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Eine Hand wäscht die andere

A m Montagmorgen hatte Una auf der Arbeit erfolgreich zwei Rechtecke in einer PowerPoint-Präsentation ausgerichtet – und es war erst 10:30 Uhr. Zeit, durchzuatmen. Die gleißende Sonne schien durch die gehärtete Glasscheibe. Ihr Licht brach sich an den Bildschirmen der Kollegen, sodass sie die Augen zusammenkniffen, und die aufdringlichen Lichtstrahlen machten die im Raum herumschwirrenden Staubpartikel sichtbar. Una stand auf und zog die Jalousien herunter, um das natürliche Licht abzuwehren. Das Büro verfügte über eine sehr gute Deckenbeleuchtung, bei der Una nicht befürchten musste, dass sie herabfiel.

Nach dieser guten Tat war sie bereit, in Erfahrung zu bringen, ob Tim auf dem Junggesellenabschied irgendetwas herausgefunden hatte. Immerhin hatte sie ihren Teil der Abmachung eingehalten. Sie war heute gleich als Erstes in den fünften Stock hinuntergefahren und hatte einige Flyer zu Tims Spendenaktion verteilt. Als sie den Aufzug verlassen hatte, war sie nervös gewesen, immerhin musste sie mit fremden Leuten sprechen. Doch die Mitglieder des Tierversicherungsteams erwiesen sich als beunruhigend freundlich. Jedes Mal, wenn sie eine neue Tischreihe erreichte, wippten die Kollegen hektisch auf und ab und sagten Dinge wie »Kann ich helfen?« oder »Suchst du jemanden?«. Das war ein interessanter Kontrast zu ihrem eigenen Stockwerk, wo jeder Fremde nur zu hören bekam: »Kann ich Ihren Ausweis sehen? Ich will nur überprüfen, ob Sie für diese Etage zutrittsberechtigt sind.« Dank der wohlwollenden Stimmung hatte sie ein vertretbares Maß an Interesse für Tims Spendenaktion geweckt, auch wenn niemand ihn persönlich kannte.

Und dann war sie zu Gareth gegangen. Auf seinem Schreibtisch standen zwei Fotos: Ein Bild zeigte ihn mit seinen Eltern und seiner Schwester, ein anderes das ganze Kollegium auf einer Kostümparty. Una hatte ihn nicht außen vor lassen können, daher hatte sie ihm erklärt, einer seiner Kollegen organisiere eine Veranstaltung für wohltätige Zwecke.

Gareth hatte ihr ein geduldiges Lächeln geschenkt. »Ich würde Tim gerne sponsern, er muss mich nur fragen.«

Damit hatte sie Tim gegenüber ihre Schuldigkeit getan. Nun musste er ihr im Gegenzug mitteilen, was er in Erfahrung gebracht hatte. Sie hegte die Hoffnung, damit einige Lücken in ihren Ermittlungen schließen zu können. Das würde Tims letzter Beitrag zur Sache sein. Dank ihres kühnen und innovativen Ansatzes, der ihr viel Kummer bereitet hatte, wusste sie nun, wer das nächste Opfer sein würde und welche Verbindung zwischen den Zahlen bestand.

Hast du kurz Zeit ?, tippte sie. Küche? Wir haben einiges zu besprechen .

Sie saß da und stierte auf die Meldung »Tim schreibt«, was länger dauerte als erwartet, da er angeblich der schnellste Tipper im Büro war. Schließlich erschien seine Antwort auf ihrem Bildschirm.

Hast du schon mit Ajay gesprochen?

Nein. Warum?

Geh erst zu ihm. Dann reden wir.

Gut. Ich meld mich gleich wieder.

Tims Nachricht löste eine ganze Flut von Sorgen bei ihr aus. Während Una sich mit einer davon befasste, stauten sich viele weitere dahinter auf. Wichtig war, das Worst-Case-Szenario zu erkennen. Darin war sie gut, und es würde sie beruhigen, den schlimmstmöglichen Fall zu kennen. Was könnte Ajay für Neuigkeiten haben? Hätte das interne Revisionsteam die nächste Demütigung für sie auf Lager? Würde man sie herabstufen? Wollte man das Personal der Firma durch Hochschulabsolventen ersetzen? Würde ihre Stelle gestrichen?

Ja, eine Stellenstreichung. Vielleicht würde man sie in die harte, kalte Welt entlassen, wo sie den Notfallfonds anzapfen müsste, den sie schon angelegt hatte. Als Rücklage für schlechte Zeiten. Für drei schlechte Monate, um genau zu sein. Aber ihr Erspartes würde im Hinblick auf ihre Lebenserwartung nicht reichen – sie hoffte, noch viele schlechte Zeiten erleben zu dürfen.

Una erhob sich und schaute nach, ob Ajay frei war. Er schritt gerade um seinen Schreibtisch herum und schien sich selbst über das Headset eine Standpauke zu halten. Sie widmete sich wieder ihrer Präsentation. Irgendwie hatte sich das obere Rechteck ohne ihr Zutun nach rechts verschoben.

Ihr Telefon piepte, als eine SMS ihrer Mum eintraf. Sie bat Una, ein paar lustige Schärpen für den Junggesellinnenabschied am Samstag zu besorgen und sie mit einem Spruch bedrucken zu lassen, der aber nicht zu derb sein solle. Vielleicht wäre ja »Gleich tötet jemand den Bräutigam« geeignet. Das würde womöglich einem Teilnehmer ein nervöses Gackern entlocken.

Sie schaute noch einmal nach, ob Ajay frei war, und sah, dass er sein Headset abgesetzt hatte. Sie eilte hinüber.

»Hi. Hast du einen Moment?«

»Una! Komm rein. Ich wollte sowieso mit dir sprechen.«

Sie stand ihm gegenüber. Auf dem Schreibtisch lag ein halb aufgegessenes Croissant auf einer Serviette. Sollte sie ihn nach dem gestrigen Vorfall mit Ken davor warnen, dass man sich an einem Croissant verschlucken konnte? Sie entschied sich dagegen. Ajay hatte einen Doktortitel in Mathematik und ein PADI -Tauchzertifikat – er konnte seine Risiken selbst berechnen. Sie bemerkte, dass er ihr seine volle Aufmerksamkeit widmete. Normalerweise bekam sie von ihm etwa 80 Prozent, und gelegentlich war ihm anzusehen, wie er parallel über andere Aufgaben nachdachte. Volle Aufmerksamkeit bedeutete, dass er entweder besonders gute oder sehr schlechte Nachrichten überbringen wollte.

»Wie laufen die Vorbereitungen für die Hochzeit deiner Mutter?«, erkundigte er sich.

»Wir müssen nur noch ein paar Sachen organisieren.«

»Großartig. Falls du wieder frei brauchst, sag mir rechtzeitig Bescheid, dann kriegen wir das schon eingeplant.«

»Nein, das wird wohl nicht nötig sein. Ich könnte ein paar Tage von Eastbourne aus arbeiten, wenn das in Ordnung ist? Ich würde mich in einem separaten Raum einrichten, damit meine Mutter nichts Vertrauliches mithören kann.«

»Flexibles Arbeiten? Natürlich«, sagte Ajay. »Wir wollen hybride Arbeitsformen im Rahmen unserer Personalpolitik aktiv fördern.«

»Okay. Also ist das ein Ja?«, fragte sie.

»Das ist ein großes Ja.«

»Prima. Und worüber wolltest du mit mir sprechen?«

»Ja, also, wie du weißt, führen wir innerhalb der Abteilung einige Umstrukturierungen durch und setzen unsere besten Mitarbeiter auf die strategischen Ziele des Konzerns an, damit wir weiterhin an der Spitze bleiben können. Und das bedeutet, wir überprüfen die Teamstruktur auf Möglichkeiten zur Nutzung von Synergieeffekten unserer Abteilungen. So weit alles klar?«

Una setzte sich.

»Da nach Kellys Weggang eine Stelle frei wird«, fuhr er fort, »haben wir beschlossen, jemandem die Leitung für das Team für Sonderprojekte zu übertragen.«

»Okay.«

Am liebsten hätte sie sich die Ohren zugehalten, denn obwohl sie einerseits gespannt war, was er als Nächstes sagen würde, wollte sie es andererseits nicht hören.

»Und wir haben Tim gebeten, diese Rolle zu übernehmen.«

Una erhob sich wieder. »Was?«

»Wie du weißt, ist Tim ein wichtiges Mitglied unseres Teams, und wir glauben, dass seine Vision und Innovationskraft uns helfen wird, die nächste Stufe zu erreichen.«

»Aber ihr wisst schon, dass ich ebenfalls einige wirklich innovative Analysen durchführe? Ich brauche nur ein wenig mehr Zeit, um sie abzuschließen.«

»Ich schätze die großartige Arbeit, die du geleistet hast, und sehe dein Engagement für deine Funktion hier. Tim meinte sogar, dass es ihm sehr gefallen hat, mit dir an der Trendanalyse für die Küstenorte zu arbeiten, und er hat betont, was für ein tolles Team ihr seid.«

Una setzte sich wieder. Tim hatte ihr nur geholfen, wenn es ihm in den Kram gepasst hatte.

»Und was wird aus mir?«, fragte sie.

»Wie du weißt«, sagte Ajay, »warst du mir vorübergehend unterstellt, solange wir unser weiteres Vorgehen überdacht haben. Und jetzt wirst du für Tim arbeiten.«

»Was?«

»Ich weiß, wie sehr Tim deine Arbeit schätzt, und er wird sicher nach Möglichkeiten suchen, deine derzeitige Rolle auszubauen.«

Una hatte ihren Kugelschreiber nicht dabei – das war ein Fehler.

»Ich muss darüber nachdenken«, sagte sie.

»Völlig verständlich. Mein Büro steht dir immer offen. Ich muss jetzt telefonieren.«

Una stürmte zurück zu ihrem Schreibtisch, ohne Rücksicht darauf zu nehmen, dass sie sich durch die hohe Reibung des Nylonteppichs selbst entzünden könnte. Sie zog die Jalousien hoch und ließ den goldenen Sonnenschein in ihr Büro strömen, so genervt war sie. Sie entsperrte ihren Bildschirm und erblickte prompt eine neue Nachricht von Tim.

Ich habe dich aus Ajays Büro kommen sehen – willst du reden? Küche?

Sie tippte aggressiv auf die Tasten – unterwegs –, schnappte sich ihren Kugelschreiber und begab sich auf den Weg in die Kochnische.

Diesmal machte Tim keine Dehnübungen, sondern stand regungslos am Kühlschrank und sah sie mit ernster Miene an. »Ich mache mir gerade einen Tee, willst du auch einen?«

»Ich trinke eine Cola. Eine vollfette Cola.«

Sie hatte sich noch nie eine Cola gezogen und musste erst einmal den Code nachsehen. Anschließend schlug sie gegen den Automaten, bis die Dose in den Ausgabeschacht fiel.

»Übrigens arbeite ich auf keinen Fall für dich«, sagte sie dann.

»Du musst dich nicht sofort entscheiden. Schlaf einfach mal drüber; auf diese Weise bekomme ich immer etwas Abstand von meiner Wut. Ich hab in Men’s Health einige Artikel darüber gelesen …«

»Ich bin nicht wütend.« Unas Hals kribbelte heftig, weil sie einen großen Schluck Cola hinuntergestürzt hatte.

»Wir haben in letzter Zeit so gut zusammengearbeitet. Du warst viel wagemutiger, als ich erwartet hatte.«

»Ich sag dir, wie mutig ich bin. Ich hab das Geheimnis der Zahlenreihe gelüftet. Bei Tommos Beerdigung habe ich eine dritte Zahl entdeckt, und jetzt weiß ich, wie die Sequenz zusammenhängt. Das sind Lottozahlen – von einer Tippgemeinschaft, um genau zu sein. Und ich weiß, wer das nächste Opfer sein wird.«

»Warum hast du mir das nicht eher gesagt?«

»Jetzt, wo ich auf den Geschmack gekommen bin, meine eigenen Methoden auszuprobieren, wollte ich die Sache durchziehen. Ich wollte dich nicht mehr um Hilfe anbetteln und in deiner Schuld stehen.«

Tim nahm einen Proteinriegel aus der Tasche und öffnete langsam die Verpackung. Der Geruch nach gehackten Cashewkernen erfüllte die Küchenzeile. »Dich interessiert also nicht, was ich auf dem Junggesellenabschied herausgefunden habe?«

»Das dürfte nicht sonderlich viel gewesen sein, da du so sehr damit beschäftigt warst, die Dartpartie zu gewinnen.«

»Eigentlich habe ich alle erlangten Informationen sorgfältig notiert, und sie sind interessant. Ich frage mich sogar, ob an deinem eher eigenwilligen Ansatz etwas dran sein könnte. Vielleicht sollte ich ihn in eine echte Methodik umwandeln.«

»Wage es ja nicht, meine Ideen zu klauen«, sagte Una. »Und du hast mir noch immer nicht verraten, was du herausgefunden hast.«

»Ich schicke dir die Notizen, sobald du, wie vereinbart, das Tierversicherungsteam besucht hast«, erwiderte Tim.

Sie kippte den Rest der Cola hinunter und warf die Dose in den Recycling-Mülleimer. »Oh, so ist das also. Na ja, das habe ich heute Morgen erledigt. Jetzt stehst du in der Bringschuld. Also sag’s mir.«

»Ich glaube, du solltest mehr über den Arzt herausfinden, diesen Raj. Ich habe ihn darüber ausgehorcht, wo er in letzter Zeit war, und dabei kam raus, dass er an dem Tag, an dem der Kerl starb, im Baumarkt war. Aber angeblich ist er erst nach dem Vorfall dort angekommen. Er wollte eine Deckleiste kaufen. Wahrscheinlich ein Zufall, aber trotzdem. Und ich bin gerne bereit, dir weiterzuhelfen, ohne dass du dafür etwas tun musst – schick mir einfach deine Ergebnisse. Die Sache könnte gefährlich sein. Außer mir versteht keiner deinen Ansatz. Auf diesen schlappen Anton kannst du dich wohl kaum verlassen. Der kann ja nicht mal einen Dartpfeil werfen.«

»Er ist nicht schlapp. Man braucht keine Kraft, um Dart zu spielen. Aber du hast schon recht. Ich würde ihn lieber nicht einweihen.«

»Und im Gegenzug lässt du dich auf die neue Teamstruktur ein«, sagte Tim. »Es gibt ein paar neue Vorschriften, zu deren Umsetzung man eine zuverlässige Arbeitskraft braucht, und das schreit geradezu nach dir.«

»Ich brauche deine Hilfe nicht. Ich brauche überhaupt keine Hilfe.« Una spürte die belebende Wirkung der Cola. »Und du wirst dir einen anderen Knecht suchen müssen, der deine neuen Bestimmungen durchsetzt.«

Sie kehrte an ihren Schreibtisch zurück und beantwortete, beflügelt vom Koffein, das Dutzend E-Mails, das in ihrer kurzen Abwesenheit eingegangen war. Sie war nicht auf Team Tim angewiesen. Sie war das Sonderkommando Una.