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Warnsignal

A m nächsten Morgen wartete Una an Gleis 1 auf den Zug nach London. Sie stand am Ende des Bahnsteigs, abseits der anderen, weit weg vom Gleisrand, das Gewicht gleichmäßig auf die hüftbreit auseinanderstehenden Füße verteilt. Sie hielt ein paar Zentimeter Abstand zu dem Gitterzaun hinter ihr, der den Bahnsteig von einem kleinen Parkplatz trennte.

Erneut prüfte sie den Bahnhof kurz auf Gefahren. Ein Stück weiter lagen ein Pappbecher und eine halb volle Pommespackung auf dem Boden – auf beidem könnte jemand ausrutschen und auf den harten Fliesen aufschlagen. Jederzeit könnten Reisende in letzter Minute hektisch auf den Bahnsteig rennen, um zu ihrem Waggon zu gelangen. Außerdem war mit Möwen zu rechnen, die ständig in der Nähe waren, auch wenn momentan weit und breit kein Tier zu sehen war. Sie nippte an ihrem Kaffee – alles war unter Kontrolle.

Auf dem Bahnsteig warteten etwa zwanzig Fahrgäste darauf, in den Zug zu steigen. Sie kannte keinen davon, allerdings war sie auf dem Weg hierher vor dem Einkaufszentrum Raj begegnet. Er hatte nicht genau durchblicken lassen, was er vorhatte, nur dass er für jemanden ein Geschenk kaufen wollte. Sein verletztes Bein steckte in einem steifen grauen Plastikstiefel, der über den Bürgersteig schlurfte. Sie hatte ihm gesagt, dass sie schnell zum Zug müsse – was auch stimmte, obwohl sie viel Zeit für Unvorhergesehenes eingeplant hatte – und sich mit den Worten »bis nächste Woche auf der Hochzeit« verabschiedet.

»Die Hochzeit«, hatte er augenrollend erwidert und mit dem Stiefel gestampft.

Sie hatte sich einen Imbiss und einen Kaffee in der Bahnhofshalle gekauft. Ihr blieben noch einige Minuten, bis der Zug abfuhr, und sie erstellte bereits einen Plan für den morgigen Arbeitstag. Sie würde mit einer umfassenden Risikobewertung des Hochzeitslokals beginnen und überlegen, wie sie Ken schützen könnte, ohne sich selbst in Gefahr zu bringen. Sie ließ den Blick über den Bahnsteig schweifen. Das Paar neben ihr stritt sich darüber, ob ihre Sitzplätze in Fahrtrichtung ausgerichtet waren oder nicht. Anschließend stritten sie darüber, ob sie sich sogar gegenübersäßen und wie man das ändern könne.

Noch zwei Minuten. Ein Schatten zog über sie hinweg. Es war eine Möwe, die sich auf die Pommes stürzte. Sie wirkte extrem selbstbewusst, und Una war froh, die Sonnenbrille aufzuhaben. Jemand rannte hinüber, um das Tier zu verscheuchen. Die Möwe schnappte sich eine Pommes, schlug mit den riesigen Flügeln, und die Person zog sich zurück. Das war die Art von Vogelbeobachtung, die John und Raj gefallen würde. Una steckte ihren Snackriegel in den Rucksack, damit keine Möwe auf die Idee käme, ihn zu klauen.

Noch eine Minute. Zwei Teenagerjungs waren auf den Bahnsteig gelaufen und versuchten sich gegenseitig am Sweatshirt zu ziehen. Dabei hüpften sie spiralförmig herum. Sie waren recht weit von Una entfernt, näherten sich jedoch immer mehr der Bahnsteigkante. Una schaute zu den anderen Fahrgästen, um zu sehen, ob jemand eingreifen würde, doch sie wirkten alle so gleichgültig wie die Möwe. Die beiden Jungs hatten sich Una inzwischen genähert; sie hörte ihre Turnschuhe auf dem Bahnsteig quietschen, während sie an der Kante miteinander rangelten. In der Ferne sah sie den Zug um die Kurve fahren und auf den Bahnhof zukommen, doch ihr Blick war auf die beiden schreiend herumhüpfenden Jungs gerichtet. Jetzt drückte der untersetzte Junge den Kopf seines Freundes über die Bahnsteigkante.

»Seid vorsichtig!«, rief Una.

Sie rauften sich weiter.

»Der Zug fährt ein. Seid vorsichtig!«

Der Untersetzte sah sie an. »Was? Redest du mit mir?«

»Ja, der Zug kommt. Schau!«

Er hielt inne, was es seinem Freund ermöglichte, ihn auf den Boden zu werfen.

Der Junge schaute vom Boden aus zu ihr auf und rollte mit den Augen. »Der ist noch meilenweit weg.« Dann stand er auf, und die beiden schlenderten den Bahnsteig entlang zu den Bänken.

Ein paar Sekunden später hatte der Zug das andere Ende des Bahnsteigs erreicht, wo die Signale waren. Una war aufgeregt, weil sie sich öffentlich eingemischt hatte, empfand aber zugleich einen Anflug von Stolz. Sie hatte sich nicht nur an die sicherste Stelle des Gleises gestellt, sondern auch versucht, anderen Menschen mit ihren Fähigkeiten zur Risikobewertung zu helfen. Genau das hatte sie in ihrer Zeit in Eastbourne gelernt: Sie war zwar nicht befördert worden, aber immer noch hervorragend darin, Worst-Case-Szenarien zu erkennen. Deshalb war sie besser als jeder andere geeignet, Ken zu helfen.

Der Zug fuhr langsam ein. Die Leute warfen ihre Essensverpackungen weg und zogen die Rollkoffer zum Zug. Nur noch ein paar Sekunden, dann könnte sie zur Kante vortreten, ohne Gefahr zu laufen, auf die Gleise zu fallen. Sie steckte ihren wiederverwendbaren Kaffeebecher in den Rucksack und verschloss erst den linken Clip des Deckels, ehe sie sich an den rechten machte.

Doch der Clip fiel ihr aus den Fingern, als etwas mit lautem Knall neben ihr zerschellte. Splitter trafen sie, und der Boden wackelte unter ihren Füßen. Oder schwankte sie selbst? Ringsum bewegten sich Menschen, und der Zug fuhr jetzt noch langsamer.

»Geht es Ihnen gut?«, fragte die Möwe.

»Ich glaube schon«, antwortete sie. Sie drehte den Kopf ein wenig.

»Sind Sie sicher?« Neben Una stand eine stark geschminkte Frau in einer roten Lederjacke. Die Möwe saß zu ihren Füßen und scherte sich nicht um Una, sondern freute sich über das Chaos.

»Ich glaube schon«, wiederholte Una. »Was war das für ein Lärm? Ist ein Asteroid eingeschlagen?«

»Ich muss unbedingt diesen Zug erwischen, tut mir leid«, sagte die Frau und ließ Unas Arm los. »Ich glaube nicht, dass Sie verletzt sind. Trinken Sie viel Wasser.«

Entlang des Zugs öffneten sich zischend die Türen und schlossen sich wieder.

Una blickte auf ihre Füße hinab. Dort lagen zersplittertes Plastik und Pappfetzen. Das war eine Umverpackung gewesen. Dann sah sie das Bild auf der Vorderseite. Es war das Fußbad aus dem Tread Softly ! Wie war das hierhergekommen? Sie schaute zum Gitterzaun hinter sich, in der Erwartung, einer ihrer Bekannten aus Eastbourne würde sie anstarren, doch da stand niemand. Auch auf dem Parkplatz regte sich nichts. Ihr anfänglicher Schockzustand hatte es ihrem Angreifer ermöglicht, ungesehen zu entkommen.

Jemand hatte das Fußbad auf sie geworfen. Einer von Kens Freunden. Jemand, der wusste, dass sie heute abreisen und sich von der Bahnsteigkante fernhalten würde. Una hatte Daten über diese Person sammeln wollen und dabei eine Menge Informationen über sich selbst preisgegeben.

»Gehört das Ihnen? Haben Sie das fallen lassen?«, fragte eine Reinigungskraft, die mit Besen und Kehrblech erschienen war. »Das muss ich jetzt wohl wegräumen. Ich glaube nicht, dass Sie es reparieren können, aber vielleicht wollen Sie ein Foto für die Versicherung machen.«

Versicherungsfragen waren gerade nicht Unas Hauptsorge. Sie bewegte ihre Gliedmaßen: alles gut. Wenigstens hatte das Fußbad sie nicht am Kopf getroffen. Sie klopfte sich einige Plastiksplitter von der Jeans.

»Nein, das gehört mir nicht«, antwortete sie. »Jemand muss es über das Gitter geworfen haben.«

»Wirklich? Wenn Sie glauben, dass es jemand geworfen hat, sollten Sie damit zur Polizei gehen«, sagte der Mann. »Warum bringen die Leute ihr Zeug nicht zur Müllhalde?«

Der Zug würde gleich abfahren. Una sah, wie ein Zugbegleiter mit einer Pfeife in der Hand auf den Waggon zuging.

»Vielleicht war es ein Unfall.« Sie schritt langsam auf die nächste Tür zu, ihre Beine zitterten. Sie hatte keine Lust mehr, noch länger in Eastbourne herumzulungern. Aber wie sicher war sie im Zug?

Sie stieg ein, doch anstatt sich einen Sitzplatz zu suchen, blieb sie bei der Tür und schaute zu der Stelle, an der sie gestanden hatte. Die Reinigungskraft fegte soeben die Trümmer zusammen, unter Aufsicht der Möwe. Die Erkenntnis, was gerade passiert war, traf sie härter als das Fußbad. Jemand hatte die Kiste über das Gitter geworfen und Una treffen wollen. Entweder wollte jemand sie aus dem Weg räumen, oder er wollte, dass sie es sich zweimal überlegte, ob sie zurückkehren würde.

Wenn sie jetzt nach London fuhr, würden ihr wertvolle Informationen entgehen. Sie sollte eigentlich Bahnhof und Parkplatz nach Hinweisen absuchen. Doch sie hatte kein Verlangen nach weiteren Daten, sondern wollte – anders als das Fußbad – einfach nur heil zu Hause ankommen.

Una hielt es für unmöglich, dass ihr Angreifer über das Gitter geklettert und in den Zug gestiegen war, trotzdem beschloss sie, vorsichtig zu sein. Statt einer ruhigen Ecke suchte sie sich einen überfüllten Waggon und fand einen Sitzplatz an einem Tisch mit drei lauten Studenten. In der Menge war man sicher – außer in Eastbourne.

In ihrer Wohnung angekommen, setzte Una sich auf die Couch und stierte die Wand an. Sie hätte heute ihren letzten Atemzug tun können. Sie hatte noch kein Testament aufgesetzt. Sie hatte noch nichts für die Leute vorbereitet, die sich um ihren Nachlass kümmern würden. Sie blickte zum Bücherregal. Was würde mit all den Liebesromanen geschehen, die sie so gerne gelesen hatte? Wenigstens waren sie in aufsteigender Reihenfolge sortiert.

Als Ein-Frau-Team zu arbeiten war eine einsame Angelegenheit. Am ehesten könnte sie Anton in alles einweihen, da er am Freitag in Kens Nähe sein würde. Andererseits könnte er ihre Zahlentheorie anzweifeln oder vermuten, dass sie sich das alles nur ausdachte, um die Hochzeit platzen zu lassen. Aber es gab noch jemanden, mit dem sie sprechen könnte …

Sie schickte Amara eine SMS und fragte, ob sie Zeit habe, und bereits eine Stunde später starteten sie einen Videochat.

»Was gibt’s?«, fragte Amara. »Du siehst beschissen aus. Geht es dir gut?«

»Mir ist heute was Schlimmes passiert.«

»Inwiefern? Was ist passiert?«

Una berichtete ihr die Kurzfassung vom herabstürzenden Fußbad und ließ dabei aus, dass ein geistesgestörter Mörder es auf sie abgesehen hatte.

»Du solltest Anzeige erstatten«, meinte Amara. »Vielleicht hast du Anspruch auf Schadenersatz. Außerdem hat der Müllmann recht, das ist illegale Abfallentsorgung. Die Leute in unserer Straße stellen ständig irgendwelche Möbel vor ihre Häuser.«

»Ich wollte nur in meine Wohnung zurück.«

»Du stehst natürlich unter Schock. Ruh dich aus, du musst ja nächstes Wochenende zur Hochzeit. Klingt übrigens so, als würdest du dich allmählich mit Ken anfreunden.«

»Er ist wirklich in Ordnung«, sagte Una. »Ich hab ihn falsch eingeschätzt, aber jetzt ist es vielleicht zu spät, um unser Verhältnis wieder hinzubiegen.«

»Oh, er versteht sicher, dass es anfangs schwierig ist – ihr kennt euch ja noch nicht, stimmt’s? Warum erzählst du ihm nicht einfach dasselbe wie mir?«

»Vielleicht mach ich das. Aber ich warte damit bis nach der Hochzeit.«

»Kannst du machen, aber schieb es nicht zu lange auf. Man weiß nie, ob man seine Chance verpasst.«

Das klang zwar wie einer der Sprüche auf Amaras Kühlschrankmagneten, aber sie hatte nicht ganz unrecht. Ken war in Gefahr, und Una traute sich nicht einmal, ihm zu sagen, dass sie nichts mehr gegen ihn hatte. Sie musste sich zusammenreißen, über den Anschlag mit dem Fußbad hinwegkommen und ihn am Freitag beschützen. Am wichtigsten war es wohl, Anton einzuweihen, aber was sollte sie ihm sagen?

»Kann ich dich was fragen, Amara? Angenommen, du wüsstest, dass jemandem etwas Schlimmes zustoßen könnte …«

»Okay.«

»… und du willst ihn nicht beunruhigen, könntest aber jemandem, der ihm nahesteht, davon erzählen, damit der etwas dagegen tun kann, was du allein nicht hinbekommst. Allerdings könnte derjenige dann sehr wütend auf dich sein, weil du alles so lange für dich behalten hast … Würdest du es ihm sagen?«

Amara schwieg ein paar Sekunden lang. »Ich hab absolut keine Ahnung, wovon du redest, und du willst mir offenbar keine Details verraten. Aber ich rate dir Folgendes: Frag dich, wie derjenige, dem du es erzählen willst, wohl reagieren wird, wenn du ihn erst so spät einweihst, dass er nichts mehr bewirken kann.«

»Danke! Das ist ein ausgezeichneter Rat. Ich weiß nur nicht, wie ich es dieser Person beibringen soll.«

»Bring’s hinter dich«, sagte Amara. »Sei mutig. Und lass uns einen Termin ausmachen, wann du uns im sonnigen Leeds besuchen kommst.«

»Das würde ich gerne. Ich wäre gern wieder mal dort. Ich muss nur erst diese Hochzeit hinter mich bringen.«

Una beendete den Videocall und kam zu der irrationalen Erkenntnis, dass es weniger beängstigend war, Opfer einer Fußbadattacke zu sein, als Anton zu sagen, dass Ken vermutlich am nächsten Freitag in Gefahr schwebte – eine Befürchtung, die auf einer Theorie basierte, die mit ein paar Lottozahlen zu tun hatte. Allerdings wollte sie auf keinen Fall, dass ihr Ein-Frau-Team zu einem Null-Frau-Team wurde.