25

Holmes zu Besuch

U na packte ihren Rucksack für die Rückreise nach London und ließ sich anschließend aufs Sofa sinken. An diesem Wochenende hatte sie Fortschritte gemacht: Sie hatte die Gewissheit, dass eine Zahlensequenz existierte und höchstwahrscheinlich jemand die tödlichen Unfälle arrangierte. Aber das war es im Grunde auch schon. Es war ihr gelungen, Anton zu verärgern, indem sie Ken als vermeintlichen Schürzenjäger verfolgt hatte, obwohl sein einziges Vergehen in seiner Vorliebe für reich verzierte Westen bestand. Nach wie vor wusste sie nicht, wer hinter alledem steckte, wer das nächste Opfer war und wie sie nach Cassies verhängnisvollen Worten auf der Beerdigung damit umgehen sollte, dass sie die nächste Tote sein könnte. Sie stand auf und ging zum Spiegel über dem Kaminsims. Das Gesicht, das ihren Blick erwiderte, wirkte verängstigt, nicht wie das Antlitz einer Frau, die einen Mord verhindern wollte. Es sah nicht einmal aus wie das Gesicht von jemandem, der in einem hochkarätigen Versicherungsunternehmen befördert werden würde. Was hatte es mit diesen Zahlen auf sich?

Jemand schob einen Schlüssel ins Haustürschloss.

»Hallo, Una.« Ken tänzelte auf höchst ineffiziente Weise mit seinen Stepptanzschuhen auf sie zu. »Ich war gerade beim Jazztanz für über Sechzigjährige. Auf dem Rückweg hab ich ein paar echte französische Croissants geholt, als kleinen Nachmittagssnack. Nach fünfzehn Uhr verkaufen sie die billiger.« Er klopfte sich selbst auf die Schulter, stellte die Tasche auf dem Küchentisch ab, trippelte zu dem Sessel neben ihr und ließ sich darin nieder.

Una gewöhnte sich allmählich an Ken, und unter normalen Umständen hätte sie seine Eigenschaft, Monologe zu führen, als ziemlich entspannend empfunden.

»Mum macht ein Nickerchen«, sagte sie.

»Gute Idee«, erwiderte Ken. »Die letzte Tanznummer aus 42nd Street hat mich aus der Puste gebracht, mit all den Schrittwechseln. Jeanette, wo ist die 42nd Street?«

»Die zweiundvierzigste Straße liegt zwischen der einundvierzigsten und der dreiundvierzigsten.«

Ken kicherte. »Sie reißt bessere Witze als ich.«

Daran hatte Una keinen Zweifel.

»Die 42nd Street«, fuhr Jeanette fort, »liegt im New Yorker Stadtbezirk Manhattan.«

»Danke«, sagte Ken. »Wusste ich’s doch.«

Una hatte Jeanette bislang nicht als Datenquelle in Betracht gezogen, dennoch hatte das Gerät soeben die Frage nach einer Zahl beantwortet. Es stand schweigend vor ihr auf dem Kaminsims und sammelte unbemerkt immer mehr Daten über alle im Haus. Wahrscheinlich hatte es eine bessere Vorstellung davon, was vor sich ging, als …

»Ken, glaubst du, Jeanette weiß viel über Zahlen?«

Ken beugte sich vor. »Ich zeig’s dir. Jeanette, wie lauten Kens Zahlen?«

»Kens Zahlen sind 17, 23, 37, 41, 43, 45«, antwortete das Gerät.

Una hob Jeanette auf und drehte sie in der Luft. Jetzt kannte sie die Zahlenreihe, aus der die schwarz-goldenen Ziffern stammten. Aber wenn das Kens Zahlen waren, musste er etwas mit der Sache zu tun haben.

»Alles in Ordnung, Una?« Ken sah sie aufmerksam an. »Du bist nur von den Socken, stimmt’s? Ich wusste, dass ich dich für so einen Sprachassistenten begeistern würde. Ich schenke dir einen zum Geburtstag.«

»Was sind das für Zahlen?«

»Nur Lottozahlen.«

»Du spielst Lotto, Ken?«

»Jede Woche.«

Unas Herz schlug schneller. »Und was hältst du von der Lotterie? Macht sie dich jemals wütend? Wahnsinnig wütend?«

»Wütend? Niemals! Nicht nach unserem Gewinn letztes Jahr.«

»Gewinn? Ihr habt im Lotto gewonnen? Das hat bisher keiner erwähnt.«

»Nicht nur ich«, sagte Ken. »Wir spielen in einer Tippgemeinschaft, daher haben wir das Geld durch sechs geteilt. Wir haben zwar nicht den Jackpot geknackt, sondern nur fünf Richtige gehabt, aber wir sind alle gut dabei weggekommen.«

Plötzlich fügte sich alles zusammen. Ken lebte wegen seines Gewinns so extravagant – die Renovierung, die Hochzeitsparty und natürlich Jeanette, die sich als sehr gute Investition erwiesen hatte.

»Aber wer hat die Zahlen festgelegt?«, fragte Una.

»Eine Zahl für jeden von uns. Wir haben alle eine ausgesucht.«

»Wer ist ›wir‹? Und wer hat welche Zahl beigesteuert?« Una stellte Jeanette zurück und setzte sich auf die Sofakante.

»Lass mich kurz nachdenken.« Ken starrte auf den Couchtisch vor sich. »Die 17 ist von Jean und John, ihr Jahrestag; die 23 ist von Arthur; die 37 war Harry, 41 Eileen, und die 43 war Tommos Glückszahl. Und zu guter Letzt die 45 für mich, meine Hausnummer.«

Die Zahlen stimmten mit denen der Todesopfer überein, und wenn die Reihenfolge korrekt war, schwebte Ken in Gefahr. Sie hatte Zeit darauf vergeudet, ihn als Mörder zu überführen, obwohl in Wirklichkeit er das nächste Opfer war. Aber warum hatten die Morde mitten in der Zahlensequenz begonnen?

»Wann habt ihr gewonnen, wann genau?«

»Das vergess ich nie«, antwortete Ken. »Ich bin raus in den Garten gerannt. Es war eine kalte Nacht, und ich hatte nicht einmal meine ›North Face‹-Fleecejacke aus der Sonderedition an. Als ich aufschaute, stand der Vollmond am Himmel, und ich hab die Faust in die Luft gereckt.«

»Ich will nur das Datum wissen«, sagte Una.

»Das war am Mittwoch, den 1. November.«

Der Erste! Jeder Mord war an einem Monatsersten geschehen. Das war es! Das war die Verbindung!

Una überlegte, was sie als Nächstes fragen sollte. Ihr brummte der Kopf. »War jemand dagegen, dass das Geld durch sechs geteilt wurde?«

»Nein, ganz und gar nicht. Wir haben alle gut daran verdient. Aber vielleicht sollte man das vor den anderen nicht zu laut ausposaunen. Es gehört sich nicht, mit einem Gewinn zu prahlen, an dem nicht alle beteiligt sind.«

Una beugte sich weiter vor. »Ich würde gerne mehr über eure Tippgemeinschaft wissen. Wie ist sie zustande gekommen? Wie bezahlt ihr die Tippscheine?«

Ken blühte sichtlich auf. »Klar, wenn es dich interessiert. Also, wir haben sie letztes Jahr nach einem Buchclubtreffen ins Leben gerufen. Was haben wir damals doch gleich besprochen? Ein Buch, das John vorgeschlagen hatte: Casino Royale . Jean meinte, sie hätte den Glamour und die sinnlosen Morde sehr genossen, heiße aber das Glücksspiel nicht gut, und dann warf ich ein, dass ich einmal pro Woche Lotto spiele und es harmlos finde. Raj meinte, die Lotterie sei wie eine Steuer für die Armen, was ihm missfalle, aber am Ende meiner Rede haben wir sechs beschlossen, eine Tippgemeinschaft zu gründen, einschließlich John, unter der Bedingung, dass er den Gewinn mit Jean teilen würde.« Ken hielt inne und schaute Una an. »Quassle ich zu viel?«

»Nein, diesmal nicht. Red weiter!«

Ken strahlte. »Also, jeder von uns hat eine Nummer gewählt, und wir wechseln uns monatlich mit dem Loskauf ab, in der Reihenfolge der Zahlen. Harry hat eine WhatsApp-Gruppe eingerichtet, da erinnern wir denjenigen, der gerade an der Reihe ist, den Schein vor der Ziehung auszufüllen. Ich bin kommenden Monat dran, aber wenn ich die anderen das nächste Mal sehe, schlage ich vor, alle offenen Vorgänge abzuschließen und einen Schlussstrich unter die Sache zu ziehen. Das Ganze wird langsam zu aufwendig.«

Irgendetwas entging Una noch; das nagte an ihr. Irgendeine ihrer Beobachtungen passte nicht ins Bild.

»Gab es je Streit? War jemand mit dem Prozedere unzufrieden?«

»Wieso fragst du?« Ken ließ die Füße kreisen. »Auf der Halloween-Party gab es ein bisschen Stunk, weil Cassie zwei Monate hintereinander ihre Beiträge nicht bezahlt hatte. Ich bot ihr an, das für sie zu übernehmen, aber sie lehnte ab, und dann hat Harry sie angeschnauzt, weil sie an der Reihe war, die Lose zu kaufen. Er meinte, er hätte das ganze letzte Jahr überprüft und herausgefunden, dass wir wegen ihr einen kleinen Gewinn verpasst hatten – drei Richtige. Dabei hätte jeder nur einen Zehner verdient, aber dem gründlichen Harry ist es aufgefallen, und natürlich hatte Cassie den Lottoschein nicht mehr. Eine Tasse Tee, bevor du gehst?«

»Nein! Wie ging es weiter?«

Ken lehnte sich im Sessel zurück. »Cassie hat die Fassung verloren und wollte nicht mehr bei der Tippgemeinschaft mitmachen. Harry meinte, das sei in Ordnung, denn wenn sie übersinnliche Kräfte hätte, müsste sie sowieso dazu imstande sein, die Gewinnzahlen selbst herauszufinden. Und da sonst niemand einspringen wollte – Raj fand, eine Gruppe alter Leute sollte ohnehin keine großen Geldsummen gewinnen –, baten wir Arthur, Cassies Platz einzunehmen, und er war begeistert. Er ist sehr gewissenhaft, das muss ich ihm lassen.«

Una musste behutsam vorgehen, wenn sie mehr über die Auswirkungen von Cassies Streit mit Harry herausfinden wollte. Sie hatte das Haus des einsamen Arthur gesehen und freute sich für ihn, dass er in die Gemeinschaft aufgenommen worden war. Kein Außenseiter mehr, ein bisschen Glück im Leben. Sie schlug mit der Faust auf die Sofalehne – sie durfte nicht an »Glück« glauben.

»Und mit den Ziehungen lief nichts schief?«

»Nein. Nicht mit Harry am Ruder. Nachdem Cassie es vermasselt hatte, legte Harry fest, der aktuelle Loskäufer solle die Ziehung des Vormonats überprüfen und bestätigen, dass alles ordnungsgemäß gelaufen ist. Damit wir keine weiteren Gewinne verpassen. Narrensicher.«

Die Führungsqualitäten, das Buch über die Lifehacks – Una bedauerte einmal mehr, Harry nie kennengelernt zu haben.

»Und sonst ist mit den anderen nichts Merkwürdiges vorgefallen?«

»Nein, sonst fällt mir nichts ein«, sagte Ken. »Allerdings habe ich ein bisschen Hunger. Ich setze mal den Teekessel auf und heize den Ofen für die Croissants vor.«

Una beobachtete, wie Ken ein Stück vom Croissant abbrach, es sich in den Mund schob und sich daran verschluckte, woraufhin er sich mit einem erstaunlich effizienten Heimlich-Manöver selbst rettete. Beim Anblick dieses lächerlichen Mannes, der sich mit seinen Späßen und Hightech-Geräten in ihre Familie geschlichen hatte, wurde ihr klar, dass er Schutz brauchte. Sie musste ihn aktiv davor bewahren, im Hochzeitssaal unverhofft eines statistischen Ausreißer-Todes zu sterben, mit den Ziffern 4 und 5 auf der schicken Weste. Das würden sowohl ihre Mum als auch ihr Dad von ihr erwarten. Falls der Mörder ihr Vorhaben durchschaute, würde sie sich allerdings einer erheblichen Gefahr aussetzen.

Auf keinen Fall wollte sie das Risiko, dass ihre Lebensversicherung vielleicht vorzeitig ausgezahlt werden müsste, nicht allein tragen. Sie könnte Tim um Hilfe bitten, doch der war auf dem Junggesellenabschied recht abweisend gewesen, außerdem müsste sie ihn irgendwie herlocken, und dazu fehlte ihr die Verhandlungsmasse. Sie durfte weder ihre Mum noch Ken beunruhigen – ihre Mum würde die Bedenken ohnehin als übertrieben abtun, und sie durfte Ken nicht erneut aufregen. Blieb nur Anton. Er würde Ken schützen wollen, auch wenn er Unas Theorie nicht glaubte. Noch dazu hatte sie heute Morgen sein Vertrauen verloren. Er würde annehmen, dass sie sich das alles nur ausgedacht hatte, um die Hochzeit zu verschieben, weil sie Vorbehalte gegen Ken hegte. Sie wollte Anton nicht noch mehr verärgern.

Sie musste einen Weg finden, Kens Leben zu verlängern, ohne ihr eigenes zu gefährden.

»Wäre es nicht besser, die Hochzeit noch ein wenig aufzuschieben – nach all diesen unglücklichen Todesfällen?«, fragte sie in flehendem Ton. »Damit du und Mum Zeit habt, euch zu erholen?«

»Nichts ist wichtiger als die Gegenwart. Das habe ich gelernt.«

Ken schien darauf aus zu sein, mit dem Tod ein Würfelspiel zu spielen. Und es war schwierig, sich auf einen Mord zu konzentrieren, wenn der Geruch warmer, frischer Croissants durch die Wohnung zog.

»Vielleicht könntet ihr ja die Hochzeit mit weniger Gästen feiern, damit es privater und nicht so stressig für euch beide wird.«

»Je mehr, desto besser«, sagte Ken.

»Ich denke eher: Je weniger, desto authentischer.«

»Ich weiß es zu schätzen, dass du dich um uns sorgst, aber ich liebe deine Mutter und möchte die Zeit, die mir noch bleibt, mit ihr verbringen. Wir heiraten am 1. März, egal, was passiert. Ich geh jetzt die schlafende Schönheit wecken«, sagte Ken und tippelte in Richtung Schlafzimmer, ehe er sich umdrehte und für Una ein paar Jazz-Moves mit den Händen vollzog.