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Ertappt

S onntagmorgen, 8:00 Uhr. Durch das Fenster des Gästezimmers drangen das leise Schnaufen von Joggern, das Surren elektrischer Rollstühle und die Geräusche industrieller Kaffeemaschinen, die ihren Reinigungszyklus durchliefen. Una schwang sich aus dem Bett und ging in die Küche. Ihre Mum war schon da und schnitt eine Avocado in Scheiben, die sie anschließend auf einer Kartoffelwaffel drapierte.

»Das isst Ken am liebsten«, sagte sie. »Er nennt es sein Hipster-Frühstück.«

Ken betrat die Küche, sein feuchtes Haar war ungekämmt. Er wirkte wie die Lethargie in Person, als er sich an den Kühlschrank lehnte.

»Avocado? Sehr schick«, sagte er. »Das sollte gegen den Kater helfen.«

»Hast du heute Morgen schon etwas vor?«, fragte Una. »Fährst du direkt nach Hause, oder machst du einen Umweg?«

»Heute fahre ich direkt heim«, sagte Ken. »Ich muss vor elf da sein, weil ich eine Lieferung erwarte, und dann hole ich dich später ab, mein Engel, für die Verkostung bei den Gastronomen. Vielleicht können wir ihnen Avocado auf Waffeln vorschlagen?«

»Nicht für eine Hochzeit, Ken!« Unas Mum kicherte. »Hier, dein Frühstück ist fertig.«

»Großartig«, sagte Ken. »Vielleicht werfe ich vorher noch ein paar Paracetamol ein.« Er machte sich auf den Weg ins Bad.

Una musste dafür sorgen, dass das Treffen mit Rosa im Beisein ihrer Mutter stattfand, damit sie erfuhr, dass Ken ihr etwas verheimlichte. Um diesen Plan umzusetzen, würde sie all ihre kürzlich verbesserten Ermittlungsfähigkeiten brauchen.

»Warum begleiten wir Ken nicht und schnappen ein bisschen frische Luft?«, schlug sie vor. »Auf dem Weg zu seinem Haus könnten wir die zusätzlichen Konfettischachteln im Partyshop besorgen, die du haben wolltest.«

»Um diese Zeit droht dir in der Gegend keine Gefahr«, sagte Unas Mum, »falls du dir deswegen Sorgen machst. Ich habe die BBC -Nachrichten gesehen, und heute ist da kein Zootier entlaufen.«

Una brauchte schnell ein paar gute Argumente. »Ich möchte, dass alles perfekt wird, und will sicherstellen, dass ich deine bevorzugte Marke besorge.«

Unas Mum hörte auf, die Avocado auf die Waffel zu fächern, und sah auf. »Wir brauchen kein zusätzliches Konfetti. Ich übertreibe es ein bisschen mit der Vorbereitung. Außerdem habe ich noch zwei Wochen Zeit, um das zu regeln, also entspann dich.«

»Ich würde heute Morgen gerne mit dir spazieren gehen«, erwiderte Una. »Ich möchte doch bloß vor der Hochzeit noch etwas Zeit mit dir verbringen.«

Es war niederträchtig, Mum auf diese Weise zu manipulieren, doch als sie die Worte aussprach, wirkten sie gar nicht mehr so unaufrichtig. Sie wollte vor der Hochzeit tatsächlich noch etwas Zeit mit ihr verbringen. In den letzten Monaten war Una nicht gerade regelmäßig zu Besuch gekommen, auch wenn sie diesbezüglich Besserung gelobt hatte.

»Natürlich können wir zusammen los«, sagte ihre Mum. »Aber ich werde nach der Hochzeit nicht einfach verschwinden, weißt du?«

»Wir könnten danach bei Ken vorbeischauen. Ich war noch nie in seinem Haus.«

»Dafür dürften wir keine Zeit haben. Ich habe um 11:30 Uhr Chorprobe, also fahre ich vom Partyshop aus dorthin.«

Ken kehrte zurück, das Haar zu der gewohnten Tolle frisiert, und nahm die Kartoffelwaffel auf wie eine Scheibe Toast.

»Wir kommen mit dir«, sagte Unas Mum. »Wir wollen zum Partyladen.«

»Je mehr, desto lustiger«, erwiderte Ken. »Obwohl das kein Partyladen ist, wenn ich nicht drin bin.«

Nach dem Frühstück machten sie sich auf den Weg zu Kens Haus und hielten an der Straßenecke in der Nähe des Partyladens an. Ken und Unas Mum umarmten einander, ohne zu ahnen, dass das unebene Fundament unter dem gepflasterten Gehweg gewisse Gefahren barg. Schließlich schlenderte Ken die Straße zu seinem Haus entlang. Una musterte die Gegend, um zu ergründen, ob sich Rosa irgendwo versteckte, sodass sie ihre Mum darauf aufmerksam machen könnte. Sie musste ihre Mum nur so lange vor Ort festhalten, bis Rosa auftauchte. Hätte sie doch nur ihr Fernglas mitgenommen, dann könnte sie jetzt die Zypressen da drüben heranzoomen!

»Hallo, Rosa«, sagte ihre Mum in diesem Moment. »Wie geht es dir? Das ist übrigens meine Tochter Una. Ich weiß nicht, ob ihr euch schon kennengelernt habt?«

Una wandte sich um. Rosa stand direkt vor ihr und umarmte ihre Mutter. Sie trug eine pastellgrüne Latzhose und hatte einen dunkelgrünen Mohairschal um die Schultern geschlungen; ihr Haar war mit einem bunten Tuch hochgebunden. Sie sah aus wie jemand, der eher mit Anton als mit Ken abhängen würde.

Rosa strahlte. »Hallo, Sheila. Hallo, Una. Mir geht’s gut, danke, ich freue mich auf die Hochzeit.«

»Wir holen gerade noch mehr Konfetti – die Vorbereitungen hören nie auf. Schade, dass du es nicht zum Junggesellinnenabschied schaffst«, sagte Unas Mum.

»Ja, schade«, erwiderte Rosa. »Ich hoffe, ihr habt einen schönen Abend.«

»Also, wir wollen dich nicht in der Kälte stehen lassen. Pass auf dich auf, wir sehen uns dann spätestens am Morgen des großen Tages.«

»Ich hab schon mein Kleid«, entgegnete Rosa.

»Wohnst du hier in der Gegend?« Una musste das Gespräch irgendwie in die Länge ziehen, während sie noch überlegte, wie sie weiter vorgehen sollte.

»Ja, nur ein paar Straßen weiter.« Rosa straffte ihren Schal ein wenig und deutete vage in Richtung Chamberlayne Road.

»Und was machst du hier?«, fragte Una.

»Una«, sagte ihre Mum, »ich glaube nicht, dass Rosa uns Rechenschaft ablegen muss. Wir machen uns jetzt auf den Weg.«

Rosa winkte, ging in die Richtung von Kens Haus und ließ Una besiegt zurück. Ihr Plan war gescheitert – Ken versteckte sich in seinem Haus, Rosa würde sich mit ihm treffen, und sie und ihre Mum standen zitternd an der Straßenecke.

»Was war das eben mit dem ›großen Tag‹?«, fragte sie.

»Rosa kommt am Morgen der Hochzeit vorbei, um uns die Haare zu machen und uns zu schminken.«

»Kann sie das denn?«

Es war schon schlimm genug, ein Schößchenkleid tragen zu müssen, da fehlte es gerade noch, dass sie wie ein Clown im Schößchenkleid aussähe.

»Sie ist sehr kreativ«, antwortete Unas Mum. »Sie frisiert die Leute seit Jahren und absolviert nebenbei noch ein Studium. Wie die Zeit vergeht! Jetzt muss ich mich aber beeilen. Ich will der Chorleiterin keinen Anlass zur Beschwerde geben – sie ist auch so schon unheimlich genug.«

Una fiel nicht ein, wie sie ihre Mum zu Ken lotsen und ihn entlarven könnte.

»Geht schon klar«, sagte sie. »Ich denke, ich vertrete mir jetzt ein bisschen die Beine und hole das Konfetti dann auf dem Rückweg.«

»Okay.« Unas Mum schritt davon und wandte sich noch einmal um. »Aber zieh unbedingt den Reißverschluss an deinem Kragen zu! Ich will nicht, dass du dich vor der Hochzeit erkältest. Bis später.«

Als Una Kens Straße folgte, versuchte sie, eine neue Strategie zu entwickeln. An ihrem Schreibtisch im sechsten Stock präsentierten sich die Daten in Kalkulationen, mit Kommas getrennten Dateien oder übersichtlichen Tabellen, die aus Suchanfragen generiert wurden. Jetzt war sie in der freien Wildbahn, auf der Jagd nach Rohdaten. Ihr war nicht klar gewesen, wie viel Mut das erforderte.

Sie zog den Fleecekragen hoch und verbarg ihr Gesicht bis zum Wangenansatz, dann lief sie leise weiter. Ihr neuer Plan sah vor, Kens Haus zu observieren und durch die Fenster zu spähen, um mit eigenen Augen zu sehen, was dort vor sich ging. Vielleicht könnte sie sogar ein Beweisfoto schießen.

Ken gehörte eine Doppelhaushälfte mit großen Bleiglasfenstern an der Vorderseite und einer dunkelgrauen Eingangstür. Das Mauerwerk war tadellos verfugt, und die Rahmen der doppelt verglasten Fenster schimmerten silbern. Ein solides Haus, das sicher und gut gepflegt wirkte.

Als Una die Kiesauffahrt entlangschlich, knirschten die kleinen orangefarbenen Steine leise unter ihren Schuhen. Es hörte sich an wie zerbröselnde Cornflakes. Im Gegensatz zu Kens überschwänglicher Persönlichkeit fügte sich das Haus gut in die Nachbarschaft ein, nichts schien seinen Stempel zu tragen. Doch als sie näher kam, entdeckte sie die glitzernde Discokugel über der Eingangstür. Auffällig, unnötig, aber nicht schwer genug, um jemanden ernsthaft zu verletzen, wenn sie ihm auf den Kopf fiele.

An der vorderen Hausecke drückte sie sich flach an die Seitenwand, die Schulter ans Abflussrohr gepresst. Was nun? Sie hatte ihr Ziel erreicht, doch da sie normalerweise nie aus dem Stegreif agierte, steckte sie jetzt in einer Sackgasse. Sie warf einen Blick um die Ecke zur Hausfassade und bemerkte eine Überwachungskamera, gleich über dem Türrahmen der kleinen Veranda. Vielleicht wurde sie bereits überwacht.

Dies war nicht der richtige Zeitpunkt, das Mauerblümchen zu mimen. Sie huschte um die Ecke, lief bis zum großen Fenster mit den rosafarbenen Samtvorhängen und hockte sich unter den Fensterrahmen. Glücklicherweise schirmte die Mauer vor dem Haus sie vor den Blicken möglicher Passanten ab. Sie müsste bloß behutsam den Kopf recken und durch die Fensterscheibe spähen. Nur eindeutige Beweise würden ihren Durst nach Wahrheit stillen.

Sie atmete dreimal tief durch und hatte dennoch Mühe, die Lunge zu füllen, während sie mit bereits brennenden Waden am Fensterrahmen hockte. Zeit, nachzusehen.

Una reckte den Hals und schaute ins Innere. Ein großes weißes Wohnzimmer erstreckte sich bis zum Garten auf der Rückseite. Ken stand mit dem Rücken zu ihr mitten im Raum, vor ihm war Rosa. Sie schien sich auf seinen Unterleib zu konzentrieren.

Una zückte ihr Handy, bereit, ein Foto zu schießen. Das sah nicht gut aus.

»Erwischt«, flüsterte ihr eine Stimme leise ins rechte Ohr, und kräftige Hände legten sich auf ihre Schultern.

War das etwa dieser neugierige Arthur? Er schien ständig in der Nähe zu lauern.

Oder war es die Polizei? Die Überwachungskamera hatte vielleicht eine Art Notruf ausgelöst, weil sie sich verdächtig verhalten hatte. Mit einer Vorstrafe wegen Schnüffelns in einer ruhigen Wohngegend würde sie niemals befördert werden.

Langsam drehte sie den Kopf.

»Was in aller Welt machst du da?«

Es war Anton. Er trug heute eine schwarze Lederjacke, und Una musste zugeben, dass sie gut zu seinem finsteren Blick passte. »Ich kann das erklären.«

Er stand auf und bedeutete ihr, ihm ins Haus zu folgen. Das Ganze war ihr peinlich. Sie wollte nicht, dass Anton Ken und Rosa zusammen sah, doch er hatte schon die Haustür geöffnet.

Im Wohnzimmer roch es nach teuren Duftkerzen.

»Hallo«, begrüßte Ken ihn. »Warst du heute bei deinem Hells-Angels-Treffen? Wartet deine Gang draußen, mit der du gleich auf den Highway fährst und so?«

»Es ist bloß eine neue Jacke«, erwiderte Anton. »Ich hab Una in der Nähe getroffen und dachte, ich lade sie auf einen Kaffee ein. Du kannst mit deiner Anprobe weitermachen. Hallo, Rosa.«

Anprobe? Ken drehte sich zur Seite und schaute in einen Wandspiegel. Rosa wich ein paar Schritte zurück. Sie musste hergekommen sein, um die Weste anzupassen, die er gerade bewunderte. Sie war in einem ähnlichen Stil gehalten wie die, die Tommo bei seiner letzten Bingo-Veranstaltung getragen hatte.

Ken drehte sich von der einen Seite zur anderen, um sein Spiegelbild zu begutachten, und Rosa pflückte rasch einen Faden vom Stoff. Die Weste war hauptsächlich goldfarben, mit lavendelfarbenen Zierbändern und Knöpfen – im selben Ton wie Unas Brautjungfernkleid.

»Ich verheimliche deiner Mutter diese besondere Hochzeitsweste«, sagte Ken. »Ich lasse sie an die Kleider anpassen, die du im Hochzeitsladen anprobiert hast. Sheila würde mich nur ausschimpfen, weil sie Geld sparen will. Habt ihr das Konfetti bekommen? Das ging aber schnell.«

»Ich kann’s nicht glauben. Ich hab dich eben erst kennengelernt, Una, und fünf Minuten später sehen wir uns wieder«, sagte Rosa. »Die Welt ist wirklich klein.«

Una lächelte. Eastbourne kam ihr tatsächlich sehr klein vor, während sie im Zimmer stand und ihr Fleecekragen noch immer ihren Mund verbarg. Sie zog ihn herab.

»Ich möchte nicht stören«, sagte sie. »Ein wunderschönes Haus, Ken. Ja, ich nehm gern einen Kaffee, Anton.«

Sie folgte ihm in die Küche. Der Raum wirkte wie eine Musterküche – glänzender Chrom, dezente graue und weiße Fliesen.

»Ich weiß nicht, warum Mum nicht hier einzieht«, sagte sie.

Anton öffnete eine von mehreren identischen Vorratsdosen und setzte einen Kaffee auf. Er hatte seine Jacke sorgfältig über eine Stuhllehne gehängt, genau wie Ken es tat.

»Papa will ein bisschen Geld für die Flitterwochen ausgeben«, sagte er. »Und er will auch Chrissie und mir einen Batzen abgeben. Aber wir beide haben eigentlich etwas anderes zu bereden, stimmt’s?«

Er schaute Una unverwandt an. Ihr fiel keine Ausrede ein, also beschloss sie, möglichst authentisch zu antworten.

»Ich habe zufällig gesehen, wie Rosa das Haus betrat, und wollte nur sehen, warum sie hier ist. In meinem Beruf muss ich neugierig sein, und vielleicht habe ich mich ein bisschen hinreißen lassen.«

»Ich bin mit Rosa zur Schule gegangen.« Anton reichte ihr einen Kaffee. »Ihre Mutter ist bereits vor längerer Zeit verstorben, und seitdem passt mein Dad auf sie auf. Wir haben früher neben ihnen gewohnt. Er hat sogar etwas Geld für ihr Modedesign-Studium lockergemacht. Ich mag Rosa auch sehr gern. Aber meinen Dad mag ich noch mehr, und es gefällt mir nicht, wie du dich ihm gegenüber verhältst. Irgendwie misstrauisch. Du könntest ihm ernsthaft schaden, wenn du dich so an ihn heranschleichst. Ich weiß, er ist manchmal ein bisschen anstrengend, aber wenn man sich die Zeit nimmt, ihn kennenzulernen, erweist er sich als wirklich netter Kerl. Glaub mir.«

Una wünschte, ein verrücktes Erdloch würde sich auftun und sie zum Erdkern ziehen.

»Es tut mir leid, Anton.« Sie zuckte zusammen, als sie einen Schluck von dem viel zu heißen Kaffee trank. »Ich bin das völlig falsch angegangen. Ich bring das mit Ken wieder in Ordnung. Und mit dir.«

»Wir werden sehen.« Wieder blickte Anton sie finster an. »Willst du mir sonst noch irgendwas sagen? Ich hab das Gefühl, das war noch nicht alles. Du führst eindeutig etwas im Schilde …«

Una schaute ihn an. Er goss gerade Kaffee aus einer Cafetiere in drei bunte Tassen, die er auf die Marmorarbeitsplatte gestellt hatte. Das war kein guter Zeitpunkt, ihm zu verraten, dass sie mehrere schwarz-goldene Zahlen entdeckt hatte, die Kens Freunden zum Verhängnis geworden waren.

»Aus professioneller Sicht, statistisch gesehen, ist alles in Ordnung«, erwiderte sie. »Danke für den Kaffee.«