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Urbane Vogelbeobachtung

U na folgte der Promenade und kam an einer Teestube vorbei, die bis zum Bersten mit älteren Leuten aus Eastbourne gefüllt war. Drinnen gab es keine offensichtlichen Anzeichen von Gefahr. Nur die üblichen Risiken, die mit dem Teetrinken einhergingen: dass man von der Scherbe einer zerbrochenen Teetasse aufgespießt wurde, an einem Zuckerwürfel erstickte – alles in allem war die Lage ziemlich sicher. Sie atmete die klare, salzige Luft ein und blickte zu einem Mann am Strand, der Brotstücke für die Möwen auf den Kies warf.

Da Una nicht in Eastbourne aufgewachsen war, kannte sie die Straßen kaum, abgesehen von den Strecken zum Bahnhof oder zur Strandpromenade. Mum und Dad hatten ihren Ruhestand schon immer am Meer verbringen wollen und waren bereits hergezogen, als Una das Elternhaus verlassen hatte. In den ersten sechs Monaten schien es eine schlechte Entscheidung gewesen zu sein, Freunde, Familie und das Wissen um die besten Parkplätze vor Ort zurückzulassen. Letztlich jedoch bot Eastbourne den beiden die Möglichkeit, Leute in ihrem Alter kennenzulernen. Sich zu amüsieren. Bis Dad krank wurde.

Una bog von der Hauptstraße in eine enge Wohnstraße ein und folgte der Handy-Navigationsroute zu Eileens Haus. Blitzschnell wich sie einem Einheimischen aus, der mit einem Elektroroller über den Bürgersteig bretterte, und war dabei gezwungen, eine Weide zu umarmen. Was für einen Führerschein brauchte man für so ein Fahrzeug? Wurden überhaupt regelmäßig Kontrollen durchgeführt, um die Verkehrstüchtigkeit der Fahrer zu gewährleisten? Brauchten sie eine Versicherung? Brauchte sie als Fußgängerin eine? Als sie diese Möglichkeiten durchgespielt hatte, war sie auch schon an ihrem Ziel angekommen.

Una stand auf der gegenüberliegenden Straßenseite vor Eileens Haus. Ihr Plan bestand darin, sich als ruhige, neutrale Beobachterin zu geben und nicht aufzufallen. Sie würde das Haus nach Faktoren absuchen, die erklären konnten, warum der Korb herabgestürzt war, und vor ihrer Mum und Ken wieder zu Hause sein.

Die Straße war menschenleer, also nahm sie ihr neues Fernglas zur Hand, um die Fassade zu begutachten. Die erste Inspektion förderte nichts Ungewöhnliches zutage. Die Türschwelle und Bodenfliesen stimmten mit denen der Nachbarhäuser überein. Zwei große schwarze Mülltonnen standen wie Türsteher vor dem Haus. Und doch brauchte Eileen nun keine Versicherung mehr.

Una nahm das Mauerwerk direkt über dem Türrahmen in Augenschein. Man hatte die Blumenampel entfernt, doch sie sah noch die Bohrlöcher, in denen der Halter befestigt gewesen war. Welcher Verrückte war überhaupt je auf die Idee gekommen, einen Korb in dieser Höhe aufzuhängen, dazu noch gleich über einer Tür? Wenigstens verursachte ein solcher Korb weniger Augenkrebs als der Blumenkasten aus rotem Ton, der im zweiten Stock des Nachbarhauses über den Rand des Fenstersimses lugte. War das die Schuld der Versicherungsgesellschaften? Wurden ihre Kunden nach Abschluss einer Lebensversicherung nachlässig, oder gestalteten sie ihre Vorgärten sogar absichtlich mit einer gewissen Todessehnsucht?

Sie recherchierte, welche Wetterverhältnisse in Eastbourne am 1. Januar um 16:00 Uhr vorgeherrscht hatten. Kein Regen und eine Windgeschwindigkeit von 4, daher war es unwahrscheinlich, dass eine plötzliche Böe den Korb gelöst hatte. Schlampige Handwerksarbeit? Das könnte sie bei der Risikoberechnung ihrer Versicherung berücksichtigen. Es könnte aber auch eine dritte Partei beteiligt gewesen sein. Eine verwilderte Katze. Ein Fuchs. Vielleicht ein ausgebüchstes Zootier, etwa ein Leopard, der mit seinen kräftigen Hinterbeinen auf den Korb gesprungen war, ohne sich über die Folgen im Klaren zu sein.

»Sind Sie eine Politesse?«

Una drehte sich um und sah sich einem alten Mann gegenüber. Möglicherweise eine nützliche Datenquelle. Betongraue Hose, graubrauner Anorak – ihr gefiel sein Stil.

»Nein.«

»Warum schauen Sie dann durch dieses Fernglas?«, fragte er. »Sie wollen wohl verhindern, dass die Leute Sie bemerken und wegfahren können. Hinterhältig nenne ich das.«

Sie schüttelte den Kopf. »Nein, ich bin keine Politesse. Ich betreibe … urbane Vogelbeobachtung.«

»Und was ist das?«

»Ich beobachte Vögel auf der Straße.«

Sosehr sie sich auch über Ken geärgert hatte, musste sie doch zugeben, dass sich das Fernglas für ihre verdeckte Erkundungsmission als nützlich erwies.

»Verstehe«, sagte der Mann. »Dafür müssen Sie in die Caulston Street gehen. Die Frau in Hausnummer 24 stellt immer eine Nussmischung für Vögel auf den kleinen Tisch. Da gibt’s jede Menge dieser kleinen Mistviecher.«

»Okay, danke.«

Er deutete die Straße hinunter. »Gleich dahinten, erste links.«

»Das seh ich mir an. Danke.«

Der Mann schlurfte davon.

Offensichtlich war Una nicht so gut getarnt, wie sie gedacht hatte. Sie war hier, um zu beobachten, nicht um beobachtet zu werden.

Ihre feuchten Handflächen klebten am Fernglas. Sie schaute nach links und rechts, um sich zu vergewissern, dass niemand in der Nähe war, und konzentrierte sich dann wieder auf Hausnummer 19. Ihr Blick wanderte über die Mülltonnen vor dem Haus. Neben einer davon schien etwas zu liegen, doch als sie näher heranzoomte, nahm sie eine Bewegung wahr. Eine Frau in den späten Dreißigern trat aus Eileens Nachbarhaus und warf eine schwarze Mülltüte in die Tonne vor ihrem Haus. Ruckartig richtete sich Una auf und steckte das Fernglas in ihren Mantel. Was, wenn die Frau sie beim Spionieren gesehen hatte? Sie könnte auf dumme Gedanken kommen und die Polizei rufen.

Hastig nahm sie ihr Handy heraus und tat so, als würde sie im Internet surfen. Dabei ging sie in Gedanken einige Worst-Case-Szenarien durch, um ihre Nerven zu beruhigen. Ein paar Sekunden später verschwand die Frau wieder im Haus.

»Immer noch hier?« Der alte Mann war zurück, diesmal mit einer Plastik-Milchflasche, die er mit dem Daumen am Henkel trug. Seine Augen verengten sich. »Sie beobachten das Haus, stimmt’s? Sie sind keine Vogelbeobachterin. Nein, ich glaube, Sie sind eine dieser Immobilienmaklerinnen aus London, die mit uns das schnelle Geld machen wollen. Hab ich recht?«

Angesichts solcher Probleme konnte Una ihre professionelle Hausinspektion nicht fortsetzen. Was für ein Mensch kam überhaupt auf solch lächerliche Szenarien? Sie beschloss mitzuspielen.

»Sie haben mich erwischt«, erwiderte sie. »Ja, ich bin an dem Haus interessiert. Wissen Sie, wer vorher dort gewohnt hat?«

»Eileen.« Er bekreuzigte sich. »Aber sie ist vor Kurzem verstorben.«

»Tut mir leid, das zu hören«, sagte Una und legte eine kurze Gedenkpause ein. »Wie kam sie zu Tode? Ich frage aus rein finanziellen Gründen, für den Fall, dass es an einem Hausschwamm, Feuchtigkeit oder einem anderen baulichen Problem lag, das den Kaufpreis beeinflussen würde.«

Der Mann zeigte auf die Nummer 19. »Es war der Korb, der früher über der Eingangstür hing. Er ist ihr auf den Kopf gefallen. Das war sehr merkwürdig. So eine Blumenampel …«

»Ja, das ist in der Tat seltsam«, sagte Una. »Warum sollte man sich so was aufhängen?«

»Nein, nein, Mädchen. Ich meine, es ist seltsam, weil diese Körbe gar nicht so schwer sind, und sie hatte Tommo gebeten, ihn aufzuhängen, und Tommo ist ein zuverlässiger Kerl. Aber Unfälle passieren halt.«

»Ich verstehe. Sie kannten Eileen also gut?«

»Ob ich sie kannte? Ich war derjenige, der den Krankenwagen gerufen hat.«

»Was?«

Der Mann schlurfte näher und lockerte den Fußballschal um seinen Hals. »Sie hatte die ganze Clique da, nur ein kleines Treffen, um uns ihre Urlaubsbilder zu zeigen. Ich war zwar nicht offiziell eingeladen, wusste aber, dass ich willkommen sein würde. Also bin ich am späten Nachmittag rübergegangen, als ich davon ausging, dass alle da sein würden. Ich konnte es nicht fassen, als ich sie auf der Türschwelle liegen sah …«

»Und was war mit den anderen Gästen?«

»Die waren schon wieder weg. Der Krankenwagen kam zwar noch, aber man konnte nichts mehr für sie tun.«

Una wusste nicht, wie sie in einem solchen Fall reagieren würde – einen Unfall zu beobachten war nicht dasselbe, wie selbst darin verwickelt zu sein.

»Ich verstehe. Tut mir leid, das muss schockierend gewesen sein. Klingt, als hätten Sie das Richtige getan.«

»Wollen Sie selbst einziehen?«, fragte der Mann und ließ den Milchkanister einen Salto um seinen Daumen schlagen.

»Was?«

»In das Haus? Es wäre schön, eine neue Freundin zu haben. Auch wenn Sie eine geldgierige Sie-wissen-schon sind.«

»Na ja, ich denk drüber nach und seh mir mal die Zinssätze an.«

»Machen Sie das, Sie Gierschlund.« Er hob die Hand und wandte sich seiner Haustür zu. »Man sieht sich.«

Una wartete, bis er drinnen war, und schlich dann zu Eileens Hausfront hinüber. Nachdem sie sich vergewissert hatte, dass die Luft rein war, hockte sie sich hinter einen Mülleimer. Was würde sie sagen, wenn jemand sie hier entdeckte? Ihr Körper war in Alarmbereitschaft, ihr Kopf hingegen im Analysemodus. An der Seite der Tonne klebten zwei Zahlen, Schwarz auf Gold: eine 4 und eine 1, also 41. Seltsam – das Haus hatte die Nummer 19. Vielleicht hatte hier jemand die falsche Tonne abgestellt?

Sie warf einen Blick nach oben, um sich zu vergewissern, dass keine Leoparden über ihr lauerten. Beruhigt holte sie ihr Handy heraus und fotografierte die Zahlenaufkleber. Wahrscheinlich waren sie bedeutungslos, dennoch war es gut, sie zu dokumentieren. Nachdem sie ein paar Aufnahmen gemacht hatte, hörte sie, wie jemand versuchte, »Smells Like Teen Spirit« zu pfeifen. Schritte näherten sich …

… und gingen zum Nachbarhaus. Als sie sich noch mehr hinter dem Mülleimer zusammenkauerte, fiel das Etui ihres Fernglases auf die Fliesen. Sie erstarrte, als sich die Schritte wieder auf sie zubewegten. Jeden Moment würde man sie erwischen. Was, wenn das ihr Arbeitgeber erfuhr? Bei dem Gedanken geriet sie so sehr ins Schwitzen, dass ihre feuchtigkeitsabweisende Sportweste Schwerstarbeit leisten musste.

Unvermittelt öffnete sich die Tür des Nachbarhauses.

»Ken, gut siehst du aus. Tolles Halstuch. Komm rein, komm rein.«

»Hallo, Rosa.«

Ken? Was hatte der hier zu suchen?

Unas Herz schlug 20 Prozent schneller als im durchschnittlichen Ruhepuls. Sie wartete, bis die Tür sich schloss, dann sprintete sie zurück zur Wohnung ihrer Mutter.