS bekommen?«, fragte ihre Mum.
»Ja.«
»Meine allererste SMS ! Ken hat mir ein Smartphone geschenkt. Ein Apple-Gerät.«
»Wirklich?«, fragte Una. »In letzter Zeit scheint er mit dem Geld nur so um sich zu werfen.«
Ihre Mutter war in den vergangenen sechs Monaten oft mit diesem Ken »ausgegangen«. Er wohnte in ihrer Nähe, hatte einen Breitbildfernseher und einen Ventolin-Inhalator. Ken war wirklich großzügig – Una musste unbedingt seine Kreditwürdigkeit überprüfen.
»Ich wollte nur wissen, ob du dieses Wochenende Zeit hast und vorbeikommen willst. Das wäre gut, denn bei mir gibt es ein paar Neuigkeiten, von denen ich dir erzählen möchte.«
Una knabberte an einer Rosine. Sie hatte vor, sich am Wochenende im System einzuloggen, um die Statistik in Ordnung zu bringen. Bis auf ihren Spinning-Kurs und ihr monatliches Telefonat mit Amara am Sonntag hatte sie nichts geplant. Sie hatte überlegt, die Fotoausstellung im Naturkundemuseum zu besuchen, wollte aber nicht allein hingehen.
»Mal schauen. Auf der Arbeit gibt es ein paar dringende Dinge, um die ich mich am Wochenende kümmern muss.«
»Überleg’s dir, wir würden uns freuen, dich zu sehen. Du musst morgen nicht zum Bingo mitkommen, wenn du nicht willst, und wir gehen zum Grab deines Vaters, aber ich verstehe, wenn du dich noch nicht danach fühlst.«
»Hör zu, Mum. Wie gesagt, im Moment hab ich viel zu tun.«
»Das ist okay. Ich weiß, dass dir dein Job wichtig ist.«
Im Hinblick auf ihre Beförderung hatte es für Una oberste Priorität, die Zahlen der Küstenort-Statistik zu bereinigen, doch gab es auch noch andere Zahlen, die sie im Stich ließen. Anzahl der Besuche am Grab ihres Vaters: 0. Anzahl der Besuche bei ihrer Mutter, die sie seit dem Tod ihres Vaters vor zwei Jahren wegen Wochenendarbeit abgesagt hatte: 3. Statistisch gesehen war sie eine unterdurchschnittlich gute Tochter, und das ließe sich ändern, indem sie ihre Mum an diesem Wochenende besuchte. Außerdem könnte sie angesichts der merkwürdigen Unfälle am Meer vor Ort eine schnelle Risikobewertung vornehmen. Falls Eastbourne ein Gefahrenherd war, könnte sie ihrer Mum vorschlagen, an einen sichereren Ort zu ziehen. Fort von dem schrecklichen Ken.
Sie seufzte. »Weißt du, was? Ich kann auch bei dir arbeiten. Ich nehme den Zug morgen früh.«
»Großartig! Ich bin den ganzen Vormittag da. Möchtest du etwas Bestimmtes essen? Ansonsten habe ich einige Fertiggerichte im Gefrierschrank.«
»Ich arbeite jetzt besser mal weiter. – Moment mal, was sind das für Neuigkeiten, die du erwähnt hast?«
»Das erzähle ich dir, wenn du hier bist. Kein Grund zur Sorge.«
Ein Satz, der bei Una nur den gegenteiligen Effekt erzielte.
»Okay, tschüss, Mum.«
Una packte ihren Laptop ein und steuerte den Aufzug an. Auf dem Weg hinaus kam sie an Tims Schreibtisch vorbei. Auf einem schmuddeligen Exemplar von The Fountainhead thronte die Plexiglas-Trophäe, die er bei der Auszeichnung zum Nachwuchs-Aktuar des Jahres (London und SE ) 2009 gewonnen hatte. Nun, das war die Vergangenheit. Jetzt würde sie , Una McMurray, die zweimal in die engere Auswahl für den Titel Nachwuchs-Aktuarin des Jahres (London and SE ) gekommen war, diese Statistik vor Tim bereinigen … und wenn es das Vorletzte wäre, was sie je täte.