Neun Tische
A m Donnerstagabend vor Tommos Beerdigung stellte sich heraus, dass die Ausarbeitung des optimalen Sitzplans für die Hochzeit eine Aufgabe war, die selbst Alan Turing aus dem Konzept gebracht hätte. Una war müde gewesen, nachdem sie mit dem Zug zu ihrer Mum gefahren war und ihren Rucksack im kleinen Schlafzimmer abgestellt hatte, doch die Herausforderung, die Gäste zu platzieren, hatte sie beflügelt. Man musste so viele Regeln beachten!
Im vorderen Teil des Saals würde ein Tisch für die sechsköpfige Hochzeitsgesellschaft stehen: Ken, ihre Mum, Kens Tochter Chrissie, der frischgebackene Trauzeuge Anton, Una und ein Ehrenplatz für Tommo. Die Gäste sollten an neun runden Tischen mit jeweils sechs Plätzen sitzen, und der Raum bot nur eingeschränkte Möglichkeiten, sie anzuordnen. So weit, so gut. Die Tische passten in den Saal und ließen gerade genug Raum, dass die Leute sich dazwischen bewegen könnten. Doch ab da begannen schon die Einschränkungen.
Die Tische, die dem Brauttisch am nächsten waren, galten als die begehrenswertesten, spiegelten sie doch die enge Beziehung der Gäste zum Brautpaar wider. Abgesehen von der tatsächlichen Bedeutung jedes Anwesenden, musste bei der Sitzordnung auch berücksichtigt werden, für wie wichtig sich der Gast selbst hielt und ob er sich beleidigt fühlen würde, wenn man ihm einen falschen Sitzplatz zuwies. Sogar die Position am Tisch selbst musste sorgfältig kalkuliert werden, damit der Gast nicht neben jemandem säße, den er hasste. Und schließlich müssten alle Alleinstehenden zusammensitzen, damit das romantische Fest sie nicht entmutigte und sie hoffentlich einen Partner fänden, um zu vermeiden, dass sie weiterhin die Freiheit, Unabhängigkeit und emotionale Stabilität des Singledaseins genossen.
»Soll ich dir einen Algorithmus erstellen?«, fragte Una. Das war für sie eine Gelegenheit, ihrer Mum zu zeigen, was sie bei der Arbeit so alles machte. In ihrem Berufsleben lief es nicht so gut, und sie brauchte ein wenig Auftrieb.
»Das ist nicht nötig«, erwiderte ihre Mum. »Wir können alles auf einem Blatt Papier ausarbeiten.« Sie legte ein einzelnes DIN -A4-Blatt auf den Couchtisch und begann, die Tische mit einem Kugelschreiber aufzuzeichnen. »Der oberste Tisch ist reserviert. Die vorderste Reihe gebührt der Familie und engen Freunden.«
Una schaltete ab, bis die Bingogruppe zur Sprache kam.
»Wir können Jean und John, Cassie und Raj alle zusammen an einen Tisch setzen«, sagte ihre Mum. »Wir sollten Arthur dazusetzen. Und dein Onkel Len bekommt den letzten freien Platz.«
Unas Opferradar schlug an. »Ehrlich gesagt, Mum, solltest du das Risikoprofil für diese Gruppe gründlich überdenken. Es wäre schon ein Erfolg, wenn sie alle lebend zur Hochzeit erscheinen würden, und dann spielt es keine Rolle mehr, ob sie zusammensitzen oder nicht.«
»Una, das ist ja furchtbar, so was zu sagen!«
Andererseits wäre es für Una einfacher, alle zu überwachen, wenn sie an einem Tisch säßen.
In diesem Moment kamen Ken und Anton herein. Ken warf seine Autoschlüssel auf den Couchtisch und machte sich auf dem Sofa so breit, dass gerade noch genug Platz für Anton blieb. Der quetschte sich in die Lücke, nickte Una zu und lächelte verhalten.
Una musterte Ken. »Du siehst viel besser aus.«
»Hab mich nie besser gefühlt, danke.« Ken klopfte sich auf den Bauch.
»Una hilft mir mit dem Tischplan«, erklärte ihre Mum. »Schließlich wollen wir sichergehen, dass wir niemanden vergessen. Sag bitte Bescheid, wenn dir etwas auffällt, was für Unruhe sorgen könnte.«
Anton nahm den Plan in die Hand. »Ich sehe nur nach, wo Tante Jess sitzt … Gut. Und ich denke, du solltest irgendwo einen Platz frei lassen.«
»Gute Idee«, pflichtete Ken ihm bei.
Falls Una nicht rechtzeitig herausfand, wie die Nummern miteinander in Verbindung standen, würde es ohnehin einen freien Platz geben.
»Am kniffligsten ist es, die Gäste auf die Randtische zu verteilen, wo oft die weniger wichtigen Leute sitzen«, erklärte ihre Mum. »Ich könnte meine Freundin Bev bei Kath und Roger platzieren. Sie verstehen sich gut. Und Steve, mein Cousin zweiten Grades, ist alleinstehend. Er ist ein bisschen älter als Rosa, aber ich könnte sie neben ihn setzen.«
Anton richtete sich auf. »Wie ist dieser Steve denn so? Ist er wirklich für Rosa geeignet?«
Anton kannte Rosa also auch. Wie er wohl reagieren würde, wenn er von Kens heimlichen Besuchen in ihrem Haus erfuhr? Bei all dem Trubel hatte Una dieses Rätsel nicht weiterverfolgt, und die Zeit bis zur Hochzeit wurde knapp.
»Er ist ein absoluter Gentleman«, sagte Unas Mum. »Ich habe ihm jedes Jahr fünf Pfund in seine Geburtstagskarte gesteckt, und jedes Mal habe ich eine Dankeskarte von ihm bekommen.«
»Setz meine Vettern und Cousinen zweiten Grades hierhin«, sagte Ken und tippte mit dem Finger auf den Plan, »als eine Art Überlauf vom Haupttisch, auch wenn unsere Sheena sich schon ihren Teil denken wird, wenn sie ganz hinten sitzt.«
»Ich setze sie vorn an den Tisch«, erklärte Unas Mum, »dann hat sie unseren Tisch im Rücken. Das erweckt den Anschein, dass sie dem Rest der Familie nahesteht.«
»Das geht nicht, sie sitzt nämlich schon an einem anderen Tisch«, sagte Ken.
»Na ja, wir könnten die zwei hier umsetzen.«
»Nein, die sind alle eng miteinander verwandt und sehen sich oft. Es ist sinnvoll, ihnen einen gemeinsamen Tisch zuzuweisen.«
Una stand auf. »Um Himmels willen, es ist doch nur ein Essen. Können die nicht einfach zur Hochzeit erscheinen und es zu sich nehmen?«
Ihre Mum zog die Augenbrauen hoch. »Hast du noch etwas Konstruktives hinzuzufügen?«
»Wie gesagt, ich könnte einen Algorithmus erstellen.«
»Lass sie doch«, sagte Ken. »Das ist die Zukunft. In zwanzig Jahren werden alle Hochzeiten von Robotern geplant. Man wird wahrscheinlich nicht mal mehr einen Festsaal aufsuchen, sondern sich einfach eine dieser Virtual-Reality-Brillen aufsetzen, und los geht’s. Stimmt’s, Anton?«
»Die Ehe wird zwar nicht mehr existieren«, erwiderte der, »aber ja, ich stimme dir im Wesentlichen zu.«
»Ich glaube, die Ehe wird noch viele Jahre bestehen, Anton«, widersprach Unas Mum. »Damit bekunden zwei Menschen öffentlich ihre Liebe.«
»Hört, hört!« Ken drückte ihr die Hand. »Die Ehe wird noch existieren, dann aber vielleicht weniger populär sein.«
»Und man wird sie leichter wieder auflösen können«, ergänzte Anton, »weil die Menschen viel älter werden und nicht ein ganzes Leben lang mit ein und derselben Person zusammenbleiben wollen. Manche wollen ja nicht mal einen kleinen Teil ihres Lebens mit immer derselben Person verbringen.«
»Aber, aber, Anton«, sagte Ken, »du triffst schon noch jemanden, mit dem du alt werden willst.«
Anhand der aktuellen Datenlage rechnete Una grob im Kopf aus, wie lange diese Entwicklung dauern würde, behielt das Ergebnis aber für sich. Dann konzentrierte sie sich darauf, einen Algorithmus für den perfekten Sitzplan zu programmieren. Daran arbeitete sie etwa dreißig Minuten lang, während die Debatte um sie herum weiterging. Es war tatsächlich ein ziemlich kniffliges Problem, für das sie vielleicht keine Lösung finden würde. Um voranzukommen, setzte sie ihrer Verteilung ein paar Grundannahmen voraus.
»Ich hab’s!«, sagte sie schließlich und schloss ihren Laptop an den Drucker ihrer Mum an, um ihr Werk auszudrucken.
Anschließend legte sie den Plan auf den Couchtisch neben das handgeschriebene Diagramm, damit die Gruppe ihn sich ansehen konnte. Unas Mum nahm den Ausdruck auf, hielt ihn sich vors Gesicht und prüfte jeden Tisch einzeln.
»Interessant«, sagte sie. »Es gibt ziemlich viele Überschneidungen mit meinem Plan, aber die folgenden Punkte sind nicht berücksichtigt. An jedem Tisch muss es eine gleichmäßige Verteilung von Männern und Frauen geben. Außerdem sollten wir Raj nicht neben Jean setzen, da sie sich wegen des Vorfalls mit dem Buchclub zu sehr streiten würden.«
»Okay, das war’s«, platzte es aus Una heraus. »Was ist im Buchclub passiert? Ich höre die ganze Zeit davon. Jetzt will ich es wissen. Nicht aus Neugier, sondern für den Algorithmus.«
»Beruhige dich, Una«, sagte ihre Mum.
Ken beugte sich vor. »Das war ein Sturm im Wasserglas. Das Ganze lief so: Wir haben jeden Monat reihum ein Buch ausgesucht, das die Gruppe lesen sollte. Auf diese Weise hatten wir eine gute Mischung. Aber als Harry an der Reihe war, wählte er ein Buch, das er selbst geschrieben hatte und als Selfpublisher veröffentlichen wollte.«
»Was für eins?«, fragte Una.
»Harrys Lifehacks: Zweihundert Wege, länger zu leben, indem man seine Zeit ausdehnt. «
»Eine sehr interessante Lektüre«, sagte Unas Mum. »Hat die Art, wie ich den Geschirrspüler einräume, nachhaltig verändert.«
»Das klingt genial.« Una hätte zu gern die Gelegenheit gehabt, Harry kennenzulernen; er schien der aufgeschlossenste aus Kens Freundeskreis gewesen zu sein.
»Aber Jean meinte, das würde gegen die Regeln verstoßen«, sagte Ken. »Sie hielt es quasi für Eigenwerbung.«
»Das ist auch ein bisschen narzisstisch«, brummte Anton. »Und ich stehe nicht auf diese Lifehack-Szene. Warum nimmt man sich nicht die Zeit, Aufgaben richtig zu erledigen?«
Unas Mum nickte. »Zum Beispiel den Sitzplan.«
Ken ignorierte den Einwurf. »Es gab ein großes Brimborium darum. Raj ist aufgestanden und meinte, es wäre nicht regelwidrig, selbst geschriebene Bücher auszuwählen, und Jeans Position sei unhaltbar. Unhaltbar.«
Obwohl Raj sich bei den Klippen seltsam benommen hatte, war sie in diesem Punkt auf seiner Seite. Regeln waren Regeln, und keine Regeln waren keine Regeln.
»Jean schwang sich auf ihr hohes Ross und sagte, dass sie Raj aus dem Buchclub werfen würde, wenn er wirklich der Ansicht wäre, sie sollten Harrys Buch auswählen. Raj verließ den Raum, dicht gefolgt von Harry, Eileen und ein paar anderen. Und da anschließend kaum noch Mitglieder übrig waren, löste sich der Buchclub auf.«
Una fragte sich, wie sich diese Erkenntnisse auf ihre Ermittlungen auswirken würden. Könnte dieser Vorfall eines der Clubmitglieder zu einem Rachefeldzug animiert haben? Vor allem Jean schien ziemlich kompromisslos zu sein.
Sie versuchte sich ein weiteres Mal am Sitzplan und verglich ihn mit dem Original.
»Fast perfekt«, befand ihre Mum, »nur dass Tante Ida und Tante Edith seit der Hochzeit von Idas Tochter nicht mehr miteinander reden, weil Edith damals an einen anderen Tisch gesetzt wurde als der Rest der Familie. Da siehst du, wie schnell so was schiefgehen kann.«
»Aber ich lege doch die gleichen Regeln zugrunde wie du«, sagte Una. »Ich habe lediglich versucht, den Plan automatisch zu generieren.« Auf der Arbeit stellte man ihre professionelle Recherche infrage, und jetzt konnte sie nicht einmal mehr die Sitzordnung für eine Hochzeit ermitteln.
»Ich bin sehr beeindruckt von deinem Algorithmus, und es ist gut, etwas Elektronisches zu haben, das meine handschriftliche Version prüft.« Ihre Mum schaute zu den anderen.
»So was machst du also den ganzen Tag«, sagte Anton. »Schade, dass du nicht auch noch eine Rede für mich schreiben kannst.« Er schenkte ihr ein halbes Lächeln, und sie wertete das als Zeichen, dass er ihr gegenüber auftaute.
»Ich geb dir mal einen kostenlosen Tipp«, brummte Ken. »Du könntest ein Vermögen machen, wenn du das in eine App packst. Könnte mir vorstellen, dass Facebook auf ganz ähnliche Weise angefangen hat.«
Una fand diesen Vorschlag gar nicht so schlecht. Vielleicht ließ sich daraus wirklich eine App entwickeln.
Langsam wuchs ihr Ken ans Herz. Zumindest ein bisschen.
»Wie auch immer, wir haben wieder eine Aufgabe erledigt«, sagte ihre Mum. »Danke für die Gruppenarbeit. Es wird sicher alles wie am Schnürchen laufen. Das wird ein wunderbarer Tag.«
Abgesehen von der 99-prozentigen Wahrscheinlichkeit, dass einer der Gäste ermordet werden würde. Eine Statistik, die am kommenden Tag im Fokus stehen müsste.