Ein Keks ist jedes Risiko wert
C assie wohnte in einem Kommunalbau im Stadtzentrum, unweit der Hauptstraße. Una eilte die Treppe zu ihrer Wohnung im zweiten Stock hinauf und folgte der Balkonempore. Vor den meisten Wohnungstüren standen persönliche Dekoelemente – weiße Plastik-Terrassenmöbel, eine riesige Palme, die sich über der Tür wölbte. Sie konnte die Gespräche der Bewohner auf der Empore unter ihr hören.
Zu Hause in Balham vermied Una es immer, mit ihren Nachbarn zu sprechen. Wenn sie ihre Wohnung verlassen wollte und jemanden auf dem Gemeinschaftsflur hörte, blieb sie so lange drinnen, bis die Luft rein war. Durch diese Mischung aus Sozialphobie und Höflichkeit hatte sie absolut keine Ahnung, wer neben ihr wohnte.
Als sie Wohnung 35 erreichte, hörte sie den laufenden Fernseher durch die Tür. Sie betätigte den Türklopfer. Zweiter Tag der Befragung. Ob Pedro hinter der Tür lauerte, um sie wieder anzufallen? Vorsorglich trug sie für diesen Fall ein paar Schienbeinschoner unter der Jeans.
Nach wenigen Sekunden verstummte der Fernseher, und sie vernahm ein Schlurfen. Cassie öffnete die Tür. Sie trug ein lila Samtkleid mit runden Silberpailletten. Una musterte den Flur der Wohnung: keine Spur von Pedro.
»Hi, Cassie. Ich bin nur kurz wegen der Fotos hier.«
»Ich habe dich schon erwartet,« erwiderte Cassie mit ihrer dünnen Stimme.
Una hatte damit gerechnet, dass sie etwas in der Art sagen würde. Es war eine Schande, dass jemand, der angeblich die Zukunft voraussagen konnte, selbst so berechenbar war. Doch sie musste sich auf ihr Ziel konzentrieren.
Was hatte Cassie mit dem vorzeitigen Ableben der Rentner zu tun? Und wieso hatte sie diese unheimlichen Zukunftsvisionen geäußert?
Sie folgte ihr ins Wohnzimmer.
»Eine Tasse Tee?«, fragte Cassie.
Una hatte nicht vor, in diese Falle zu tappen. Teeblätter würden Cassie nur wieder eine Gelegenheit bieten, die Toten herbeizubeschwören.
»Kaffee wäre mir lieber, wenn du welchen hast.«
»Ja, allerdings nur Instantkaffee.«
»Der ist prima, danke.« Una beäugte das Wohnzimmer. Ein Zweisitzersofa aus blauem Leder und ein dazu passender Sessel standen um einen Satztisch herum. Über dem Kaminsims hing ein Horoskop.
Una zuckte zusammen, als sie Glas klirren hörte, doch es war nur der Perlenvorhang im Bogendurchgang, der am Ende des Raums in die kleine Küche führte, wo Cassie soeben den Wasserkocher auffüllte.
»Wo ist eigentlich deine Katze?«
»Pedro?«, fragte Cassie mit dünner Stimme. »Oh, der dürfte um diese Zeit herumstreunen.«
Sie kam mit zwei Tassen Kaffee und ein paar Keksen mit Milchschokoladenfüllung zurück und setzte beides neben einer Kristallkugel ab.
»Kekse?«
»Ja, danke.« Una kramte eins der Gebäckstücke aus der Packung. »Das ist meine Lieblingssorte.«
»Das habe ich gespürt.« Cassie nickte und nahm im Sessel Platz. »Ich nehme an, du willst mir ein paar Fragen stellen?«
Una musste auf der Hut sein und jede auffällige Körpersprache vermeiden. Also legte sie den angeknabberten Keks ab, setzte sich aufrecht hin und verschränkte die Arme bewusst nicht vor der Brust – eine neutrale Haltung, die Cassie schwer deuten könnte.
»Wie kommst du darauf? Ich bin nur hier, um zu sehen, ob du irgendwelche Fotos für das Video hast, das wir für Mums und Kens Hochzeit zusammenstellen – gute Erinnerungen, besondere Anlässe und so weiter.«
Allmählich wurde sie im Small Talk immer geübter. Zugegeben, der Small Talk war auf Siebzigjährige zugeschnitten, die in einem Küstenort ihrem baldigen, aber ungewöhnlichen Tod entgegensahen, doch es war immerhin ein Anfang.
»Wollen mal sehen«, sagte Cassie. »Kommst du an die Kommode hinter dir ran?«
Una drehte sich um, wobei sie ein unangenehmes Quietschen auf dem glatten Ledersofa erzeugte, und erblickte einen Kiefernholzschrank mit Glastür. An der Oberseite des Schranks prangte ein Ornament, das eine einsame Schäferin zeigte; daneben stand das leicht vergilbte Foto eines Jungen in Schuluniform, dem ein Vorderzahn fehlte.
»Darin ist mein Fotoalbum«, erklärte Cassie. »Unterste Schublade, falls du rankommst.«
Una drehte sich unter Mühe um und spürte, wie sich einige selten benutzte Muskeln anspannten, als sie die Schublade aufzog. Sie tastete nach etwas Viereckigem mit stoffüberzogenem Einband, und da war es, gleich hinter einem spitzen Objekt, das sich in ihren Daumen bohrte.
»Autsch!«
»Pass übrigens auf die Nadeln auf«, warnte Cassie.
»Nadeln?« Una hasste Nadeln. Blutabnahmen und Injektionen waren für sie eine Herausforderung. Sie krümmte die Finger, sodass sie in ihrer Handfläche eine Art Embryonalstellung einnahmen.
»Es sind nur Stricknadeln.« Lächelnd brach Cassie einen Keks entzwei.
Vorsichtig zog Una das Fotoalbum heraus und reichte es Cassie, die es auf den größten der Tische zwischen ihnen legte. Sie beugten sich vor, und Cassie blätterte die Seiten durch. Vorn im Buch waren Schwarz-Weiß-Fotos eingeklebt.
»Hier ist eins von uns als Kinder – Jean, Eileen, ich und natürlich Ken.«
Jean wirkte sehr adrett, ihre weißen Socken waren auf die gleiche Höhe gezogen. Eileen trug eine Art Stirnband, und Cassie blickte stirnrunzelnd in die Kamera. Ken, der in der Mitte stand, hatte den Hemdkragen hochgeschlagen und eine schwarz glänzende Tolle, die das Sonnenlicht einfing.
»Ken brauchte schon immer viel Aufmerksamkeit«, sagte Cassie. »Er war an seiner Schule der Kapitän der Fußballmannschaft. Hier kann man schon erkennen, dass er sich zu einem kleinen Herzensbrecher entwickeln wird.«
»Wirklich?«
Cassie schwieg und betrachtete das Foto.
»Und wie waren Jean und Eileen so?«
»Jean war eine Besserwisserin, die den Lehrer bei jeder Gelegenheit korrigiert hat. Eileen war eine Streberin, die Beste in Geschichte, Geografie und Mathe, sie hielt sich an die Regeln. Ich war auch ziemlich gut in Mathe, habe gern Probleme gelöst, aber mich hat niemand darin bestärkt, das galt damals nicht als Mädchenfach.«
»Das ist schade«, sagte Una. Das war genau die Art von Thema, das sie in ihrem Chatroom Women in Statistics posten könnte.
Cassie blätterte weiter und hielt schließlich lächelnd bei einem Foto inne.
»Hier war mein Sohn Kevin aus Auckland zu Besuch, und wir sind alle zum Abendessen ausgegangen. Das sind Jean und John, Ken mit Diane, seiner ersten Frau.«
Una wusste nicht, ob Mum auf ihrer Hochzeit ein Foto von Ken mit seiner ersten Frau sehen wollte, aber sie musterte Diane genau. Sie sah genauso aus wie Anton, nur mit Dauerwelle und ohne Bart.
»Lebt dein Sohn noch in Auckland?« Er könnte eine nützliche Informationsquelle sein, wenn er von hier stammte.
»Ja.« Cassie seufzte. »Du hast Glück, dass du nur eine Zugfahrt von deiner Mutter entfernt wohnst. Ich würde Kevin gerne besuchen, aber ich habe kaum Ersparnisse, und er ist schon eine Weile arbeitslos. Sich über Videochat zu unterhalten ist nicht dasselbe.«
Una fühlte sich nicht wohl dabei, von Cassies Familienproblemen zu hören. Sie musste das Gespräch wieder auf das Hier und Jetzt zurücklenken.
»Hast du auch Bilder, auf denen meine Mum zu sehen ist?«, fragte sie.
Cassie blätterte weiter. »Hier ist ein ziemlich aktuelles, das ich bei Dino’s aufgenommen habe.«
Ken rückte sich mal wieder in der Bildmitte ins Scheinwerferlicht, während ihre Mum strahlend neben ihm saß.
»Ja, ich nehme sie alle, wenn das okay ist.« Una zückte ihr Handy, um Fotos der Aufnahmen zu machen.
»Also«, sagte Cassie und durchbohrte sie mit einem allwissenden Blick. »Willst du nicht sonst noch was ansprechen? Ich habe vorhergesehen, dass du mir Fragen stellen willst.«
Una erwog, ihr zu sagen, dass man Vorhersagen mithilfe von Datenanalysen traf. Was Cassie tat, nannte man »eine Vermutung anstellen«.
»Ich bin neugierig wegen dieser seltsamen Todesfälle – erst Harry und dann Eileen«, sagte sie stattdessen in kontrolliertem Tonfall. »Ich möchte mich nur vergewissern, dass Mum in Sicherheit ist. Die Gegend hier scheint ein bisschen gefährlich zu sein.«
»Ich hab alle gewarnt, dass es Ärger geben würde, aber keiner hat auf mich gehört.« Cassie zuckte zaghaft mit den Schultern. »Vielleicht begleicht gerade eine höhere Macht eine Rechnung.«
Womöglich hatte Tim recht damit, dass ein zusätzlicher Risikofaktor Unas fehlerhafte Statistik korrigieren würde. Doch das würde nicht die Zahlenaufkleber erklären, die schwarz-goldenen Ziffern.
»Du hast von Eileen gesprochen, aber was ist mit Harry?«
»So gut kannte ich ihn nicht, Gott sei Dank. Typischer Löwe. Er musste immer das Sagen haben und sich durchsetzen. Letztes Jahr war er sehr unhöflich zu mir, aber«, Cassie atmete tief durch, »darüber denke ich nicht mehr nach. Früher einmal war er Mitglied im Buchclub, doch dann hat er zu dessen Auflösung beigetragen.«
»Jeans Buchclub?«
»Ja. Ich meine, beim Thema Bücher könnte sie in einem leeren Raum einen Streit anzetteln. So war sie schon in der Schule. Sie schikanierte die Jungs, die Comics lasen, und riet ihnen, lieber zu richtigen Büchern zu greifen.«
»Was ist denn im Buchclub passiert?«
»Ich habe keine Ahnung, ich war an dem Abend nicht da. Es braucht nicht viel, damit Jean sich aufregt.«
Das passte zu Unas Beobachtung, dass Jean eine Grammatikfanatikerin war. Sie stellte ihre Tasse ab.
»In Harrys Leben ist also nichts Merkwürdiges passiert, bevor er starb?«
»Statt auf meinen Rat zu hören, war er zu sehr damit beschäftigt, über sein schickes neues Fenster zu reden, das er sich hatte einbauen lassen.«
Una hatte nur wenig Zeit für Cassie und ihre Prophezeiungen, trotzdem erkannte sie, dass sie beide zumindest eines gemeinsam hatten: Sie führten einen Kampf gegen Leute, die ihre Vorhersagen anzweifelten.
Es war an der Zeit, die Taktik zu wechseln.
»Beim Bingoabend hast du gesagt, du hättest eine Gefahr vorausgesehen«, sagte Una. »Als Vorhersage-Kollegin würde ich gerne mehr darüber wissen.«
»Danke, meine Liebe, das weiß ich zu schätzen«, antwortete Cassie.
»Weißt du denn, wen es als Nächstes trifft?«, fragte Una. »Wer einen Unfall haben wird?«
»Ich kann nur wiederholen, was ich schon gesagt habe.« Cassie knickte das Papier der Kekspackung um und versiegelte so das Gebäck.
Una verlor allmählich die Geduld. »Eine gekrümmte, monströse Klaue und Gartenmöbel.«
»Das hast du dir gut gemerkt! Schade, dass andere Leute nicht so gewissenhaft sind.«
»Vielleicht kann ich ja etwas tun, um zu verhindern, dass das Ereignis tatsächlich eintritt.«
Cassie klappte das Album zu und lehnte sich im Sessel zurück. »Das glaube ich nicht. Aber du kannst dich mir ruhig anvertrauen. Ich erkenne in den Vorfällen ein Muster, und ich glaube, du auch.«
»Ich möchte etwas dagegen tun, befürchte aber, dass mir ebenfalls etwas zustoßen könnte.«
»Ich helfe dir, wenn ich kann. Ich könnte versuchen, dir aus der Hand zu lesen.«
»Ich dachte, das hättest du aufgegeben?«
»Es war schwierig«, sagte Cassie. »Am Pier gab es keine Arbeit mehr, also habe ich versucht, die neueste Technologie zu nutzen. Ich las Leuten online aus der Hand und bat sie, die Handflächen auf ihre iPad-Bildschirme zu legen und so weiter. Aber das hat nicht funktioniert, und wie soll man überhaupt über ein iPad mit der Seele eines Menschen in Kontakt treten? Aber seit Kurzem habe ich wieder Visionen, die sich bewahrheiten. Mit der Zeit werden die Leute meine Worte schon noch ernst nehmen.«
Una glaubte nicht an die Gabe, von der Cassie sprach, doch sie wusste, wie sich Selbstzweifel anfühlten, und wollte ihr etwas Mut machen.
»Vielleicht versuchen wir’s mal«, sagte sie deshalb.
Cassie ergriff Unas rechte Hand und beugte sich so dicht heran, dass Una ihren Atem auf der Handfläche spürte.
»Ich kann Folgendes sehen. Du bist in Eastbourne nicht sicher«, sagte sie bestimmt, runzelte dann jedoch die Stirn. »Aber Moment, ich sehe noch was. Geh nicht auf den Friedhof. Dort gibt es dunkle Mächte.«
Ein sehr vernünftiger Rat, den Una auf jeden Fall befolgen würde, wenn auch aus eigenen Gründen. Sie beschloss, einen Schritt weiterzugehen. Ihre Nachforschungen könnten sie zur Zielscheibe machen, und Cassie war in einer ähnlichen Lage.
»Was ist mit dir?«, fragte sie. »Befürchtest du nicht, dich in Gefahr zu bringen, wenn du solch düstere Vorhersagen triffst?«
Cassie richtete sich wieder auf und sah Una an. »Ich komme schon zurecht, aber danke der Nachfrage. Das Einzige, wovor ich mich in Acht nehmen muss, ist eine Vision, die ich oft habe. Darin fällt die ganze Stadt auf mich. Aber das ergibt doch keinen Sinn, oder? Wie sollte das möglich sein?«
Sie schien die Fragen eher sich selbst als Una zu stellen, was auch gut war, denn die Vision klang völlig unsinnig.
Cassie starrte in das künstliche Holzfeuer, das halbherzig vor ihnen flackerte. Für Una war es an der Zeit aufzubrechen.
»Danke für die Kekse und die Fotos, Cassie. Ich mach mich jetzt wieder auf den Weg.«
Cassie stützte sich auf die Armlehnen des Sessels und richtete sich auf.
»Nein, setz dich wieder«, sagte Una. »Ich finde selbst hinaus.«
Sie nahm die Tassen, ging durch den Glasperlenvorhang in die Küche und spülte sie aus. In der Ecke stapelten sich einige »Kitty Treats«-Packungen, eine unwillkommene Erinnerung an Pedro. Als sie ins Wohnzimmer zurückkehrte, hatte Cassie sich wieder hingesetzt. Gerade griff sie hinter das Samtkissen ihres Sessels und holte ihr Strickzeug hervor.
»Ich arbeite an dem Hochzeitsgeschenk, aber es ist ein Geheimnis.« Sie legte den Finger an ihre Lippen.
Also hatte Unas Mum doch recht gehabt mit Cassies selbst gestricktem Hochzeitspräsent.
»Arbeitest du nach einem Muster?«, fragte Una.
»Natürlich. Alles hat ein Muster.« Cassie konzentrierte sich auf die Nadeln, die sich in ihren Fingern wie ein kleiner Webstuhl bewegten. »Aber nicht jeder kann es sehen.«