Grafit-Club
D er nächste Morgen war sonnig und der Himmel wolkenlos. Perfektes Wetter, um Vögel zu beobachten, mutmaßte Una. Sie zog ihre robustesten Turnschuhe an und nahm den Bus nach Beachy Head, wo sie pünktlich um 10:00 Uhr ankam.
Raj stand bereits am Pfad zu den Klippen. Er trug eine Funktionsjacke, deren Farbe ihr beste Chancen einräumte, an einer Funktionsjacken-Verkaufsaktion von Mountain Equipment teilzunehmen, irgendwo in einem Einkaufszentrum außerhalb der Stadt. Seine Füße steckten in Wanderstiefeln, die eher für eine Wanderung zum Südpol geeignet waren, leicht übertrieben für einen Vogelbeobachter in Sussex.
»Freut mich, dich kennenzulernen«, sagte er. »Ich habe schon viel von dir gehört. Sollen wir los?«
»Warten wir nicht auf John?« Una wollte Raj fragen, warum John gestern in der Gasse gewesen war, in der sich der Hochzeitsladen befand.
»John hat mir vorhin eine SMS geschickt. Ihm ist wohl in letzter Minute etwas dazwischengekommen. Das ist ziemlich untypisch für ihn. Normalerweise ist er immer pünktlich. Macht nichts, ich bin sicher, du wirst ihn gut vertreten.«
Sie machten sich auf den kurzen Aufstieg nach oben. Das Besucherzentrum war das einzige Gebäude weit und breit, und während sie den Hang erklommen, sahen sie nur Gras, den Himmel und dann das Meer. Die meisten Touristen und Wanderer hatten Kopfhörer auf, und es war fast komplett still. Ab und zu riss ein Flugzeug den Himmel auf, oder der Wind trug die Stimmen der Menschen am Strand zu ihnen herauf.
»Gibt es hier nur Möwen zu sehen?«, fragte Una.
Raj schnaufte irritiert auf. »Nein! Das würde der Artenvielfalt nicht gerecht, die Eastbourne dem Vogelliebhaber bietet.«
Sie würde keine weiteren Fragen zu Vögeln stellen, damit Raj nicht erkannte, dass sie von dem Thema nichts verstand. Im Zweifelsfall könnte sie immer noch ihren zuverlässigsten Freund konsultieren: Google.
»Also, Raj, wie lange kennst du schon die ganzen Leute, die ich beim Bingospielen getroffen habe? Hast du sie über Ken kennengelernt?«
»Nein, gar nicht. Ich bin regelmäßig zu dem Buchclub gegangen, den Jean ins Leben gerufen hat. Das war nach meiner Scheidung für mich der ideale Ort, um Leute zu treffen und aus dem Haus zu kommen. Und obwohl der Buchclub sich auf unschöne Weise aufgelöst hat, sind wir alle in Kontakt geblieben. Mit einigen Leuten habe ich nicht viel gemein, aber sie meinen es gut und haben mir sogar gelegentlich geholfen. Ken hat mir gute Regale für meine Dachtraufe gebaut. Für meine Erstausgaben.«
»Ken hat deine Regale aufgebaut? Ist er knapp bei Kasse?«
»Meine Güte, nein! Er hat mir Kumpelpreise berechnet, wie er es ausdrückte. Er ist definitiv, sagen wir mal, solvent.«
Una hätte Raj gern weiter zu diesem Thema ausgehorcht, wusste aber nicht genau, wie sie das anstellen sollte.
»Es ist schade, dass es den Buchclub nicht mehr gibt«, sagte sie stattdessen. »Sind euch die Ideen ausgegangen, welche Bücher ihr besprechen solltet, oder so?«
»Es gab eine Meinungsverschiedenheit über die Vision und Zukunft des Clubs, und danach gab es kein Zurück mehr.«
»Aber was war der Grund für …«
»Kiebitz auf zwei Uhr.«
Raj deutete auf einen braunen Vogel, der an einem Busch vorbeihüpfte.
»Ein Weibchen mit typisch tristem Gefieder«, sagte er.
Una glaubte kaum, dass das Kiebitzweibchen Raj als verlockenden Partner betrachtete, angesichts seiner ebenso eintönigen Aufmachung.
Raj schwenkte sein Fernglas und schwankte leicht, während er den Vogel beobachtete. Auch Una richtete ihr Fernglas bestmöglich auf das herumtänzelnde Tier und versuchte, es im Blick zu behalten. Es schien ohne jeden Grund eine Menge Energie zu verschwenden.
»Gut, dass du noch mit den anderen Kontakt hast«, sagte sie.
»Ja, wir versuchen uns gegenseitig auf Trab zu halten.«
»Ich habe gehört, dass es nach Harrys und Eileens Tod schwierige Zeiten gab.«
Raj senkte sein Fernglas und hielt es ehrfürchtig auf Brusthöhe. »Beides ehemalige Patienten von mir. Wenn man den Medikamentencocktail bedenkt, den Eileen täglich demonstrativ einnahm, und die Organe, die Harry sich hat implantieren oder operieren lassen, ist es schon überraschend, dass die beiden keines natürlichen Todes gestorben sind.«
»Überraschend?«
»Ja. Ich meine, es sind nicht gerade alltägliche Todesarten gewesen, aber da sieht man mal wieder: Man weiß nie, wann das Ende kommt.«
»Man weiß es nicht, kann es aber ziemlich genau vorhersagen«, sagte Una.
»Aber man selbst weiß es nie. Deshalb sollte man seine Tage in vollen Zügen genießen, Risiken eingehen und die Freuden des Lebens auskosten.« Er zog einen Mars-Riegel aus einer der vielen Jackentaschen und ein Schweizer Taschenmesser aus einer anderen. »Möchtest du ein Stück von diesem Mars-Riegel? Der hält dich auf Trab.«
Sie nahm ein Stück, und sie kauten schweigend. Eine andere Vogelbeobachterin winkte Raj zu, eine Dame in kirschrotem Mantel, mit einem dicken Helm aus goldenem Haar. Sie lächelte und winkte ihm mit einem Flachmann mit Schottenmuster zu.
»Anthea«, sagte er. »Sie ist ganz nett und emsig, aber sie erschreckt die Stare mit ihrem grellen Gefieder und ist immer auf ein Gespräch aus. Unser Hobby erlaubt keine Geselligkeit. Lass uns weiter hochgehen, bevor sie herkommt und uns ihren süßen Supermarkttee aufzwingt.«
Sie gingen weiter, wobei Raj sie auf diverse Vögel aufmerksam machte – auf ein paar Möwen, einen Eissturmvogel und zwei Krähen. Sogar als er eine weitere Möwe durch die Luft flattern sah, hob er das Fernglas und beobachtete sie.
Als sie sich dem Rand der Klippe näherten, hielt er inne und drehte sich abrupt zu Una um. »Kommen wir gleich zur Sache, Una. Du hast doch eine Frage auf dem Herzen.«
»Ach ja? Ja, es geht um die Hochzeit. Ich sammle Bilder für ein Foto-Video, das ich mit Anton zusammenstelle. Wir wollen es während des Essens vorführen.«
»Eine Fotoshow? Ist das nicht ein bisschen zu sehr Neunziger?«
»Vielleicht schon«, räumte Una ein, »aber könntest du trotzdem ein paar Gruppenfotos beisteuern? Oder irgendwelche Geschichten, die du gerne zeigen würdest?«
»Ehrlich gesagt bin ich kein großer Fan von Hochzeiten. Ich lasse mich natürlich blicken, aber für mich ist diese Institution nicht mehr sonderlich positiv belegt. Ich schaue mal, ob ich welche finde. Wären JPG s okay?«
»Danke, ja, jedes Format ist gut. Ich bin selbst kein Fan. Von Hochzeiten, meine ich. Ich muss mir auch noch ein angemessenes Geschenk einfallen lassen. Keine Ahnung, was ich ihnen kaufen soll. Die beiden haben ja schon die eigenen Wohnungen voller Zeugs.«
Raj setzte das Fernglas ab und senkte den Kopf. »Findest du nicht, dass sie ein bisschen zu alt sind, um zu heiraten? Widert dich das nicht auch ein bisschen an?«
Sie standen nun am Klippenrand. Über ihnen schwebten Möwen, die Geier des Meeres, und kreischten sich gegenseitig an. Um keinen Preis würde Una heute ihre Schutzbrille abnehmen.
»Ich meine«, fuhr er fort, »die Leute halten sich heutzutage mit siebzig immer noch für jung und tun und lassen, was sie wollen. Dafür müssen sie sich nur jeden Tag Unmengen an Pillen und Medikamenten in den Schlund werfen. Noch schlimmer ist es, wenn jemand wie Tommo auf Homöopathie vertraut. Das alles lassen sie sich von den Jüngeren finanzieren. Wenn du mich fragst, sollten wir in die Jugend investieren, nicht in die Alten.«
»Was würdest du denn mit den Alten machen?«, fragte Una. »Außerdem könnten sie trotzdem noch was bewirken.«
»Ja, vielleicht einige von ihnen, aber nichts richtig Produktives, das einen Mehrwert für die Gesellschaft darstellt. Sie verfallen allmählich, körperlich und geistig.«
Una starrte ihn an. »Wow, du bist echt altersfeindlich.«
»Ich bin Realist«, entgegnete er. »Ist es richtig, dass wir eine alternde Bevölkerungsgruppe unterstützen, die teure medizinische Bedürfnisse hat, und sich dadurch die Lebensqualität für alle verschlechtert? Das Bevölkerungsdiagramm sollte eine Pyramide sein, die nach oben spitz zuläuft, nicht nach unten.«
Diese Aussage kam Una vage bekannt vor.
»Vielleicht findet die Wissenschaft einen Weg, die Menschen länger jung und gesund zu halten. Der Tod wird abgeschafft.«
Bei diesen Worten empfand sie eine schreckliche Leere im Bauch, eine Emotion, die sie selten zuvor erlebt hatte. Eine Art von Schwindel, wie man ihn wohl verspürte, wenn man von der Klippe stürzte, der sie jetzt so nahe waren. Was war das für ein Gefühl? Eines wusste sie genau: Sie wollte, dass die Wissenschaft sie für immer am Leben hielt. Sie wollte nicht sterben.
»Die Wissenschaft sollte sich darauf konzentrieren, junge Menschen gesünder zu machen und den Planeten zu retten«, entgegnete Raj, »nicht darauf, eine keuchende alte Schachtel im elektrischen Rollstuhl am Leben zu erhalten, damit sie stumpfsinnig fernsehen und auf ein Fertiggericht sabbern kann. Es sollte um Lebensqualität gehen, nicht um Quantität.«
»Und wer würde den richtigen Qualitätsstandard festlegen?«
»Der gesunde Menschenverstand.«
»Und was wäre, wenn jemand zu dem Schluss käme, dein Leben sei nicht mehr lebenswert?«
»Man sollte einen würdevollen Abgang machen, statt sich einfach helfen zu lassen, um weiterleben zu können. So würde ich mit den ganzen alten Menschen verfahren.«
Una erkannte in Rajs Sichtweise ein potenzielles Problem.
»Aber du bist auch nicht mehr ganz so jung«, stellte sie fest. »Findest du denn, du solltest einen würdevollen Abgang machen?«
Sie blickte zum Klippenrand. Er war ganz nah, nur einen Schubs entfernt.
Raj wandte sich ihr zu. Sein puterrotes Gesicht passte nicht zu seiner Funktionsjacke. »Ich? Ich bin erst achtundsechzigeinhalb! Mir bleiben noch mindestens zwanzig gute Jahre. Mein BMI , mein Blutdruck, mein Cholesterinspiegel, mein Blutzuckerspiegel und meine Darmbakterien weisen deutlich bessere Werte auf als die anderer Menschen meines Alters. Ich rede von der Art von Leuten, die bei Waitrose die Gänge mit den Konserven verstopfen.«
Unvermittelt fiel es ihr wieder ein.
»Bist du derjenige, der diese Kommentare über alte Menschen auf der Tread Softly -Website hinterlässt?«, fragte sie und wünschte sich im selben Moment, die Worte nie ausgesprochen zu haben.
»Was?« Zielstrebig schritt Raj auf sie zu.
Aus dem Augenwinkel nahm Una eine weit entfernte Gestalt wahr, die mit einem Fernglas zu ihnen herüberschaute, nur eine Silhouette hinter einem Ginsterstrauch. Zweifellos ein Vogelbeobachter. Wenn sie ihn nur auf ihre missliche Lage aufmerksam machen könnte! Sie befahl ihren Beinen, sich zu bewegen, doch die ignorierten sie. Wie angewurzelt blieb sie stehen.
Raj hielt etwas in der ausgestreckten Hand. Erleichtert erkannte sie, dass es nur ein Bleistift und nicht das Schweizer Armeemesser war, trotzdem hatte die Art, wie er ihn schwang, etwas Unheimliches. Der Bleistift war gut gespitzt, und Raj wirkte zornig, als er sich ihr so weit annäherte, dass er etwas auf ihre Kleidung hätte zeichnen können. Die Bleistiftspitze schwebte über Unas Anorak, dicht über ihrem Herzen, und dank seiner medizinischen Ausbildung wusste er genau, wo sich ihre wichtigsten Organe befanden.
Die Zeit schien langsamer abzulaufen, was irrational war – jede Sekunde war gleich lang. Sie schlurfte zurück und spürte, wie sie sich der Klippe näherte. Das Herz schlug ihr bis zum Hals. Sie war der Kante so nahe, dass ein plötzliches Stolpern in einer Katastrophe enden würde. Unter ihr schlugen die Wellen weiß schäumend an die Felsen. Sie stand im Begriff, Taubenfutter zu werden.
Dann tippte ihr jemand auf die Schulter, und ihr wurde schwarz vor Augen.