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Das Muster zeichnet sich ab

A ls die Gäste im Festsaal gemäß dem Sitzplan Platz nahmen, der so sorgfältig zu ihren Gunsten erstellt worden war, klingelte Unas Handy. Ken schwebte noch immer in Gefahr, also musste sie unbedingt erfahren, was Anton herausgefunden hatte, egal wie trivial es sein mochte. Sie nahm ihr Telefon, doch im selben Moment schoss eine Hand vor und entwand es ihrem Griff.

»Du nimmst auf meiner Hochzeit keine beruflichen Anrufe entgegen, vielen Dank.«

»Aber Mum, das ist kein Anruf von der Arbeit.«

»Ich weiß, dass dir dein Job wichtig ist, aber lass uns jetzt einfach gemütlich essen.«

»Ich stelle es auf lautlos.«

Unas Mum wedelte mit einem Finger vor ihr herum und ließ das Smartphone in ihrer Handtasche verschwinden.

»Nur für die Dauer des Essens«, sagte sie.

Das Hochzeitsessen verlief ohne weitere Todesopfer. Una hatte vom obersten Tisch aus alle Verdächtigen gut im Blick.

Als Nächstes standen die Reden auf dem Programm. Anton klappte sein Moleskine-Notizbuch auf, bog kräftig den Buchrücken durch und legte es dann flach auf die Tischdecke. Er war nur wenige Meter von Una entfernt, und sie sah, dass er zitterte.

»Ich danke euch allen, dass ihr zu diesem frohen Anlass – der Hochzeit von Ken und Sheila – gekommen seid.« Gegen Ende des Satzes klang seine Stimme belegt. »Als Trauzeuge möchte ich gerne ein paar Worte sagen. Zuerst über meinen Dad, den viele von euch kennen. Ich hatte im Laufe der Jahre meine Höhen und Tiefen, aber er hat mich immer ermutigt, meine Ziele im Leben zu verfolgen. In unserer Familie ist er der Fels in der Brandung. Der Rock … und das Roll.«

Er hielt inne und trank einen Schluck Wasser, während im Publikum leise gemurmelt wurde.

»Vor etwa acht Wochen erzählte er mir, dass er Sheila heiraten wolle. Ich kam her, lernte Sheila und Una kennen, und die beiden gaben mir sofort das Gefühl, willkommen zu sein. Ich konnte sehen, wie glücklich mein Dad war – vor allem, weil er eine große Party plante.« Antons Redefluss hatte sich ein wenig beschleunigt, doch die Zuhörer reagierten nicht auf seine kleine Pointe. Er holte tief Luft. »Ich war ursprünglich nicht als Trauzeuge vorgesehen, sondern Tommo, und ich bin sicher, er ist irgendwie hier, um mit uns allen anzustoßen. Vielen Dank an Sheilas Freundin Margaret für die schöne Blumendekoration, die sie für die Hochzeit gemacht hat. Ich weiß, es ist üblich, dass der Trauzeuge ein paar witzige, pikante Anekdoten über den Bräutigam erzählt, aber da mir nicht viel an Konventionen liegt, sage ich einfach: Ich liebe dich, Dad. Bitte hebt eure Gläser auf Ken und Sheila!«

Das folgende Crescendo von Gläserklirren jagte Una eine Gänsehaut über den Rücken. Die Rede war recht kurz ausgefallen, kam aber beim Publikum gut an, und Anton nippte an seinem Sekt. Una freute sich für ihn.

Kens Augen waren nach Antons Ansprache gerötet. Er beugte sich zu ihr.

»Willst du auch ein paar Worte sagen, Una?«, fragte er. »Über deine Mutter?«

Sie erschauderte. Es war nie zur Sprache gekommen, dass sie selbst ebenfalls eine Rede halten sollte. Wollte Ken sie öffentlich demütigen? Ziemlich unverfroren, wenn man bedachte, dass Una heute auf ihn aufpasste und einer der Gäste bereits seine Todeszahl in der Tasche oder Handtasche aufbewahrte.

»Das musst du nicht«, versicherte Unas Mum. »Das ist sowieso keine traditionelle Hochzeit.«

»Wenn du sagst, ›ich muss nicht‹, klingt das so, als ob ich doch muss«, erwiderte Una.

»Una kann gut Reden halten.« Antons Wangen waren noch immer vor Erleichterung gerötet. »Sie hat mir für heute sehr viel Mut gemacht.«

Ken erhob sich und schlug mit einer Gabel an sein Glas. »Und jetzt ein paar Worte von der Tochter der Braut.«

Una stand auf. Ihr Kopf war leer. Die Menge starrte sie an. Tisch 9 hatte sich irgendwie verschoben und stand nun zwar topologisch, aber nicht topografisch korrekt, was sie störte. Ihre Lippen fühlten sich seltsam träge an. Nun, bestimmt war noch nie jemand an Betretenheit gestorben. Es war ihr so leichtgefallen, Anton Ratschläge zu erteilen, und jetzt stierten alle sie an. Ken hatte dazu geraten, sich die Leute im Saal nackt vorzustellen, doch das half nicht.

Es war still im Raum. Die Aufmerksamkeit der Zuhörer lastete auf ihr.

»Ich danke allen, dass ihr euch die Mühe gemacht habt, heute zu diesem glücklichen Anlass zu erscheinen.« Ihr Tonfall klang alles andere als souverän. »Was soll ich über meine Mutter sagen? Sie ist in den Sechzigern aufgewachsen und hat mal Keith Richards getroffen.«

Einige Gäste lachten. Was gut war, auch wenn sie gar keinen Scherz hatte machen wollen.

»Vor sechs Monaten traf sie Ken, den ich immer noch kennenlerne. Bis jetzt kann ich über ihn nur sagen, dass er die Art von Mensch ist, die man erst kennenlernen muss. Aber wichtig ist nur, dass er meine Mutter sehr glücklich macht. Ich wollte nicht, dass sie den Rest ihres Lebens allein verbringt – obwohl es durchaus in Ordnung ist, sich fürs Alleinleben zu entscheiden, das sollte die Gesellschaft nicht stigmatisieren. Aber ich glaube nicht, dass sie als Single glücklich gewesen wäre.«

Sie brauchte einen Abbinder für ihre Rede – das Glück war mit den Zurückhaltenden.

»Also. Nun gut. Stoßt nicht mehr mit den Gläsern an, das habt ihr schon getan. Trinkt stattdessen nur einen kleinen Schluck auf Ken und Mum.«

Sie nahm wieder Platz. Die Menge wirkte verwirrt, aber nicht so sehr, dass sie sich die Gelegenheit auf einen weiteren Schluck Sekt entgehen ließ.

Ken klatschte energisch. »Danke, Una.«

»Sehr besinnlich.« Unas Mum legte ihr den Arm um die Schultern und drückte sie. »Du kannst dein Handy jetzt wiederhaben.«

»Danke.«

»Und noch was«, flüsterte ihre Mum. »Behältst du bitte Ken im Auge und sorgst dafür, dass er sich heute nicht zu sehr aufregt? Ich befürchte, er könnte es übertreiben.«

Una bezweifelte, dass sie Ken und seinen Enthusiasmus zu zügeln vermochte.

»Ich gebe mein Bestes«, versprach sie dennoch.

Als die Reden gehalten waren, standen die meisten Leute auf und verteilten sich im Raum, und in diesem Moment startete das Video auf dem großen Bildschirm hinter dem Brauttisch. Obwohl Una es schon am Vortag gesehen hatte, schaute sie es sich noch einmal an. Ein Foto mit Tommo erschien auf dem Bildschirm – es zeigte ein gemeinsames Essen, bei dem alle in die Kamera lächelten. Eileen saß darauf in einem ungünstigen Winkel am vorderen Tischende, mit dem Rücken zum Fotografen, doch sie hatte sich unbeholfen umgedreht, um ihr Gesicht zu zeigen. Ihr dicker Pullover erleichterte ihr das nicht gerade. Ein Pullover, der dem ähnelte, den Una vor ein paar Wochen im Tread Softly gesehen hatte. Er hatte Harry gehört. Sie betrachtete das Strickmuster – eine Reihe von Schnörkeln? Nein, eine Zahl: die 22. Das Foto von Eileens Pullover wich einem Bild von Ken, der als Vampir verkleidet war und ein Knicklicht hielt.

Una dachte über die Zahl nach. Der Pullover und die Ziffer waren identisch zu dem von Harry – sie hatte gedacht, seiner zeige ein Muster aus winzigen Zweien, aber es hätte auch die 22 sein können. Das war keine der Lottozahlen, also worin bestand die Verbindung?

Sie stand auf und fühlte sich wacklig auf den Beinen – es war ungewohnt, Kitten Heels statt flache Schuhe zu tragen. Als sie sich umsah, erblickte sie Jean und John, die es sich auf zwei Stühlen am Fenster bequem gemacht hatten und das Hotelgelände betrachteten.

»Jean, der Pullover, den du in deinem Laden hattest, Harrys Pullover, hatte der etwas mit Cassie zu tun?«

»Ja, sie hat ihn gestrickt.«

»Und was ist mit der Nummer auf dem Pullover? Was bedeutet sie?«

»Nummer? Keine Ahnung«, erwiderte Jean. »War da eine Nummer drauf? Ich weiß es nicht mehr. Vielleicht hatte sie für Cassie eine astrale Bedeutung. Ich selbst habe lieber Wörter auf Pullovern, wie ›Plüsch‹, das ist ein wunderbares Wort.«

»Was?«, fragte Una.

»Du hast uns gar nicht gesagt, was für eine Zahl auf dem Pullover war«, sagte John.

»Wie bitte?«, fragte Una.

»Eine ganze Zahl?«

»Ja. Eine ganze Zahl, 22.«

»Verstehe«, erwiderte John. »Tja, ich habe keine Ahnung, warum sie diese Zahlen strickt. Sie hat schon vor Weihnachten damit angefangen.«

»Hoffentlich bekomme ich nicht auch so einen von ihr.« Jeans Rattanband bebte vor Empörung. »Die Dinger sehen so unförmig aus, ich würde mich nicht mal als Leiche damit blicken lassen. Holen wir dir noch ein Light-Bier, John. Ich genehmige mir noch ein Glas Mimosa.«

Jean und John schlenderten davon und ließen Una unzufrieden zurück. Sie erblickte Anton, der neben dem Schokoladenbrunnen Fotos schoss, und ging hinüber.

»Anton, der Film! Ich glaube, ich hab eine Art Verbindung zu den Zahlen entdeckt.«

»Du hast nicht auf meine Nachricht geantwortet«, entgegnete er.

»Mum hat während des Essens mein Handy konfisziert. Klär mich auf.«

»Es geht um Cassie.«

»Was ist mit ihr?«

»Ich hab gestern Abend mit Dad geplaudert und den Lottogewinn erwähnt, um herauszufinden, ob es Ärger wegen der Zahlen gab.«

»Das hab ich ihn schon alles gefragt«, erwiderte Una verärgert.

»Na ja, ich dachte, ich sollte ihn auch mal danach fragen. Ich wollte mich über diese Tippgemeinschaft informieren, denn die klang ein bisschen zusammengeschustert. Obwohl ich das selbst wohl auch nicht viel besser organisieren würde.«

Una sah ihn ein wenig milder an. »Entschuldige, was hast du rausgefunden?«

»Dad meinte, nach dem Streit mit Cassie habe Arthur ihren Platz eingenommen und damals seien alle davon ausgegangen, dass er ihre Nummer übernimmt. Aber er hat die 23 gewählt. Was verrückt ist. Denn hätte er Cassies Nummer behalten, hätten sie den Jackpot gewonnen! Wie hoch sind die Chancen für so was?«

Una wollte nicht spekulieren. »Meinst du, die anderen waren sauer auf Arthur, weil er Cassies Nummer nicht übernommen hat? Und Cassie war bestimmt wütend, weil sie die Tippgemeinschaft verlassen musste, die mit ihr ein paar Wochen später den Jackpot gewonnen hätte.«

»Das hab ich Dad auch gesagt. Er meinte nur, was ein Rentnertrupp wie ihrer mit einer Million Pfund anfangen sollte? Aber dann hat er aufgezählt, wofür er das Geld ausgegeben hätte. Cassie war wohl außerdem der Meinung, dass es Unglück bringen würde, wenn sie in der Tippgemeinschaft bleibt, daher ist ihr der Gewinn der anderen angeblich egal gewesen. Obwohl sie das bei sechs Richtigen vielleicht anders gesehen hätte.« Er zuckte mit den Schultern. »Na ja, das hilft uns nicht sonderlich weiter, aber ich dachte, ich lass es dich wissen. Ich habe immer noch keine Ahnung, was ich mit dem ganzen Kram anfangen soll, den du mir gestern erzählt hast.«

»Die Teile fügen sich allmählich zu einem Bild zusammen«, sagte Una. »Cassie hat in den letzten Monaten Pullover für die anderen gestrickt. Ich hab eben im Film gesehen, wie Eileen einen davon trug, mit der Nummer 22 auf der Vorderseite. Harry hatte auch einen. Hätten sie die 22 behalten, hätten sie den Jackpot geknackt. Sie denkt, der Gewinn hätte ihr zugestanden. Vielleicht ist das ihre Art, allen zu zeigen, dass sie jetzt vom Unglück verfolgt werden. Eine Art Fluch …«

»Ziehst du da nicht voreilige Schlüsse?«, fragte Anton. »Wahrscheinlich verarscht sie die anderen nur mit ihren schrecklichen Pullovern und erfindet dramatische Visionen.«

»Wenn ich so darüber nachdenke, hat Cassie vorhin im Hotel nicht viel zu mir gesagt. Sie hat mir nur dieses sperrige, in Weihnachtspapier verpackte Geschenk zugeworfen. Da ist etwas Weiches, Flauschiges drin. Wie in dem Päckchen, das Tommo einen Tag vor seinem Baumarktbesuch bekommen hat.«

»Genau aus diesem Grund kaufe ich nur neutrales, nicht anlassbezogenes Geschenkpapier«, erklärte Anton.

»Da könnte ein Pullover drin sein. Lass uns nachsehen.«

Sie gingen in die Garderobe und durchwühlten die Präsente, bis Una Cassies Päckchen fand.

»Ich hab ein schlechtes Gewissen, wenn ich es öffne«, gestand sie.

Anton winkte ab. »Die werden sowieso bald geöffnet. Ich mach’s.«

Er riss das Papier auf. Ein Pullover kam zum Vorschein, ein schlichter weißer Pullover mit einem roten Muster, das beim Auseinanderfalten die Zahl 22 ergab.

»Du hattest recht«, sagte er. »Dad hat auch so einen bekommen.«

Er löste die Karte mit dem glitzernden Weihnachtsbaum vom Geschenkpapier und las: »Herzlichen Glückwunsch, Sheila und Ken. Hier ist einer meiner berühmten Pullover für dich, Ken – bitte pass auf dich auf.«

»Da hast du’s«, zischte Una panisch. »Sie warnt ihn vor.«

»Wirklich?« Anton runzelte die Stirn. »Ich weiß nicht. Ich sehe ein, dass diese Pullover irgendeine Rolle spielen. Aber wie gesagt, sie will die anderen vielleicht nur damit ärgern. Darin ist sie ziemlich gut. Im Ernst, Dad hat steif und fest behauptet, dass ihr der Lottogewinn egal ist. Sie wollte sich nicht einmischen.«

»Das Risiko können wir nicht eingehen«, sagte Una. »Wenn dir Ken am Herzen liegt, musst du heute ununterbrochen für seine Sicherheit sorgen.«

Anton sah ihr in die Augen. »Falls auch nur die geringste Gefahr besteht, dass ihm heute jemand etwas antut, bin ich zur Stelle.«

»Großartig.« Una seufzte erleichtert. »Also, wo ist er?«