Supermarkt-Razzia
U nas Handydisplay leuchtete unter dem sich verdunkelnden Himmel. Der Artikel offenbarte, dass Harry am 1. Dezember bei Trunnocks eingekauft hatte und auf einer Pfütze Tauwasser ausgerutscht war, die von einer herumliegenden Tüte Tiefkühlrosenkohl stammte.
Harry, 71, rutschte aus und taumelte gegen einen Einkaufswagen, den die aus Southampton stammende Grafikdesignerin Jada, 23, unbeaufsichtigt stehen gelassen hatte. Er packte mit beiden Händen den Griff des Wagens, der sich drehte und ihn gegen ein frei stehendes Regal mit Sport-Energydrinks schleuderte, von dem er kopfüber in die Auslage mit preisreduziertem Prosecco stürzte. Die Todesursache bleibt unklar. Bei der Untersuchung äußerte sein Bruder Roger, ein Klimawandelleugner, die Vermutung, der Spätkapitalismus habe ihn umgebracht. Der Arzt hingegen hielt einen Schock für die wahrscheinlichste Ursache. Trunnocks gab die Erklärung ab, man habe seine Lehren daraus gezogen. Es gibt keine Angaben darüber, was mit dem Wagen geschah oder ob er noch im Laden genutzt wird.
Als Una bei Trunnocks ankam, glitten die Türen automatisch auf. Der an sieben Tagen in der Woche geöffnete Supermarkt befand sich am Ende einer kurzen Ladenpassage. Im Schaufenster prangten gezackte Neonschriftzüge, die Sonderangebote und billigen Schnaps anpriesen. Instinktiv griff sie zu einem Korb, da sie nur ein paar Flaschen Sekt brauchte, dann jedoch fiel ihr Blick auf die Reihe von Einkaufswagen. Wenn sie so einen Wagen benutzte, könnte sie die Perspektive des Killerobjekts einnehmen.
Welche Risiken lauerten noch in einem Supermarkt? Herabfallende Dosen und offene Kühlschranktüren mit Kanten, die in der Lage wären, einen zu enthaupten, wenn man sich zu schnell aufrichtete. Außerdem könnte man sich die Finger im Gitter des Einkaufskorbs einklemmen.
Una machte sich auf die Suche nach dem verhängnisvollen Tiefkühlrosenkohl. Sie war lediglich eine Versicherungskauffrau, die in einem Supermarkt ein paar Daten sammelte.
Der Laden war ein enges Labyrinth aus langen Gängen, an deren Ende sich die Kassen befanden. Sie schob sich an Regalen mit bunten Hülsenfrüchten und diversen Getreidesorten vorbei, deren Verpackungen mit verschiedenen Sprachen und Schriftarten bedruckt waren. Dann ging sie weiter zu den Konserven, von denen einige in Kartons mit abgerissener Vorderseite standen. Anders als in ihrem angestammten Supermarkt gab es hier sehr viele Konserven. Für den Fall, dass ein katastrophales Erdbeben die gesamte Menschheit bis auf sie selbst auslöschen würde, wäre dies der ideale Ort, um sich mit Lebensmitteln zu versorgen. Denn dann würde der frisch zubereitete Hummus aus dem Feinkostladen unweit ihrer Londoner Wohnung nicht reichen.
Sie bog um die Ecke, und der schmale Gang erforderte die präzise Lenkung des Einkaufswagens, dessen Räder sich willkürlich quer stellten. Vielleicht war ein sperriger Wagen die Ursache für Harrys letztes Drehmanöver gewesen. Langsam schob sie den Wagen an den Kühltruhen entlang. Um nicht auszurutschen, schlurfte sie über den leicht klebrigen Boden, wobei die Gummisohlen ihrer Turnschuhe ein unangenehmes Quietschen erzeugten. Es gab zwei Arten von Gefriertruhen – solche auf Augenhöhe und andere, die am Boden standen. Letztere enthielten Tiefkühlgemüse: Erbsen, Karotten und natürlich den mörderischen Rosenkohl.
Von der Tragödie war keine Spur mehr zu erkennen – lediglich eine normale Kühltruhe auf einem sauberen Boden. Nichts deutete auf erhöhte Unfallgefahr hin.
Zeit, den Sekt zu finden. Sie schwenkte den Einkaufswagen herum, um die Getränkeabteilung anzusteuern, stieß dabei jedoch mit einer Verkäuferin zusammen, einer jungen Frau in grauer Nylonuniform, die eine Palette »Kitty Treats« durch den Gang schleppte.
»Tut mir leid, ich habe nicht aufgepasst.« Una schämte sich. Sie sollte hier nur als neutrale Beobachterin fungieren, nicht als Unfallverursacherin.
Das Mädchen sah sie an. »Sie sollten mit dem Wagen vorsichtig sein.«
»Das versuche ich ja, aber er hat seinen eigenen Willen.«
Jetzt klang sie schon wie ihre Mutter, dabei war sie erst seit acht Stunden bei ihr zu Besuch.
»Ja, wir warten darauf, dass Tommo reinschaut und sich darum kümmert«, sagte das Mädchen.
»Tommo?« Den Namen hörte Una heute schon zum zweiten Mal.
»Ein Kunde, der gelegentlich für uns arbeitet. Er wird ein paar Wagen mit WD -40 einfetten.« Das Mädchen packte den Griff der Palette.
Una war angespannt – sie musste dieser Quelle mehr Informationen entlocken.
»Arbeiten Sie schon lange hier?«, erkundigte sie sich.
Man sah der Verkäuferin an, dass ihr das oberflächliche Geplänkel ebenso unangenehm war wie Una.
»Eine Weile«, antwortete sie und fuchtelte mit ihrem Schlüsselband herum. »Warum fragen Sie?«
»Nur so. Wissen Sie, ein Freund der Familie hatte hier kürzlich einen Unfall. Vielleicht sollte ich … Sie wissen schon … in diesem Laden besonders respektvoll einkaufen.«
Das lief nicht gut. Sie lenkte das Gespräch noch ungeschickter als ihren Trunnocks -Einkaufswagen.
»Ein Unfall …«
»Sein Name war Harry«, sagte Una. »Ich glaube, es ist genau hier passiert.«
Das Mädchen schaute finster drein. »Sind Sie etwa Journalistin? Wozu all diese Fragen? Oder gehören Sie zu dieser True-Crime-Gruppe aus Eastbourne? Die waren am schlimmsten, mit ihren dummen Fragen nach dem Motiv und der Gelegenheit.«
»Nein, ich kaufe hier nur zufällig ein, ehrlich.«
»Mit leerem Einkaufswagen? Ich halte euch alle für irre. Dieser arme Mann – ich war hier, als …« Dem Mädchen kamen die Tränen, und ihre Unterlippe zitterte.
Allmählich geriet Una in Panik. »Tut mir leid, das wollte ich nicht … Ich bin nur kurz reingekommen, um etwas Sekt zu holen. Schauen Sie mal, den hier.«
Sie zückte ihr Handy und zeigte ihr das Bild von ihrer Mum und Ken mit der Flasche. Das war irrational, aber vielleicht würde die Geste die junge Frau davon überzeugen, dass Una nicht hobbymäßig Mordfälle untersuchte.
»Das ist Ken«, sagte das Mädchen und zeigte auf das Foto.
»Ja, das ist er. Und das da neben ihm ist meine Mum.«
»Okay. Wenn Sie mit Ken befreundet sind, sind Sie wahrscheinlich in Ordnung.«
»Wirklich? Sie kennen Ken?« Jede Information könnte Una helfen, ihre Mum vor der überstürzten Heirat zu bewahren. »Wie ist er so als Kunde? Ist er jemals in Begleitung einer geheimnisvollen jüngeren Frau hier gewesen? Ist Ihnen sonst noch was an ihm aufgefallen, was … Sie wissen schon, verdächtig ist?«
Das Mädchen verzog das Gesicht. »Ich erzähl Ihnen mal was über Ken. Als Trunnocks bedroht war, weil eine große Supermarktkette unseren Pachtvertrag übernehmen wollte, hat Ken zu unserer Unterstützung einen Flashmob organisiert. Er hat auch die Lokalzeitung eingeschaltet, und am Ende wurde die Lizenz nicht erteilt. Das ist auch gut so. Trunnocks beschäftigt eine ganze Reihe von Einheimischen, dieser neue Supermarkt hingegen sollte nur mit Computern auskommen.«
»Aber die Automatisierung ist doch sicher was Gutes«, sagte Una. »Effizient, schnell …«
»Ich mach mich wohl besser wieder an die Arbeit.« Das Mädchen hob die Palette auf.
Una musste sie unbedingt aufhalten. Sie hatte noch Fragen.
»Ich hab mich falsch ausgedrückt. Das war ungeschickt von mir, tut mir leid«, entschuldigte sie sich. »Noch mal wegen des Vorfalls mit Harry. Sie sagten, Sie waren dabei?«
Das Mädchen hielt inne und sah sie an, als wäre sie eine verbeulte Dose Pfirsiche. »Sie lassen nicht locker, was? Was glauben Sie denn? Es war furchtbar. Harry war so ein reizender Mann. Er und Ken waren ein tolles Gespann. Als wir ihn neben dem Wagen fanden … waren seine letzten Worte ›falsche Nummer‹. Sicher wusste er überhaupt nicht, wie ihm geschah. Es war schrecklich. Nur gut, dass der Arzt anwesend war, auch wenn der tierisch nervt und behauptet, hier nur im Notfall einzukaufen, obwohl er in Wirklichkeit oft herkommt.«
»Als Sie gerade Ken erwähnten, meinten Sie einen anderen Ken, oder?«
»Nein, den Ken auf Ihrem Foto. Und seine Freunde haben damals alle beim Flashmob mitgemacht. Er hat alle eingeladen, die er kannte. Wir waren ganz aufgeregt, und dann später die Sache mit Harry …«
Ken hatte sowohl Eileen als auch Harry gekannt. Sie gehörten zum selben Freundeskreis. Was für ein Zufall, obwohl es wohl nicht unwahrscheinlich war, dass sich in einer Gruppe von Rentnern Unfälle häuften, wenn man genügend Datensätze zugrunde legte. Aber Harrys letzte Worte – was war das für eine »falsche Nummer«? Eine Telefonnummer? Eine Adresse?
Una nahm eine Tüte Karotten aus einem Tiefkühlfach, damit sie wie eine echte Kundin wirkte.
»Fällt Ihnen sonst noch was ein?«, fragte sie. »Könnte irgendwas auf dem Boden, am Wagen oder an den Kühltruhen den Unfall verursacht haben? Würden Sie sagen, dass Ihre Kunden im Allgemeinen eine durchschnittliche Lebenserwartung haben?«
Das Mädchen stand mit verschränkten Armen da. Zahlen waren so viel leichter zu manipulieren als Menschen.
»Ich nehme an, das heißt Nein.«
»Kann ich Ihnen sonst irgendwie helfen?«
»Das war’s, danke. Oh, Moment, wo finde ich den Sekt?«
»Vorletzter Gang.«
Das Mädchen ging mit der Palette weiter. Nachdem Una nun mehr über Ken und seine Freunde erfahren hatte, beschloss sie, die Kühltruhen noch einmal abzugehen. Sie wollte sie gründlich auf alle möglichen Risiken überprüfen. Sie ging in die Hocke und stellte die Tüte mit den gefrorenen Möhren auf den Boden. Dann lief sie im Entengang an den Truhen entlang und suchte auf dem Boden nach etwas Ungewöhnlichem. Als sie umkehrte und die zweite Inspektion im Entengang durchführte, rutschte sie auf dem Tauwasser aus, das die Möhren auf dem Linoleum hinterlassen hatten, und fiel rücklings um. Sie verspürte einen stechenden Schmerz im Steißbein und blieb ein paar Sekunden sitzen, um sich zu vergewissern, dass sie noch bewegungsfähig war. Ihr Nacken war in einem seltsamen Winkel verrenkt, und so kam es, dass sie den Brandschutzhinweis an der Wand über ihr erblickte. Daneben klebten zwei Ziffern in perfekter Symmetrie, in demselben Gold und Schwarz wie die Aufkleber auf Eileens Mülltonne. Diesmal bildeten sie die Zahl 37.