Taub und Tauber
B eerdigungen waren deprimierend, daher war es am besten, sie zu meiden. Und ihre eigene Beerdigung wollte Una unbedingt verhindern.
Gestern hatte sie die schwarze Jacke eines Hosenanzugs eingepackt, den sie vor über zehn Jahren gekauft hatte, als man noch im Anzug zur Arbeit erschien. Der Anzug von Jigsaw war eine große Investition gewesen, und sie hatte ihn getragen, bis sich an den Ellbogen glänzende Flecken bildeten. Jetzt war er ein bisschen zu eng – noch enger als bei der Beerdigung ihres Dads –, deshalb verzichtete sie diesmal auf die Hose, um die Funktion ihrer wichtigsten Organe zu gewährleisten. In die Jacke hingegen passte sie so eben hinein, sofern sie sie nicht zuknöpfte. Der Stoff roch noch schwach nach CK One, das sie vor dem letzten Anlass aufgetragen hatte, und in einer der Taschen fand sie eine Quittung für einen mittleren Latte von Costa Coffee .
Um 12:30 Uhr holte Ken sie mit seinem Prius ab und fuhr zum Friedhof von Eastbourne, wo Tommos Beerdigung stattfinden würde. Regen benetzte die Windschutzscheibe, und dichte graue Wolken sorgten für eine düstere Stimmung. Trotz des Nieselregens waren die Straßen voller Kunden, die gelegentlich auf die Fahrbahn liefen, was Ken dazu veranlasste, zu bremsen und leise zu fluchen.
Una saß auf dem Rücksitz bei Anton. Er hatte seine üblichen Stiefel mit einem schwarzen Anzug kombiniert und trug dazu eine Krawatte, die aussah, als stamme sie aus Kens Fundus. Beide waren sie mit ihren Handys beschäftigt.
»Irgendwas Interessantes?«, fragte Una.
Anton unterbrach, was immer er sich da anschaute. »Ich höre gerade einen Podcast darüber, wie man einen guten Podcast macht. Ich denke darüber nach, mich darin zu versuchen. Ich muss nur noch ein Thema finden. Was schaust du dir da an?«
»Ich sehe mir den Start der SpaceX-Rakete von gestern Abend an.« Una zeigte ihm ihr Handydisplay. »Es ist erstaunlich, wie diese kleinen Booster wieder am Boden landen.«
»Stimmt. Aber das ganze Geld könnte man gut dafür nutzen, die aktuellen Probleme unseres Planeten zu lösen.«
»Aber eine Raumstation auf dem Mars würde bedeuten, dass wir irgendwohin können, wenn die Erde unbewohnbar wird.«
»Ich hoffe, das ist ein großes ›Wenn‹«, sagte Anton.
»Also, ich hab mir eine wiederverwendbare Wasserflasche gekauft.« Zum Beweis zog Una sie aus ihrer Tasche. »Dank Kens Ratschlag von neulich.«
»Nun, ich nehme an, jedes bisschen hilft.« Anton blickte sie mit einem nicht ganz so strahlenden Lächeln von der Seite an.
Die Friedhofskapelle war ein niedriges Backsteingebäude, das sich in die grasbewachsenen Hänge und grauen Grabsteine fügte. In ihrem Innern entdeckte Una viele bekannte Gesichter: John, Jean, Raj, Cassie, sogar Rosa, Eileens Nachbarin. Sie setzte sich neben ihre Mum und Ken, Anton nahm ganz außen Platz. Ken trug heute einen schicken Anzug, den er wohl auch bei der Hochzeit tragen würde. Hoffentlich ohne die Def-Leppard-Krawatte. Ihre Mum kramte in der Handtasche, ihre Hand umklammerte ein Taschentuch.
Die Eindrücke überrollten Una wie eine Welle. Der Raum, wieder in dieser Kapelle zu sitzen, die düstere Orgelmusik … das alles versetzte sie direkt zurück zu jenem Tag, und sie begann zu zittern.
»Una.« Ken beugte sich vor und drückte fest ihre Hand. »Dir ist kalt, setz dich hier an die Heizung.«
Ihre Mum sah besorgt aus. »Alles in Ordnung, Una?«
»Mir geht’s gut«, antwortete sie und zwang sich, aufrecht dazusitzen.
»Wenn du an die frische Luft musst, dann geh einfach.«
»Mir geht es wirklich gut. Okay?«
Eigentlich war ihr tatsächlich kalt. Sie schob die Hände in die Taschen und ertastete den Notizblock, den sie dabeihatte, um alle nützlichen Informationen festzuhalten. Sie war zur Beerdigung gekommen, um das Rätsel um die mysteriösen Todesfälle zu lösen; das war ihr heutiges Ziel. Doch nun, wo sie hier saß, zog eine unsichtbare Wolke der Trauer über ihr auf.
Ehe sie noch recht begriff, was sie da tat, war sie schon auf den Beinen.
Draußen hatte sie das Gefühl, wieder Luft zu bekommen. Noch hatten nicht alle Trauergäste die Kapelle betreten, und so wandte sie sich vom Eingang und dem höflichen Getuschel ab.
Una setzte sich auf eine Bank in der Nähe, und nur wenige Augenblicke später saß ihre Mum neben ihr. Ihr Atem stieg in Dampfwolken auf und vermischte sich mit der kalten Februarluft.
»Willst du meinen Schal?«, fragte ihre Mum.
Una schüttelte den Kopf.
»Ich war mir nicht sicher, ob du heute kommst. Ich weiß, es ist schwierig.«
Es wurde immer kälter, und Una verschränkte die Arme vor der Brust. »Eigentlich bin ich zu deiner Unterstützung hier, aber jetzt bist du hier draußen bei mir.«
»Nimm dir einfach einen Moment Zeit. Ich brauchte auch eine Verschnaufpause.«
Schweigend saßen sie da, abseits des Gemurmels, das vom Kapelleneingang herüberdrang.
Ihre Mum wandte sich ihr zu. »Willst du dich ins Auto setzen?«
»Nein, mir geht’s gut. Du solltest reingehen, hier draußen ist es eiskalt. Ich brauche nur eine Minute.«
Ihre Mum hielt kurz inne und streichelte Unas Arm, stand dann aber auf und ging.
Una war klar, dass sie eine Gelegenheit verpasst hatte, über die Beerdigung ihres Dads zu sprechen, doch selbst wenn sie nur bei ihrer Mum saß und darüber nachdachte, war das bereits eine kleine Linderung. Sie wartete zehn tiefe Atemzüge lang regungslos und wappnete sich, Tommo die letzte Ehre zu erweisen, dann erhob sie sich von der Bank und folgte ihrer Mum ins Gebäude. Als sie sich dem Eingang näherte, spürte sie eine Hand auf der Schulter. Es war John, der in einem dunkelgrauen Anzug vor ihr aufragte und rauchte. Sein Tabak roch nach vergangenen Zeiten.
»Ist alles in Ordnung, Una? Verrat mich nicht bei Jean.« Er wedelte mit der Zigarette. »Es ist nur die eine. Es muss ein ziemlicher Schock für dich gewesen sein, ihn so zu finden.«
»Ja, damit hatte ich nicht gerade gerechnet.«
»Du konntest zu dem Zeitpunkt schon nichts mehr für ihn tun.«
»Ja, das stimmt wohl. Wir sehen uns drinnen.«
Sie hätte Tommo früher erreichen können, wäre sie nicht so darauf fixiert gewesen, Ken zu überführen. Aber was hätte sie getan, wenn der Angreifer noch da gewesen wäre?
Sie schlenderte zur Kirchenbank zurück. Das Geschnatter im Gewölbe verstummte.
»Es scheint loszugehen«, flüsterte Ken. »Sie haben einen humanistischen Pfarrer für den Gottesdienst bestellt. Das möchte ich irgendwann auch für mich.«
Die Trauerfeier begann mit der ernsten Begrüßung durch den Pfarrer. Tommos Tochter Karen erhob sich, um ein Gedicht von Seamus Heaney vorzulesen, doch ihre Stimme brach ständig, sodass sie einige Passagen wiederholen musste. Una keuchte immer wieder auf. In der von Seufzern geschwängerten Luft fiel ihr das Atmen schwer.
»Tommo war ein sehr beliebtes Mitglied unserer Gemeinde«, sagte der Pfarrer.
An der Zahl der Anwesenden sah Una, dass diese Aussage zutraf, gleichwohl war es höchst wahrscheinlich, dass einer davon etwas mit Tommos Tod zu tun hatte. Sie musterte jeden der Hauptverdächtigen. Jean und John saßen so reglos da wie Schneekugeln, in denen sich keine Flocke bewegte. Cassie überprüfte das Kirchenheft auf Tippfehler. Raj sah sich ebenfalls im Raum um, und ihre Blicke trafen sich. Er lächelte Una zu, als hätte sie eine Kamera auf ihn gerichtet, um einen Schnappschuss zu machen. Sie nickte ihm kurz zu, bevor sie wieder auf den Sarg schaute.
»Wir wissen nie, wann wir unsere letzte Reise antreten«, sagte der Pfarrer. »Wenigstens können wir uns damit trösten, dass Tommo in seinen letzten Augenblicken etwas getan hat, was er liebte. Er suchte Samen für seine Blumentöpfe aus. Der Kreislauf des Lebens. Wir hören jetzt ein paar Worte von seinem Freund Ken McNamara.«
Unas Mum drückte Kens Arm, als er aufstand. Langsam schritt er zum Podium und blickte die Trauernden an.
»Was kann ich über meinen Freund Tommo sagen? Ich habe immer gescherzt, er würde noch zu seiner eigenen Beerdigung zu spät kommen, aber heute hat er mir leider das Gegenteil bewiesen. Wir haben jahrelang zusammengearbeitet. Ich weiß noch, wie er während eines Auftrags Smoke on the Water in voller Lautstärke spielte und uns erklärte, wie man Kartoffeln anbaut. Er war ein Mann mit vielen Talenten und Interessen, und er hatte viele Freunde. Ich bin stolz darauf, einer davon gewesen zu sein. Aber sein Hauptinteresse, was ihm am meisten am Herzen lag, waren Karen und Mike …«
Nach seiner Rede kehrte Ken gesenkten Hauptes auf die Bank zurück.
Da Una während des Gottesdienstes so viel über Tommos Leben hörte, fiel es ihr schwer, eine professionelle Distanz zu wahren. Sie war nach Eastbourne zurückgekehrt, um einen letzten Versuch zu unternehmen, mehr über die Personen aus Tommos Dunstkreis zu erfahren, aber die Datenmenge war schlichtweg zu groß. Tommos Persönlichkeit wies viele Faktoren auf, die nicht in ihren Tabellen vorkamen.
In zwei Wochen könnte einer der Anwesenden tot sein, das vermutete sie nach wie vor, trotz Tims Zweifel und der Tatsache, dass im Baumarkt keine neuen Zahlen aufgetaucht waren. Aber was sollte sie tun? Sie hatte Tommo nicht retten können und konnte von Glück reden, nicht selbst verletzt worden zu sein. Stattdessen hätte sie fast Ken geschadet. Ihr Unterfangen brachte nur andere Menschen in Gefahr, und ihre Ermittlungen waren ins Stocken geraten.
Nach dem Gottesdienst verließ die Gemeinde die Kapelle, und die meisten begaben sich auf den Friedhof, um der Bestattung beizuwohnen.
»Er hat einen dieser Öko-Särge«, sagte Ken zu ihrer Mum. »Tommo war immer auf dem Laufenden über neue Entwicklungen. Ich denke, so einen suche ich mir auch aus. Man muss ja auch was für die Umwelt tun.«
»Ich möchte etwas Traditionelles«, sagte ihre Mum. »Eiche mit Goldverzierung.«
»Klar doch«, sagte Ken. »Ich würde nie jemanden bei der Wahl seines Sarges mit meinen Ansichten unter Druck setzen.«
Una schwieg und verließ sich darauf, dass Kens natürlicher Redefluss bald zum nächsten Thema führen würde. Allerdings machte es sie nervös, wie lange die Menge dafür brauchte, sich an der Grabstätte zu versammeln. Sie hielt sich im Hintergrund und konnte kaum erkennen, wie sich die Lippen des Pfarrers bewegten, der eine kurze Segnung am Grab vornahm. Schließlich zerstreute sich die Menge in Grüppchen, um zu dem Umtrunk zu fahren, den Tommos Familie organisiert hatte.
»Hey, Una«, rief Ken. »Alles in Ordnung mit dir?«
»Alles gut, Ken. Ist Mum da vorne?«
»Sie ist kurz drüben beim Grab deines Vaters, sie wird nicht lange brauchen. Geh ruhig zu ihr, wenn du willst.«
Una zauderte. Sie wusste, dass sie hinübergehen sollte, doch der Gottesdienst hatte ihre emotionale Belastbarkeit überstrapaziert, daher stand sie nur leicht schwankend auf dem Fleck. Sie rechnete damit, dass Ken anfangen würde zu plappern, aber ausnahmsweise blieb er still und schaute in die Ferne.
Nach einer Weile wandte er sich ihr zu. »Warum warten wir nicht im Auto auf deine Mutter?«, fragte er sanft und bot ihr seinen Arm an.
Una hatte immer noch Vorbehalte gegen ihn, allerdings musste sie zugeben, dass er sehr rücksichtsvoll war. Sie hakte sich bei ihm unter.
»Vielleicht fahre ich einfach in die Wohnung zurück, Ken«, sagte sie auf dem Weg zur Straße. »Ich bin müde und glaube nicht, dass ich beim Umtrunk eine gute Gesellschaft wäre. Aber nach allem, was passiert ist, bin ich froh, dass ich ihm die letzte Ehre erwiesen habe.«
»Kein Problem«, erwiderte er. »Wir setzen dich unterwegs ab. Nimm die Schlüssel und warte drinnen.« Er deutete auf den Prius. »Ich gehe nur kurz zu Tommos Grab, um mich ein letztes Mal zu verabschieden, denn ich war ziemlich weit hinten und möchte etwas aufs Grab legen.«
Er entfernte sich, und aus reiner Neugier begleitete Una ihn. Nach ein paar Schritten blieb sie stehen. Sie mied Friedhöfe grundsätzlich und diesen hier besonders. Zudem hatte Cassie sie ausdrücklich davor gewarnt, hierherzukommen. Das war doch lächerlich. Sie ließ sich nicht von abergläubischem Unsinn beeinflussen! Ihr Bedürfnis, vor der Hochzeit alles Erdenkliche über Ken herauszufinden, war stärker als ihre Furcht, und sie ging weiter.
Am Grab stand sie unmittelbar hinter Ken und blickte auf den Sarg hinunter. Ein Mann war bereits dabei, das Grab zuzuschaufeln. Armer Tommo. Ken hatte den Kopf gesenkt und die Augen geschlossen. Nach einem Moment öffnete er sie und richtete sich auf. Er griff in seine Tasche und holte eine Eintrittskarte für ein Rockfestival heraus, die er vorsichtig ins Grab fallen ließ.
»Warte mal, was ist das?« Er deutete nach unten.
Una beugte sich vor. Etwas glitzerte oben auf dem Sarg. Jemand hatte zwei Zahlenaufkleber ins Grab geworfen. Schwarze Ziffern auf goldenem Grund. Die beiden Aufkleber bildeten die Zahl 43.