Begegnung mit einem Fußbad
A m nächsten Morgen erwachte Una durch Geräusche im Wohnzimmer. Ihre Mum war dabei, hektisch bunte Kleider in eine Tasche zu packen, und der Geruch nach altem Parfüm hing in der Luft.
»Morgen«, sagte sie. »Ich fange gerade mit dem Ausmisten an.«
»Ausmisten?«, hakte Una nach. »Hast du nicht schon genug zu tun, auch ohne dass du die Wohnung aufräumst? Ich finde, sie sieht gut aus.«
Ihre Mum lächelte. »Ich muss Platz für Kens Sachen schaffen, weil er nach unserer Hochzeit hier einzieht.«
»Er zieht hier ein?«
»Ja, sein Haus ist zu groß für uns beide, also verkauft er es, und wir wohnen hier. Er entrümpelt auch bei sich, und Anton kommt nächstes Wochenende vorbei und geht ihm zur Hand. Ken sagt, sein Sohn macht gerade eine schwere Zeit durch – er hat sich kürzlich von seiner Freundin getrennt –, und die Arbeit wird ihn sicher ablenken. Und wo ich schon dabei bin, wäre es gut, wenn du den Schrank neben der Eingangstür ausmisten könntest – da sind deine alten Sachen drin.«
Die Erkenntnis, dass die Hochzeit Realität wurde, traf Una mit voller Wucht. Danach würde Ken unausweichlich zur Familie gehören.
»Okay, Mum, mach ich, wenn ich das nächste Mal da bin. Aber du wirst doch einen Ehevertrag abschließen? Du willst doch bestimmt sichergehen, dass dich keiner aus deiner Wohnung schmeißen kann.«
Ihre Mum wirkte verärgert. »Una, ich bin nicht Kim Kardashian aus dem Fernsehen. Nein, ich schließe keinen Ehevertrag ab, vielen Dank.«
Una ging zur Spüle und drehte den Hahn bis zum Anschlag auf, um den Wasserkocher zu füllen. Bei allem, was sonst noch anstand, hatte sie ihren Plan, Kens regelmäßige Ausgaben unter die Lupe zu nehmen, auf Eis gelegt.
»Pass auf, dass du nicht versehentlich ein Sammlerstück wegwirfst«, sagte sie.
»Ich glaube nicht, dass diese alten Kleider viel wert sind«, erwiderte Unas Mum. »Vielleicht könntest du sie auf dem Weg zum Bahnhof im Wohltätigkeitsladen abgeben. Du musst zu Tread Softly in der Radcliffe Street; da ist eine Fußgängerzone, also ist es da ziemlich sicher. Das Geschäft gehört Jean. Du wirst sie wohl antreffen, sie ist sehr engagiert und normalerweise auch sonntags da. Sie regt sich auf, wenn einer von uns auch nur einen Blick in einen anderen Wohltätigkeitsladen wirft.«
»Was für eine Art von Wohltätigkeitsorganisation ist Tread Softly ?«, fragte Una. »Ich habe noch nie davon gehört.«
»Sie hilft alten Menschen. Mehr weiß ich auch nicht.«
Una rief auf ihrem Handy die Website des Ladens auf. Sie wirkte wie eine Betrugsseite, was wohl an der altmodischen Gestaltung in puncto Farben, Schriftart sowie an dem Stock-Foto einer Rentnergruppe lag. Zudem lieferte die Seite nur spärliche Informationen darüber, wie die Wohltätigkeitsorganisation tatsächlich alten Menschen half. Tread Softly – wo jeder zählt , verkündete das Banner am oberen Seitenrand. Das klang vielversprechend. Vielleicht förderten sie die mathematischen Fähigkeiten von Rentnern? Damit könnte sie sich anfreunden. Doch dann bemerkte sie einige ungewöhnliche Nachrichten eines anonymen Trolls im Kommentarbereich:
Unterstützt junge Leute statt alte
Die Bevölkerungs-Pyramide sollte die Form eines Dreiecks haben, nicht eines Quadrats
Alte Menschen haben heute Morgen bei Waitrose den Gang mit den Gewürzen verstopft – schon wieder
Offensichtlich wusste jemand den Beitrag der älteren Bevölkerung Eastbournes nicht zu schätzen.
Ihre Mum knotete die Tüten zu und schob sie ihr zu.
»Kein Problem, ich nehme sie mit«, sagte Una. »Ich mache mich besser mal auf den Weg.«
»Komm her.«
Una schlurfte zu ihrer Mum, die sie in eine feste Umarmung und die Wolke aus Madame-Rochas-Parfüm zog.
Schließlich ließ ihre Mum von ihr ab. »Es war schön, dich dieses Wochenende hier zu haben. Vielleicht könntest du wiederkommen und mir bei der Hochzeitsvorbereitung helfen? Es gibt viel zu tun, und du darfst gern mitentscheiden.«
»Ich bin ziemlich beschäftigt, Mum, aber ich kann von London aus helfen. Das meiste lässt sich wahrscheinlich online erledigen.«
»Okay, das wäre doch was.«
Bei all den Ablenkungen an diesem Wochenende hatte Una nur wenig Zeit für die Prüfung ihrer Statistik gehabt. Ab morgen würde sie länger arbeiten und sich darauf konzentrieren, nahm sie sich vor. Sie ärgerte sich, weil sie sich auf eine wilde Zahlenjagd eingelassen hatte. Cassies Vorhersage gestern Abend hatte sie sogar verunsichert, obwohl das nichts als Unsinn war.
Sie machte sich früh auf den Weg zum Bahnhof, um Zeit für den Abstecher zu Tread Softly zu haben. Es war ein kühler, bedeckter Morgen, und um ihrer Gesundheit Respekt zu zollen, lief sie zwar zügig, aber so, dass sie sich noch mit jemandem hätte unterhalten können, auch wenn sie das keineswegs vorhatte. Sie fand die Fußgängerzone, in der sich der Wohltätigkeitsladen befand. Die Straße war laut und voller Menschen, Kinderwagen und Fahrräder. Tread Softly lag zwischen einem »Bad und Körper«-Laden und einem Geschäft, das Schmuck für junge Mädchen verkaufte. Ein paar Türen weiter gab es einen weiteren Wohltätigkeitsladen, der junge Menschen unterstützte.
Eine Glocke ertönte, als Una eintrat, und sofort strömten die Reize des Ladens auf sie ein. Er war mit Krempel vollgestopft. Gebrauchtem Krempel. Sachen, die schon durch viele Hände gegangen waren. Sie hatte ihr antibakterielles Gel im Rucksack, immerhin ein Trost. Der Boden war mit runden Kleiderständern vollgestellt, und die Wandregale enthielten reihenweise Bücher, deren Rücken weiße Knicke aufwiesen. Es roch leicht süßlich nach Schimmel, Muff und Mottenkugeln.
»Sieh mal, wer da ist«, sagte Jean, die hinter dem Verkaufstresen im rückwärtigen Teil des Raums stand. »Schön, dich wiederzusehen, Una, Liebes.«
»Ich bringe nur ein paar Sachen vorbei, Kleider von Mum. Wo soll ich sie ablegen?«
»Bring alles her an den Tresen. Ein paar Kleider mehr können wir gebrauchen.«
Jean inspizierte kurz die Tasche.
»Mir ist aufgefallen, dass ein paar Türen weiter ein Konkurrenzgeschäft ist«, sagte Una.
»Das ist keine Konkurrenz.« Jean zog eines der Kleider heraus und strich es auf dem Tresen glatt.
»Verzeihung. Ich weiß, ihr versucht alle, Geld für einen guten Zweck zu sammeln.«
»Die Auslagen in ihren Schaufenstern sind zweifelsfrei zweitklassig.« Jean schürzte die Lippen. »Ebenso ihr Sortiment.«
»Ihr habt hier wirklich eine Menge Zeug.« Da Jean sich offenbar schnell aufregte, beschloss Una, sich auf kurze, sachliche Aussagen zu beschränken.
»Ich hoffe, du hast gestern Abend keinen falschen Eindruck von uns bekommen.« Jean steckte das Kleid zurück in die Tasche und legte sie vorsichtig auf einen Haufen anderer Taschen und Kartons hinter dem Tresen. »Normalerweise sind wir eine sehr eingeschworene Truppe.«
»Machst du dir keine Sorgen, weil diese Frau uns eine drohende Gefahr prophezeit hat?«
»Cassie? Weißt du, was? Ich glaube, sie will uns auf ihre Art und Weise helfen.«
»Ich wundere mich nur, dass ihr sie alle als enge Freundin betrachtet, obwohl sie von lauter dunklen Visionen spricht«, sagte Una.
»Das überhöre ich einfach«, erwiderte Jean. »Wir sind alle nachsichtig mit ihr. Ihre Gabe, wie sie es gerne nennt, ist seit einiger Zeit Geschichte, und dann ist ihr Sohn nach Neuseeland gezogen, und sie sieht ihn wegen der Kosten kaum noch. Eine Schande.«
Una schaute auf ihre Uhr. Ihr blieb genug Zeit, um zum Bahnhof zu gehen, also trat sie näher an den Schalter heran. Cassies Sohn war vielleicht nicht hier, um auf seine Mutter aufzupassen, sie hingegen würde ihre Mum beschützen.
»Apropos Kosten. Ken scheint ziemlich großzügig zu sein.«
»Er war schon immer ein kleiner Prahler, unser Ken. Allerdings nützt das meinem Laden sehr, denn er hat sein Zeug schnell satt. Vor ein paar Wochen hat er eine Menge neuen Kram reingebracht, zusammen mit ein paar Habseligkeiten vom armen Harry, die seine Tochter aussortiert hatte. Einige der Bücher waren nicht angemessen, also musste ich sie anderweitig unterbringen. Aber sieh dir das Fußbad da drüben an, neben dem Stapel seiner alten Pullover. Harry hat es nur einmal benutzt, und es hat drei Heizstufen.«
Una folgte Jeans Blick zu dem Karton, der auf einem Regal lag.
»Das ist ein Sonderangebot, falls du interessiert bist.«
»Nein, danke«, sagte Una. Ein gebrauchtes Fußbad war schon an sich ein Worst-Case-Szenario, und dieses hier wies wahrscheinlich noch Hautrückstände des kürzlich verstorbenen Harry auf. »Ken muss wohlhabend sein, wenn er sich so viel Zeug kaufen kann, oder?«
»Du bist genau wie meine Tochter. Sie denkt, wir Alten sind alle so reich wie Krösus, wegen unserer Renten und der Preise, die wir für unsere Häuser bezahlt haben. Ich will dir eines sagen: Ich hab mein ganzes Leben lang hart gearbeitet – genau wie Ken. Das beantwortet hoffentlich deine Frage.«
Dem war nicht so. Vielmehr warf die Antwort die Frage auf, ob Ken die Wohnung ihrer Mum mit Schnickschnack vollstopfen würde. Zeit für die nächste Verhörfrage.
»Eine Sache noch«, sagte Una. »Ich habe mich mit Ken beim Bingo darüber unterhalten, wie seltsam es ist, dass er zwei Leute kennt, die auf ungewöhnliche Weise ums Leben kamen. Das hat er offenbar nicht gut aufgefasst, denn er lief rot an. Geht es ihm gut – gesundheitlich, meine ich?«
Jean seufzte. »Das war ihm wohl ein bisschen unangenehm, weil er hinter beiden Veranstaltungen steckte. Er hat darauf bestanden, dass Eileen ihre Kreuzfahrtfotos auf einer Fotoparty vorführt, und dann kam er auf die Idee mit der Demonstration für Trunnocks . Ich wollte eine Petition machen, aber er meinte, das wäre nicht Instagram-tauglich genug.«
»Ich verstehe. So halbwegs.«
»Also ich glaube, er fühlt sich ein bisschen schuldig, obwohl die Unfälle keinesfalls durch uns verursacht wurden. Ich betrachte es sogar als Segen, dass wir die beiden kurz vor ihrem Ende noch gesehen haben. Auf jeden Fall ist es besser, das Thema nicht anzusprechen, wenn er dabei ist. Er ist eine sehr sensible Seele.«
Una formulierte im Kopf weitere Fragen, während sie den Pullover neben dem Fußbad musterte. Er war weiß mit rotem Strickmuster. Sie faltete ihn mit den Fingerspitzen auseinander. Der vordere Saum wies ein paar rote Schnörkel auf, bei denen es sich möglicherweise um Zweien handelte. Warum Harry wohl dieses Muster gefallen hatte? Wenn es Zahlen waren, hatten sie keine offensichtliche Verbindung zu denen, die sie gestern bei den Gefriertruhen gesehen hatte. Falls es überhaupt eine gab.
»Jean, weißt du, was das für ein Muster auf diesem Pullover ist? Ist das eine Nummer?«
Jean faltete penibel eine Bluse mit einem Kleiderbügel zusammen. »Keine Ahnung, könnte irgendeine angesagte Marke sein. Vielleicht bedeuteten die Zahlen ihm was – da musst du John fragen, er ist der Zahlenexperte hier. Ich weiß nicht, ob er heute Morgen reinschaut. Er ist ganz früh los, hat nicht viel gesagt. Aber gerade das fand ich ja so anziehend an ihm: seine geheimnisvolle Art.«
Als Una den Pullover zurücklegte und einen Schritt zurücktrat, erscholl ein markerschütternder Schrei. Etwas hielt sich an ihrem Bein fest, eine warme Präsenz, die wie ein fremdes Herz pulsierte. Sie sah nach unten. Eine getigerte Katze mit großen bernsteinfarbenen Augen umklammerte sie und starrte sie an.
»Eine Katze. Hier ist eine Katze. Ich glaube, ich habe sie erschreckt«, sagte Una.
»Keine Sorge«, erwiderte Jean, »das ist nur Pedro, Cassies Kater. Ich ermuntere ihn zwar nicht, hier reinzukommen, kenne ihn aber, seit er ein Junges war. Der Laden ist eine Zwischenstation auf seiner täglichen Runde.«
»Er hat seine Krallen in mich geschlagen. Könntest du ihn vielleicht zurückpfeifen?«
»Hier, Pedro, hier.« Jean schüttelte eine Tüte mit den »Kitty Treats«, die Una bei Trunnocks gesehen hatte. Die Katze hüpfte zu ihr hinüber und fing an, die auf dem Boden verstreuten Leckerlis zu fressen.
»Diese Katze ist eine Plage.« Una krempelte ihre Jeans hoch und beäugte die Kratzwunden. Als sie ihre Wade fest zusammendrückte und damit wackelte, trat eine winzige Menge Blut aus. Eine Katastrophe. Sie würde diese Verletzung genau im Auge behalten müssen. »Ich habe Wunden von den Krallen.«
»Oh!«, rief Jean. »Ich suche mal den Erste-Hilfe-Kasten.«
Una sträubte sich gegen die Vorstellung, dass Jean ihr Bein mit Secondhand-Verbänden versorgen würde. Sie würde sie ein anderes Mal über die schwarz-goldenen Zahlen aushorchen müssen.
»Ist schon gut. Ich kümmere mich selbst darum. Ich muss los.«
Sie versuchte, ihr verwundetes Bein nicht zu belasten, das eigentlich gar nicht so sehr schmerzte – war das ein schlechtes Zeichen? Befand sich ihr Körper nach dem Angriff in einem Schockzustand, der ihr Bein betäubte? Wie auch immer, sie verließ das Tread Softly jedenfalls wie auf Samtpfoten.
Una hatte nur noch dreißig Minuten Zeit, um zum Bahnhof von Eastbourne zu eilen und ihren Zug zu erwischen, doch am Ende fand sie einen Platz in einem recht ruhigen Waggon und fuhr nach London zurück. Ihre Einzimmerwohnung hatte sie vor fünf Jahren gekauft, nachdem sie lange damit gehadert hatte, einen so hohen Kredit aufzunehmen. Aber sie war definitiv bereit gewesen für ein unabhängiges Leben, nachdem sie jahrelang mit Freunden, Fremden oder Arbeitskollegen in WG s zusammengelebt hatte, in der ständigen Bedrohung, dass ihre Mitbewohner den Herd anließen oder die Steckdosen überlasteten. Sie hatte in Gegenden Londons gewohnt, in denen es ernsthafte Probleme mit Bodensenkungen gab, die das Haus zum Einsturz hätten bringen können, während sie schlief. Also hatte sie, nachdem sie ihr Examen bestanden und sich ein paar Jahre beruflich etabliert hatte, eine Anzahlung auf die Wohnung geleistet. Sie lag in einer aufstrebenden Gegend und wies, gemessen am Kaufpreis, eine recht attraktive Kriminalitätsstatistik auf. Balham.
Ihre Immobilie befand sich in einer alten Marmeladenfabrik, die zwar in Wohnraum umgewandelt worden war, dabei aber einige ihrer ursprünglichen Merkmale behalten hatte. Sie hatte solide Ziegelwände und eine ordentliche Gegensprechanlage. Unas Wohnung lag im dritten Stock, sodass die Einbruchsgefahr gering war. Die winzige Küche gehörte zum Hauptzimmer, was von Vorteil war, denn so würde sie mitbekommen, falls plötzlich der Toaster qualmte oder das Waschbecken überlief. Nur selten begegnete sie anderen Mietern, aber zu der Familie am Ende ihres Flurs hatte sie ein gesundes Wir-grüßen-uns-mit-einem-Nicken-Verhältnis aufgebaut.
Sie prüfte die Gemeinschaftsbriefkästen in der Lobby – nur ein rosa Umschlag mit handgeschriebener Adresse. Es war die Hochzeitseinladung von Mum und Ken. Oben angekommen wärmte sie sich eine kleine Portion des tiefgekühlten Thai-Gemüse-Currys auf, das sie unter der Woche eingekauft hatte. Dann begann sie ihren monatlichen Videochat mit ihrer Freundin Amara, die mit ihrem Mann und ihrer Tochter in Leeds lebte, seit sie mit Una ihr Studium abgeschlossen hatte.
Nach ein paar netten Worten über Naz, Ela und Amaras Eltern kam Una gleich auf die dramatische Nachricht vom Wochenende zu sprechen.
»Ich sehe schon, du bist nicht glücklich über die Hochzeit«, stellte Amara fest.
Kurz war Hundegebell bei ihr zu hören. Der weiße Hintergrund in Unas Chat-Fenster stand in starkem Kontrast zu den vielen Büchern, Bildern und dem allgemeinen Krempel in Amaras Fenster.
»Wie könnte ich auch? Ich weiß einfach nicht genug über Ken«, erwiderte Una. »Sie sollten es langsamer angehen. Heute habe ich erfahren, dass er ein paar Treffen mit seinen Freunden organisiert hat, und kurz darauf sind zwei davon bei ungewöhnlichen Unfällen gestorben. In meinen Augen statistisch höchst seltsame Unfälle.«
Amara zuckte zusammen. »Der arme Kerl. Kein Wunder, dass er sich auf die Hochzeit freut.«
»Er hat nicht gerade ein glückliches Händchen bewiesen, oder?«
»Ich dachte, du glaubst nicht an Glück. Wenn du dir solche Gedanken über ihn machst, warum lernst du ihn nicht ein bisschen besser kennen?«
»Genau das hab ich vor. Ich werde ihn so gründlich durchleuchten, wie ich nur kann.«
»Nein, ich meinte, du sollst mit ihm reden, um ihn als Person kennenzulernen.«
Una schaltete das Mikrofon kurz für einen tiefen Seufzer stumm.
»Klingt so, als wäre deine Mutter bereit, mit ihrem Leben weiterzumachen«, sagte Amara.
»Weitermachen? Aber sie könnte in eine viel schlimmere Lage geraten.«
»Nach allem, was du mir erzählt hast – die vielen kleinen Geschenke, die Art, wie er mit ihr spricht –, scheint er ein netter Kerl zu sein.«
Amara war vernünftig und irrational zugleich. Ken war ein Unbekannter.
»Du spekulierst auf Grundlage minimaler Informationen«, sagte Una, während bei Amara wieder ein Hund bellte. »Wie finanziert er all diese Geschenke? Und ich habe dir noch nicht gesagt, dass ich ihn dabei erwischt habe, wie er das Haus einer jüngeren Frau betrat.«
»Und?«
»Als ich ihn danach ausgequetscht habe, hat er mir keine Erklärung geliefert.«
»Du hast ihn ausgequetscht? Kein Wunder. Die Frau ist wahrscheinlich mit seiner Familie befreundet oder mit ihm verwandt oder so. Klingt, als wärst du diejenige, die auf Grundlage minimaler Beweise spekuliert.«
Das war ein gutes Argument. Amara beugte sich so weit vor, dass ihr Kopf den Bildschirm von Unas Laptop ausfüllte. Una schaute auf das kleine Fenster, das ihr eigenes Gesicht zeigte. Sie sah ihrer Mum tatsächlich immer ähnlicher. Wann war das passiert?
»Vielleicht solltest du auch mit deinem Leben weitermachen«, sagte Amara in sanfterem Ton.
»Ich hab mich auf der Arbeit sogar für eine Beförderung beworben.«
»Ich habe neulich eine neue Dating-Seite für mathematisch begabte Menschen gesehen«, fuhr Amara fort und zog ihre Tochter auf ihren Schoß. Dann nahm sie Elas pummelige Hand in die Finger und winkte Una damit zu.
Una erwiderte das Winken auf ähnlich gezwungene Weise.
»Die kenn ich schon. Ich habe den Fragebogen sehr detailliert ausgefüllt und angegeben, dass ich nur Leute treffen will, die zu 99 Prozent zu mir passen. Bis jetzt null Übereinstimmungen.«
»Das ist eine Schande«, sagte Amara. »Übrigens, Jules ist jetzt verheiratet.«
»Was?«
»Ja, mit Rach. Ihr Cockerspaniel hat ihnen die Ringe auf einem kleinen Tablett gebracht. Ist alles auf Facebook.«
Jules war an der Uni so unabhängig gewesen, und jetzt hatte sie einen Cockerspaniel. Was war aus der Solidarität zwischen Frauen geworden und dem Versprechen, für den Rest ihres Lebens selbstbestimmte Individuen zu bleiben?
»Weißt du, Una, ich hab über deine Worte nachgedacht. Und das ist jetzt nur ein Vorschlag.«
Una wusste, dass diese Formulierung nur ein Codewort war. Sicher würde sie gleich etwas Herausforderndes zu hören bekommen.
»Okay, sprich weiter.«
»Warum überlegst du nicht, wie du deinen Vater miteinbeziehen kannst, du weißt schon, bei der Hochzeit? Du hast doch mal gesagt, dein Dad würde wollen, dass deine Mutter glücklich ist. Er würde nicht wollen, dass sie allein bleibt, oder?«
Una atmete tief aus. »Und wie stellst du dir das vor?«
»Du könntest ein paar Fotos von ihm und deiner Mum einbauen oder ihr gemeinsames Lieblingsgedicht vorlesen. Aber nichts, ich wiederhole, nichts , was Ken im Vergleich zu ihm schlecht aussehen lässt.«
Nicht einmal Unas ergonomischer Schreibtischstuhl konnte ihr Unbehagen mindern.
»Ich werde darüber nachdenken«, sagte sie und musterte Amaras besorgte Miene.
Anschließend erzählte Amara von der TV -Serie Line of Duty und ihren Theorien zu den einzelnen Figuren. Doch ihr Vorschlag zur Hochzeit zersetzte Unas Gedanken wie eine Flechte einen Fensterrahmen, dessen Reparatur die Gebäudeversicherung übernehmen müsste.