Die Kaffeebohnen verschütten
A m Donnerstagmorgen kam Una um kurz vor 8:00 Uhr wieder am Bahnhof von Eastbourne an. Auf dem Bahnsteig war nichts mehr von dem Fußbad zu sehen, allerdings glaubte sie, die Möwe wiederzuerkennen, die unweit der Stelle hockte. Una konzentrierte sich darauf, die Bahnhofshalle zu durchqueren und zur Wohnung ihrer Mutter zu gelangen. Der Tag war grau, der Himmel matt und schmierig wie der Bürgersteig, und das bedeutete, dass es keine lästigen Schatten gab wie an einem sonnigen Tag.
Der letzte Februartag war unmerklich näher gerückt wie ein Zahnarzttermin. Morgen würde ihre Mum Ken heiraten, was höchstwahrscheinlich damit endete, dass Kens Lebensversicherung zum Tragen käme. Dass Una letzten Sonntag fast von einem gebrauchten Fußbad erschlagen worden wäre, hatte ihr Selbstvertrauen angekratzt. Unter der Woche hatte sie ihre Termine und Aufgaben mechanisch bewältigt, in ihr jedoch hatte sich etwas verändert. Wie Cassie, die ihre Gabe verloren hatte, konnte sie kein Worst-Case-Szenario mehr voraussehen, da sie überall nur Katastrophen ausmachte. Und wenn man nur noch Katastrophen sah, stach die schlimmste von allen nicht mehr deutlich daraus hervor.
Selbst wenn sie morgen etwas entdeckte, das eine Gefahr für Ken darstellte, würde sie nichts dagegen tun können. Der Anschlag auf dem Bahnhof war eine Warnung gewesen, und die zeigte Wirkung. Una war jetzt auf ihre eigene Sicherheit bedacht und wusste nicht genau, ob sie noch Kapazitäten übrig hatte, um Ken zu schützen.
Langsam näherte sie sich Morningview Mansions und wich dabei Fußgängern und Rissen im Bürgersteig aus.
»Hallo, Liebes«, wurde sie von ihrer Mum begrüßt. Offenbar war sie beim Friseur gewesen: Sie hatte frische Strähnchen, und ihr Haar federte bei jedem Schritt. »Du siehst müde aus. War deine Arbeitswoche okay?«
Da die Veränderungen im Team noch nicht offiziell verkündet worden waren, hatte Una ihr übliches Einzelgespräch mit Ajay geführt, der ihr versichert hatte, dass sie nach wie vor Aufstiegschancen hatte. Tim hatte sie ein paarmal angeschrieben, aber sie hatte immer behauptet, zu beschäftigt für ein Meeting zu sein. Schließlich hatte er sie angefleht, ihr bei ihren Ermittlungen helfen zu dürfen, doch sie hatte ihn zum Schweigen gebracht, indem sie ihm ihre Notizen geschickt hatte. Es war gut, dass er sich bemühte, doch würde sie ihn auf keinen Fall als ihren neuen Manager akzeptieren. Gott sei Dank hatte sie für heute Homeoffice vereinbart …
»Geht es Ken gut?«, fragte sie, nahm das Kissen vom Sessel und setzte sich. Falls er eine Erkältung oder Verletzung hatte, müsste die Hochzeit vielleicht verschoben werden. Womöglich könnte sie ihn auch selbst verletzen? Natürlich nur so sehr wie gerade nötig.
Das Gesicht ihrer Mum hellte sich auf. »Er ist voller Tatendrang, aber heute verbringt er einen ruhigen Abend mit Anton. Chrissie und Duncan gehen mit den Mädchen zu einer alten Schulfreundin, damit er ein bisschen Ruhe bekommt. Wir dürfen uns natürlich nicht sehen, das ist Tradition. Aber er hat den Befehl, sich heute Abend auszuruhen. Und du erschreckst ihn morgen nicht, klar?«
»Nein. Mach ich nicht.«
»Wir können heute Abend auch zu Hause bleiben. Ich hab eine Flasche Weißwein im Kühlschrank. Und ein paar Cashewkerne mit Schokoüberzug. Es läuft ein neuer Commissario Montalbano .«
»Klar, Mum. Ich fange jetzt besser mit der Arbeit an, bin schon spät dran.«
»Oh, und Anton meint, ihr zwei trefft euch heute Nachmittag wegen letzter Hochzeitsvorbereitungen. Du sollst dich bei ihm melden.«
Una stellte den Rucksack im Gästezimmer ab und schickte Anton eine Sprachnachricht. Er antwortete ihr, und sie verabredeten sich um 17:30 Uhr im Café. Er wollte mit ihr die finale Fassung des Films vor der Premiere beim Hochzeitsessen durchgehen. Sie wollte ihm erzählen, dass Ken morgen einer Gefahr ausgesetzt war. Das würde ein schwieriges Gespräch werden.
Sie baute ihren Laptop auf dem Schminktisch im Gästezimmer auf und begann, diverse E-Mail-Anhänge herunterzuladen, um sie durchzusehen. Sie drapierte ein T-Shirt über dem Spiegel vor sich. Es war schon schlimm genug, bei Meetings ihr Gesicht auf dem Bildschirm zu sehen.
Dann startete sie den täglichen Videochat mit ihrem Team und schaltete ihren Ton zu.
»Guten Morgen«, sagte sie. »Ich arbeite heute von zu Hause aus.«
»Was ist das da an der Wand hinter dir?«, fragte Rachida, die IT -Leiterin, deren Gesicht das kleine Quadrat in der linken oberen Bildschirmecke vollständig ausfüllte.
Una hatte vor dem Call nicht überprüft, ob der Hintergrund für ein berufliches Meeting taugte, aber ihre Mum hatte gewiss nichts an der Wand hängen, was Anlass zur Sorge geben könnte. Noch ehe sie sich umdrehen und nachsehen konnte, erschien Tims Gesicht in einem kleinen Fenster auf dem Bildschirm. Offenbar hatte er sich bereits in seinem neuen Büro im sechsten Stock eingerichtet, ein Stapel Statistikbücher stand im Regal hinter ihm, neben seinem Pokal.
»Hallo, Leute, ich wollte nur in eure tägliche Besprechung reinhören, damit ich weiß, woran ihr arbeitet.«
»Ich freue mich darauf, mit dir zusammenzuarbeiten«, sagte Niall aus dem Graduiertenprogramm, dem man einen Schreibtisch neben den Toiletten zugewiesen hatte.
»Danke, Niall.« Tim setzte sein strahlendes »Vergiss nicht, du bist nur ein Absolvent«-Lächeln auf. »Macht bitte weiter, als ob ich gar nicht hier … Moment mal, ich wusste gar nicht, dass du Katzen magst, Una!«
Sie sah sich um. Auf der Blumentapete prangte ein Kalender, der kostümierte Katzen zeigte. Bislang hatte sie ihm keine Beachtung geschenkt, denn er war nur eins von vielen Dekoelementen im Raum. Jetzt aber war er das Einzige, was sie sah, als sie auf ihr eigenes Videofenster auf dem Bildschirm schaute. Die Februar-Katze trug Gamaschen und eine Fliege. Una war nicht einmal dazu imstande gewesen, diese Anomalie in dem winzigen Raum zu bemerken, und morgen müsste sie einen Veranstaltungsort voller Menschen überwachen.
»Ich mag keine Katzen«, sagte sie nachdrücklich, und ihr Bein begann zu jucken. »Ich mag Katzen überhaupt nicht.«
»Warum nicht?«, fragte Rachida. »Katzen sind toll. Ich liebe meine Suki. Allerdings finde ich nicht, dass man sie in solche Kostüme stecken sollte.«
»Der Kalender gehört meiner Mutter, okay? Ich bin gerade in ihrer Wohnung. Jetzt lasst uns weitermachen.«
»Klar«, sagte Tim. »Keiner verurteilt dich. Wir gehen schnurstracks zur Tagesordnung über.«
Normalerweise hätte sie über so einen guten Witz gelacht, auch wenn er von Tim stammte, doch sie konnte sich nicht zu einem Lächeln durchringen. Stattdessen grübelte sie weiter darüber nach, welche Risiken auf der Hochzeit lauern mochten.
Der Rest des Tages verlief ohne besondere Vorkommnisse. Ihre Mum brachte ihr stündlich heiße Getränke, ohne zu bedenken, wie das auf ihre Kollegen im Videochat wirken würde. Um 17:15 Uhr loggte sich Una aus und begab sich auf den Weg zum Café.
Im KeenBeanz saß Anton mit aufgeklapptem Laptop an einem Fenstertisch. Er starrte auf den Bildschirm und wippte langsam mit dem Kopf zu der Musik, die sein übergroßer silberner Kopfhörer wiedergab.
»Hallo«, sagte sie. »Kann ich dir ein Getränk spendieren?«
»Nur zu, ich lass mich gern einladen, da ich so viel Arbeit in den Film gesteckt habe«, antwortete er. »Einen doppelten Espresso, bitte.«
Sie holte die Kaffees und nahm ihm gegenüber Platz. Er drehte den Laptop um, nahm seinen Stuhl und setzte sich neben sie. Una schloss ihre Kopfhörer an und drückte auf Play.
Das Video zeigte die Fotos in chronologischer Reihenfolge. Es gab Fotos aus den Fünfzigern, als Ken noch ein Junge gewesen war. Sie waren mit einem Elvis-Song unterlegt. Die Fotos wechselten nicht nur im Takt der Musik, sondern auch manchmal von Schwarz-Weiß zu Farbe. Manche Fotos zeigten das Eastbourne jener Zeit – Menschen auf Liegestühlen am Strand, die die Sonne genossen.
»Ich habe eine Spotify-Playlist erstellt, die zu Dads Bildern passt.« Anton sah sie an, als erwarte er eine Art Lob von ihr. Sie nickte, um interessiert zu wirken, wäre aber am liebsten gleich darauf zu sprechen gekommen, in welcher Gefahr Ken schwebte.
Einige Fotos zeigten ihre Mum als Mädchen mit ihren beiden Schwestern. Dann folgte ein Bild von Una und ihren Eltern auf einem Campingplatz in den Neunzigerjahren, unter einem grauen Himmel mit Regenbogen. Una trug eine Baseballmütze für den Fall, dass die Sonne plötzlich herauskommen würde, und ihre Mum lehnte sich an ihren Dad. Sie konnte förmlich hören, wie ihre Plastikregenjacken aneinanderrieben. Amara hatte recht: Unas Mum lebte ihr Leben weiter, sie versuchte nicht, ihr altes zu vergessen.
Als Nächstes folgten Bilder von Ken und ihrer Mum mit der Bingogruppe bei verschiedenen Anlässen. Das waren die Fotos, die Una persönlich gesammelt hatte, in der Hoffnung, den entscheidenden Hinweis zu finden. Irgendetwas störte sie an einem Bild, das sie gerade gesehen hatte, aber was? Der Film lief weiter. Sie sah Harry, Eileen und Tommo, die mit ihren Freunden lachten und scherzten. Irgendwie erwachten alle Personen auf den Fotos wieder zum Leben.
»Was meinst du?«, fragte Anton, als das Video zu Ende war.
Una traten Tränen in die Augen, und sie nippte so lange an ihrem Kaffee, bis sie sie weggeblinzelt hatte.
»Du hast tolle Arbeit geleistet«, sagte sie schließlich. »Ehrlich.«
»Ich kann es kaum erwarten, den Film morgen zu zeigen. Ich hoffe nur, dass er Dad gefällt.«
»Ja. Das hoffe ich auch.« Una stöpselte ihre Kopfhörer aus und seufzte – es war sehr wahrscheinlich, dass Ken den Film nie sehen würde.
»Also …« Anton sah sie an. »Ich kann deine Reaktion nicht so ganz deuten. Hat dir der Film wirklich gefallen?«
»Ken! Ken wird morgen sterben!«, platzte es aus Una heraus. »Es tut mir leid, ich kann es nicht mehr für mich behalten. Ich weiß nicht, was ich tun soll!«
Verwirrt lehnte Anton sich zurück. »Wie meinst du das?«
»Das ist eine lange Geschichte.«
Er rückte mit seinem Stuhl wieder auf die andere Seite des Tisches. »Schieß los.«
Sie fasste für ihn alles zusammen, was sie in Eastbourne aufgedeckt hatte – die Zahlen an den Tatorten, die Verbindung zur Tippgemeinschaft und das jeweilige Datum der Todestage. Den Vorfall mit dem Fußbad ließ sie weg, da sie noch darüber nachdachte.
»Du hast das mit den Lottozahlen schon vor über einer Woche herausgefunden«, stellte Anton fest. »Warum bist du damit nicht zur Polizei gegangen?«
»Weil es keine offene Drohung gab. Ich kann bloß ein paar Zahlen vorweisen, die an verschiedenen Orten aufgetaucht sind, und anmerken, dass alle Todesfälle wie Unfälle aussehen.«
Er runzelte die Stirn. »Aber du glaubst, dass da was im Gange ist? Warum hast du mir das nicht eher gesagt?«
»Ich dachte, du wärst dann sehr wütend auf mich.«
»Jetzt bin ich auch wütend. Wenn an der Sache wirklich was dran ist, hätten wir mehr Zeit gehabt, sie zu untersuchen. Die Hochzeit ist morgen!«
Una fiel keine Erwiderung auf Antons völlig korrekte Feststellung ein.
»Ich muss jetzt zurück.« Er stand auf und ließ den Laptop in seine Tasche fallen. »Ich frage Dad nach der Lotterie und ob es irgendeinen Streit darum gab, aber Mensch, Una … Wir sehen uns morgen.«
Sie stand auf und sah ihn an. »Ich hab auf Ken aufgepasst. Das erkennst du doch jetzt sicher? Ich versuche, ihn zu beschützen.«
»Ich weiß nicht, was ich glauben soll. Vielleicht wirfst du auch alles durcheinander, weil du überall Risiken siehst. Erzähl ihm bloß nichts von seinem drohenden Untergang. Sprich ihn nicht darauf an – er darf sich nicht aufregen.«
»Das ist ein gutes Argument, und es ist wahrscheinlich besser, wenn du auch niemandem von meinem Verdacht erzählst, sonst bringst du dich vielleicht in Gefahr.«
»Keine Sorge, ich behalte deine Geschichte für mich.« Er nahm seine Jacke.
»Aber was ist mit der Rede?«, fragte sie. »Die Generalprobe?«
»Hör zu, Una, vergiss die Rede. Ich muss jetzt los. Ich muss das alles erst einmal verarbeiten.«
Nachdem er gegangen war, setzte sich Una wieder hin, trank ihren Kaffee aus und schob die Tasse von sich. Sie hatte geglaubt, wenn sie Anton einweihte, würde sie weniger Angst haben. Ihre Mum meinte immer, geteiltes Leid sei halbes Leid, doch Una hatte es irgendwie geschafft, alles noch schlimmer zu machen.
Sie erhob sich. »Wiedersehen«, sagte sie zu dem Mann am Tresen.
»Bis bald«, erwiderte er. »Möchten Sie eine Treuekarte haben? Mir ist aufgefallen, dass Sie in letzter Zeit ziemlich oft hier waren. Wir können Ihnen gern schon zwei Felder abstempeln.«
»Danke«, sagte sie. »Aber ich glaube nicht, dass ich im Moment eine Treuekarte verdiene.«