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Tims Welt der Gefälligkeiten

E s war ein typischer Montagmorgen, an dem man Daten aus der einen Tabellenkalkulation ausschnitt und in die andere einkopierte. Das Sahnehäubchen des Büroalltags. Doch schon bald tippten Eastbournes lange Finger Una auf die Schulter. Sie aktualisierte ihren Posteingang und empfing eine E-Mail ihrer Mutter, in der sie bestätigte, dass der Junggesellenabschied auf Samstag in einer Woche verschoben worden sei. Zudem nannte sie ihr die Details zu Tommos Beisetzung, die einen Tag zuvor stattfinden würde.

Pragmatisch betrachtet könnte eine Beerdigung viele nützliche Daten liefern. Vermutlich wären alle relevanten Verdächtigen auf überschaubarem Raum vereint, in einem hochemotionalen Zustand, den Una nutzen könnte, um zusätzliche Informationen aus ihnen herauszupressen. Und da es nur noch knapp vier Wochen bis zur Hochzeit waren und ihre Mutter Unas Sorge nicht ernst nahm, musste sie jede Gelegenheit nutzen, um das Muster aufzudecken, das alle Fälle verband. Gleichwohl war es noch immer eine Beerdigung. Eine unwillkommene Erinnerung daran, dass man sich nicht um eine Todesfallabsicherung gekümmert hatte. Und die Trauermesse fand in derselben Kapelle statt, in der Una schon vor zwei Jahren gewesen war.

Sie schickte Tim eine Nachricht, dass er sich mit ihr in der Teeküche treffen sollte. In Großraumbüros waren Privatgespräche zwischen Kollegen an deren Schreibtischen verpönt, selbst wenn es um Mordprävention ging. Als sie die Küche erreichte, war Tim schon da und prüfte seine Tupperware-Lunchboxen im Kühlschrank, die er einzeln mit seinem Namen beschriftet hatte.

»Wir brauchen einen Plan, Tim«, sagte sie. »Der nächste Todesfall steht am 1. März an. Den müssen wir sozusagen torpedieren.«

»Nach dem Vorfall im Baumarkt habe ich ein paar Zweifel«, erwiderte Tim.

»Aber es ist alles genau so passiert, wie ich es vorhergesagt habe, inklusive des Zeitpunkts.«

Er füllte sich einen Becher mit Wasser und leerte ihn in einem Zug.

»Ich weiß«, räumte er ein. »Aber dieses Mal gab es keine Zahlen, oder? Das war dein größter Hinweis darauf, dass die Todesfälle zusammenhängen und geplant sind. Vielleicht weisen die Fälle aber nur scheinbar eine Verbindung zueinander auf. Jemand hat den falschen Mülleimer zurückgestellt. Im Supermarkt hat jemand eine Zahl aufgeklebt, um festzuhalten, wie viele Kartons bestellt werden müssen. Die Todesursachen an sich sind bereits so untypisch, dass du vielleicht subjektiv nach nicht vorhandenen Mustern suchst.«

»Auf keinen Fall. Jemand hat diese Nummern absichtlich platziert und die Todesfälle arrangiert. Ich muss herausfinden, wer das war und warum er das getan hat.«

»Una, Una, Una, das ist gefährliches Terrain. Du begibst dich auf Glatteis, wenn du über ein Motiv spekulierst. Wir verirren uns nicht im Treibsand der menschlichen Psyche. Wir können anderen Menschen nicht in die Köpfe schauen. Ich meine, wir können zwar MRT -Scans machen, aber damit nicht diese Art von Absicht erkennen. Wir müssen professionell bleiben und die Daten modellieren, um die Wahrheit herauszufinden. Selbst wenn wir es mit einem Mörder zu tun haben, besteht die Lösung nicht darin, nach Gründen dafür zu suchen, warum jemand all diese Oldies umbringen sollte. Wir brauchen einfach mehr Daten, dann kommt die Wahrheit von allein ans Licht.«

Er hatte recht. Die Todesfälle mit persönlichen Motiven zu erklären war Zeitverschwendung.

»Okay, ich stimme dir zu«, sagte Una. »Wir brauchen mehr Informationen. Warum kommst du nicht mit zu Tommos Beerdigung? Ich könnte etwas moralische Unterstützung brauchen – es könnte gefährlich werden –, und du bist die einzige Person, der ich meine Theorie anvertraut habe.«

»Beerdigung? Nein, ich glaube nicht. Wann ist die?«

»Am Freitag in einer Woche. Du müsstest dir also einen halben Tag freinehmen.«

»Ich kann meine Zeit nicht damit vergeuden, wegen einer aussichtslosen Ermittlung auf eine Beerdigung zu gehen. Außerdem sind Beerdigungen deprimierend. Übrigens, ich habe auf der Finanzierungsseite für meinen Ironman-Wettbewerb noch keine Spende von dir gesehen.«

»Ich habe schon viele deiner Projekte gesponsert.«

Tim hatte inzwischen seine Lunchboxen gestapelt. »Darf ich dich daran erinnern, dass ich der Londoner Vertreter im Philanthropie-Team bin? Bei den Monatstreffen geht es zu wie in einer Bärengrube.«

»Okay, okay, du bekommst ja deine Spende. Aber vielleicht kannst du mich ja auch unterstützen – wir sind schließlich ein Team, oder?«

»Hör mal, ich befürchte doch nur, dass die Daten einen Zufallstreffer enthalten, in den du zu viel hineininterpretierst. Diese Theorie mit den Zahlen und Ken ist vielleicht nur Wunschdenken. Im Baumarkt hast du keine Nummern gefunden, und Ken hat weit vom Täter entfernt nach Luft gejapst.«

»Das ist wahr, aber …«

»Der Transparenz halber sollte ich dir sagen, dass ich Ajay heute Morgen meine neue Prognose über die Sterblichkeitsentwicklung an der Küste vorgelegt habe. Wie erwartet brauchte man nur einen etwas weniger konservativen Ansatz für einige Schätzungen.«

Una blinzelte ihre Enttäuschung fort. Bei all den dramatischen Verhören und Observationen in der letzten Woche hatte sie den Wettstreit um die Beförderung komplett aus den Augen verloren. Und jetzt war Tim ihr einen Schritt voraus.

»Aber du siehst doch sicher, dass da etwas viel Schlimmeres im Gange ist?«, fragte sie.

»Wo sind die Beweise? Meine Prognose passt zu den Zahlen.«

Una sah sich gezwungen, sich am Automaten ein riesiges KitKat zu ziehen. Sie sah zu, wie der klobige Schokoriegel in den Auffangbehälter fiel.

»Also gut«, sagte sie, »ich verstehe, dass du dir keinen Tag für die Beerdigung eines Fremden freinehmen willst. Aber warum kommst du nicht zu Kens Junggesellenabschied am Samstag, einen Tag später? Er hat dich eingeladen, um sich dafür zu bedanken, dass du dich um ihn gekümmert hast. Außerdem bist du so gut darin, analytische Informationen zu sammeln, vielleicht entdeckst du etwas, das ich übersehen habe.«

Das war furchtbar – sie war so verzweifelt auf Tims Hilfe angewiesen, dass sie ihm schon Komplimente machte. Doch es war einfach so, dass sie sich einer so potenziell gefährlichen Situation nicht allein stellen konnte – nicht nachdem sie gesehen hatte, wie Tommo erledigt worden war. Sie wollte wissen, wie die Zahlen zusammenhingen, aber dabei nicht selbst zum Bestandteil einer Statistik werden.

»Ich würde ja gerne helfen«, sagte Tim, »aber dabei springt für mich nichts raus, schon gar nicht jetzt, wo ich meinen Bericht abgegeben habe.«

»Weißt du, bei der Teamarbeit geht es nicht darum, aus allem Profit zu schlagen.«

»Doch, eigentlich schon«, widersprach Tim. »Es geht um eine Art Gefälligkeitskultur. Ich halte in einer Tabelle fest, wie viele Kaffees ich spendiert habe, bei welchen Gesprächen ich geholfen und über welche Präsentationen ich noch mal drübergeschaut habe. Ich habe viele Gefallen offen und komme jeden Tag in dem Bewusstsein her, dass ich sie jederzeit einfordern kann.«

Una wog ihre Möglichkeiten ab. Statt mit Tim zu verhandeln, könnte sie Anton in ihre Theorie einweihen, doch er war immer noch sauer auf sie, weil sie Ken im DIY City erschreckt hatte.

»Okay. Lass uns verhandeln«, schlug sie vor.

»Was hast du denn zu bieten?«, fragte Tim.

Sie musste etwas finden, was ihm gefiel … also etwas, mit dem er seine Ziele bei der Arbeit leichter erreichen könnte.

»Ich frage im fünften Stock beim Tierversicherungsteam nach, ob es dein Ironman-Projekt fördern möchte«, sagte sie.

»Interessant.«

»Ich weiß, dass du wegen Gareth nicht zu ihnen gehen willst, aber ich könnte für dich dort vorbeischauen.«

»Es geht nicht um Gareth, nur damit du’s weißt«, stellte Tim klar. »Die Tierleute sind echt eine eingeschworene Truppe. Die sammeln immer Spenden im ganzen Team.«

»Das würde deine Summe erhöhen.«

Sie sah ihm an, dass er bereits halb umgestimmt war.

»Wenn ich mich anstrenge, schaffe ich es vielleicht, in diesem Quartal allein mehr zu spenden als ihr ganzes Team zusammen«, meinte er unschlüssig.

»Also, was sagst du?«

»Abgemacht. Außerdem gefällt mir die Vorstellung, dass Ken sich bei mir bedankt, weil ich sein Leben gerettet habe.«

Una brach einen Riegel von ihrem KitKat ab. Insgeheim ärgerte es sie, dass Tim seinen Einsatz für Kens Wohlergehen überbewertete, doch das würde sie für sich behalten.

»Großartig«, sagte sie stattdessen. »Wir teilen die Teilnehmer des Junggesellenabschieds unter uns auf, und ich erwarte, dass du sie gründlich aushorchst. Wenn du gute Arbeit leistest, gehe ich für dich in den fünften Stock.«

Una kehrte mit dem KitKat an ihren Schreibtisch zurück. In der Zwischenzeit waren zwei Meetinganfragen und zehn E-Mails eingetroffen.

Ajay winkte sie zu sich ins Büro.

»Hi, Una!«, sagte er. »Wie war die Zeit mit deiner Familie und deinen Freunden? Geht es allen gut?«

»Ja, danke.« So gut es eben ging, während ein auf ganze Zahlen fixierter Psychopath sie nacheinander umbrachte.

»Schön, schön. Und zu deiner Information, wir haben auf unserer Urlaubs-Scorecard -Tafel jetzt 100 Prozent erreicht, dank deiner Auszeit letzte Woche.«

»Freut mich zu hören. Ich werde mir allerdings auch Freitag den 16. freinehmen, tut mir leid. Ein Freund der Familie wird beerdigt.«

»Natürlich, mein Beileid.«

»Danke.«

»Kommen wir zu den langweiligen Alltagsdingen«, fuhr Ajay fort. »Tim hat mir den Entwurf eines Modells geschickt. Darin schlägt er eine Lösung für den Umgang mit der Art von Ausreißerwerten vor, die bei der Modellierung für Küstenorte aufgetreten sind. Er sagte, er habe mit dir darüber gesprochen und dich über seine Fortschritte auf dem Laufenden gehalten, was alles sehr gut klingt. Es ist schön zu sehen, dass ihr als Team zusammenarbeitet.«

»Ja, und ich sehe mir die Daten in meiner Freizeit näher an, als Lernerfahrung.«

Sie wusste, dass Ajay die Formulierung »Lernerfahrung« besonders mochte. Tims Arbeit war völliger Unsinn – hinter den Statistiken waren eindeutig finstere Mächte am Werk. Es war enttäuschend, dass im Baumarkt keine Zahlen aufgetaucht waren.

»Tolles Zeug«, sagte Ajay. »Ich meine, es ist schade, dass deine Recherchen etwas zu kurz gekommen sind, aber es ist, wie es ist. Ich werde bei unserer Umstrukturierung alles berücksichtigen.«

»Wann ist es so weit?«

»Irgendwann vor Ende des Monats. Ich gebe dir dann Bescheid.« Er bedeutete ihr zu gehen. »Wie auch immer, schön, dass du wieder da bist. Und würdest du die Tür hinter dir schließen?«

Wenn die Teamumbildung erst zum Monatsende stattfand, blieben ihr noch ein paar Wochen Zeit, um einen Alternativvorschlag für die Küstenstatistik zu unterbreiten und ihren Ruf wiederherzustellen. Wenn sie beweisen könnte, dass ein Mörder ihre Daten verfälscht hatte, würde ihr Modell nicht verworfen werden. Niemand im Team würde die Versicherungsfaktoren wegen eines Serienmörders ändern.

Vorerst jedoch würde sie sich darauf konzentrieren, das nächste Opfer zu identifizieren, damit es auf der Hochzeit zu keinem Mord käme. Und dann war da noch John, den sie dringend unter die Lupe nehmen musste. Er war im DIY City gewesen, als Tommo gestorben war, und sie hatte ihn nicht im Auge behalten.

Sie lungerte am Fahrstuhleingang herum und rief ihre Mum an, um ihr zu sagen, dass sie zu Tommos Beerdigung kommen würde. Das Telefon klingelte zehnmal, und Una malte sich aus, wie ihre Mum die Wohnung nach ihrem neuen Handy absuchte und es neben der Obstschale mit den Ersatzschlüsseln fand.

»Hallo, Mum.«

»Geht es dir gut?«

»Ich hab deine E-Mail erhalten. Ich komme zur Beerdigung.«

»Ken wird das zu schätzen wissen«, sagte sie. »Und ich tue das auch. Ich weiß, dass du so etwas nicht magst. Beerdigungen. Und dann auch noch in Dads Kirche …«

Una nahm das Smartphone vom rechten Ohr und hob es an das linke.

»Ken hat übrigens die Farbe ausprobiert, die du ihm gekauft hast«, sagte ihre Mum, als Una schwieg. »Sie gefällt ihm sehr.«

»Das ist gut.«

»Und er will wissen, ob du deinen Arbeitskollegen zum Junggesellenabschied mitbringst, weil er planen muss.«

»Ja, er wird kommen.« Sie hatte noch mehr als eine Woche Zeit, um sich einen Fragenkatalog für Tim auszudenken, den er abarbeiten sollte.

»Und du hilfst mir mit der Sitzordnung, denk dran«, sagte ihre Mum.

»Das hab ich nicht vergessen. Ich komme am Donnerstagabend vorbei, ich bin sicher, das geht schnell.«

»Prima. Ich werde Ken bitten, dazuzustoßen. Das lenkt ihn von der Beerdigung ab – die macht ihm ganz schön zu schaffen.«

Auch Unas Gedanken kreisten oft um die Bestattung. Hätte sie verhindern können, dass es so weit kam?