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Schau nicht hoch

I ch versuch’s auf seinem Handy«, sagte Anton, während Una den Pullover wieder zusammenfaltete.

»Er hat es wahrscheinlich vor der Trauung ausgeschaltet«, erwiderte sie. »Wir hatten unsere Anordnungen.«

»Ich krieg keine Verbindung. Ich sehe mich mal um. Vielleicht ist er in den Park vorm Hotel zurückgegangen.«

»Okay, ich schaue im Festsaal nach. Wir treffen uns in fünf Minuten wieder hier.«

Una kehrte in den Saal zurück, wo sich die Gäste tummelten, die während der Unterbrechung des Tagesprogramms nichts mit sich anzufangen wussten. Sie entdeckte Arthur am Rand einer Gruppe, die ihn nicht ins Gespräch einzubeziehen schien. Zweifellos lauschte er Klatsch und Tratsch, den er an anderer Stelle weitergeben würde. Und genau das machte ihn zu einer guten Informationsquelle.

»Hallo, Arthur«, sagte sie.

»Schau mal, wer da ist«, gab er zurück. »Meine Londoner Immobilienfreundin. Ganz schön aufgetakelt heute. Du solltest dich öfter so anziehen.«

»Ich zieh mich bald um, danke.« Una schaute sich im Raum um. »Ist Ken hier?«

»Er meinte, er will zum Friedhof, um das Grab seiner Schwester zu besuchen. Er will ihr Respekt zollen. Ken ist so. Er ist ein Menschenfreund.«

Die Enthüllung traf Una wie ein Schlag ins Gesicht. Der Friedhof war der einzige Ort, an den sie heute nicht gehen durfte. Cassie hatte sie davor gewarnt. War das Absicht gewesen? Wollte Cassie ihr womöglich Angst einjagen, um sie von dort fernzuhalten?

»Was ist mit Cassie?«, fragte sie. »Hast du sie in letzter Zeit gesehen?«

»Ehrlich gesagt, bekomme ich bei ihr immer eine Gänsehaut. Ich finde, man sollte sich nicht im Jenseits rumtreiben. Was hast du denn mit ihr zu tun? Kann ich irgendwie helfen?«

»Nein, ist schon gut. Ich wollte sie nur nach einer Zahl fragen, die für sie wichtig ist. Die Nummer 22. Aus der Zeit, als sie noch Lotto gespielt hat.«

»Mein Gott«, Arthur prustete helles Ale auf Una. »Erwähne dieser Frau gegenüber nicht die Lotterie.«

»Warum nicht?«

»Na ja, angeblich kommt sie damit klar. Hätte ich an einem Gewinn beteiligt sein können, wäre aber leer ausgegangen, würde ich an ihrer Stelle Galle spucken.« Er ahmte die Geste nach. »Vielleicht wartest du besser ab, bis sich der Staub gelegt hat.«

»Und hast du dich über den Lottogewinn gefreut?«

Arthur seufzte. »In mancher Hinsicht ist er eher eine Last als ein Segen. Aber deine neue Familie wird davon profitieren, da bin ich mir sicher. Ken hat vor, sich einen Whirlpool zuzulegen. Das ist super. Hast du in London einen Whirlpool?«

»Nein. Ich habe keine Außenfläche, ich kann nirgends einen aufstellen. Danke für die Info.«

»In mir steckt viel mehr, als die Leute glauben.« Arthur blickte ein wenig traurig in sein Bierglas, in dem nur noch ein kleiner Schluck übrig war.

Es gehörte zu Unas Beruf, Daten über Alter, Gesundheit und Wohnort zu analysieren und Erkenntnisse daraus zu gewinnen. Hier hingegen hatte sie es mit psychologischen Motiven, Sternzeichen sowie Klatsch und Tratsch zu tun.

»Na schön, ich gehe jetzt besser weiter«, sagte sie. »Wenn du Ken siehst, sag ihm bitte, dass ich ihn suche.«

Sie hielt nach Anton Ausschau. Er war mit ihrer Mum im Hotelfoyer und hörte Chrissies Tochter Scarlet zu, die ihre Ansichten über Elsa aus Die Eiskönigin preisgab.

»Ich gehe nach oben in die Suite und ziehe mich um«, verkündete Unas Mum. »Was ist mit dir?«

»Ich lass das Kleid vielleicht noch eine Weile an«, antwortete Una. »Langsam gewöhne ich mich daran.«

Ihre Mum musterte sie von Kopf bis Fuß. »Brauchst du Blasenpads für deine Schuhe?«

Die brauchte sie – sogar dringend. Aber wenn sie Ken retten wollte, musste sie den Gedanken an eine gute Durchblutung ihrer Füße verdrängen und die silbernen Scheuerriemen in Kauf nehmen.

»Ehrlich gesagt hat Lilah recht behalten. Sie sind so bequem wie Hausschuhe.« Nicht dass sie jemals Pantoffeln getragen hätte. Die boten stets unzureichenden Halt auf Laminatböden.

Ihre Mum nickte auf eine Weise, die Una verriet, dass sie ihr nicht glaubte, und stieg dann die Treppe zur Hochzeitssuite hinauf.

»Ken ist auf dem Friedhof«, wisperte Una Anton zu. »Wir müssen los.«

Anton entschuldigte sich bei Scarlet, und gemeinsam eilten sie aus dem Hotel und die Straße hinunter.

Als sie am Haupttor des Friedhofs ankamen, blieb Anton stehen.

»Ich sehe ihn. Du hast recht, er steht am Grab von Tante Sandra, das liegt ein wenig weiter hinten.« Er machte sich auf den Weg über die Wiese.

»Ich glaube, ich sollte lieber hierbleiben«, sagte Una. »Cassie hat mir prophezeit, dass etwas Schlimmes passiert, wenn ich den Friedhof betrete. Ich hatte schon ein Erlebnis am Bahnhof.«

Anton blieb stehen. »Am Bahnhof? Du hast bisher nichts von einem Bahnhof erzählt.«

»Geh du nur, pass auf Ken auf. Außerdem ist es besser, wenn ich hier warte. Ich kann dir eine Nachricht schicken, falls sich jemand nähert.«

»Okay, ich bleibe bei ihm. Bei ihm scheint alles in Ordnung zu sein – deine Sorge ist sicher unbegründet.«

Anton schritt im Slalom zwischen den Grabsteinen hindurch auf Ken zu, der in seinem Hochzeitsanzug vor dem Grab stand. Weiter oben am Weg, der am Friedhof entlangführte, entdeckte Una einen kleinen Schuppen aus rotem Backstein. Eilig huschte sie hinüber und versteckte sich daneben. Auf diese Weise könnte sie sich von den Gräbern fernhalten und trotzdem nach sich nähernden Leuten Ausschau halten. Außerdem war sie dicht genug am Grab, um Ken und Anton belauschen zu können.

»Sheila meinte, sie will später vorbeikommen, um vor der Party noch etwas Zeit an Bobs Grab zu verbringen«, sagte Ken. »Also dachte ich, ich schaue mal nach, ob man das Grab in Ordnung bringen muss, und dann kam ich auf die Idee, Sandra Hallo zu sagen und ihr meine Neuigkeiten zu erzählen.«

Una sah, wie er die diamantbesetzten Manschettenknöpfe abnahm und sich die Ärmel hochkrempelte.

»Gute Idee, das ist sehr anständig von dir.«

»Tolle Rede, übrigens«, lobte Ken. »Tempo und Vortrag waren gut. Du musst nur noch am Timing deiner Witze arbeiten, aber du hast das Zeug zu einem guten Bingo-Ansager, falls es in London nicht klappt.«

Anton stellte sich neben ihn. »Ich werde das bei meinen Karriereplänen berücksichtigen.«

Ken legte den Arm um ihn, was ihm ein bisschen schwerfiel, da Anton deutlich größer war als er. »Ich bin froh, dass du, Chrissie, Duncan und die Mädchen heute hier sind.«

Anton lächelte ihn an. »Ich bin froh, hier zu sein.«

Ken wischte sich mit den Händen über die Augen. Una kamen die Tränen – wahrscheinlich lag das nur an den Spiegelneuronen in ihrem Gehirn, die auf Ken reagierten.

»Soll ich dir mein Taschentuch geben?«, fragte Anton.

»Nein, ich möchte nicht, dass dein schönes Einstecktuch schmutzig wird. Mir geht es gut. Tief durchatmen, Kenneth, tief durchatmen.« Ken stemmte die Hände in die Hüften und schwieg ein paar Sekunden lang. »Glaubst du, Una fängt sich wieder?«, fragte er. »Ich werde aus ihr nicht schlau. Ich hab’s versucht, weißt du, ich hab mich bemüht.«

»Das weiß ich. Aber was sie heute in ihrer Rede über dich gesagt hat, trifft auch auf sie zu: Man braucht Zeit, um sie kennenzulernen, das ist alles. Ich werde manchmal auch nicht schlau aus ihr. Aber ich weiß, dass sie heute auf dich aufpasst, auch wenn es nicht so rüberkommt.«

Unas Nacken begann zu schmerzen, weil sie um die Ecke des Schuppens lugte, doch sie bemerkte es kaum. So also dachten Ken und Anton wirklich über sie. Vielleicht war es den beiden schwergefallen, sie einzuschätzen, weil Una so erpicht darauf gewesen war, Informationen über sie zu sammeln? Sie hatte Ken verdächtigt, seine Freunde umgebracht und eine Affäre mit Rosa gehabt zu haben, doch inzwischen wusste sie, dass sie sich geirrt hatte.

Möglicherweise hatten sie recht mit dem, was sie über Una gesagt hatten, und je mehr sie darüber nachdachte, desto wahrscheinlicher schien das zu sein. Wie sollte sie ihr Vertrauen zurückgewinnen? Das war kein Problem, das sie mit Zahlen lösen könnte. Und es ließ sich auch nicht lösen, indem sie in einem dünnen Schößchenkleid zitternd neben einem Friedhofsschuppen stand.

»Ich fülle nur etwas frisches Wasser in die Vase und schmeiße die Blätter in den Eimer«, sagte Ken. »Und dann sehen wir noch mal kurz nach, ob Bobs Grab in Ordnung ist, bevor wir zurückgehen.«

Er näherte sich dem Schuppen. Una entdeckte einen Wasserhahn an der Schuppenwand, was ihr seltsam vorkam. Dann jedoch wurde ihr klar, dass er für die Friedhofsbesucher gedacht war, die ihre Blumenvasen füllen wollten.

Ken durfte nicht herausfinden, dass sie ihr Gespräch belauscht hatte, also betrat sie den Schuppen und versteckte sich hinter der Tür. Sie hörte, wie er sich näherte und mit einiger Mühe den Wasserhahn aufdrehte. Hoffentlich würde er nicht in den Schuppen schauen. Im Inneren war es dunkel, und sie hörte ein Kratzen auf dem Dach – zweifellos ein Vogel oder ein kleines Säugetier. Sie versuchte, nicht auszuflippen, aber das Tier über ihr machte ziemlich viel Lärm. Im Schuppen war es düster und feucht; mit Mühe erkannte sie die Umrisse einer Blechdose, deren Etikett vor dem giftigen Inhalt warnte. Wieso hatte sie sich nur diesen Verschlag des Schreckens ausgesucht? Von außen hatte er harmlos gewirkt, doch er barg lauter Gefahren. Sie musste hier raus. Una drückte ihr Ohr an die Tür und hörte Schritte, die sich entfernten.

»Super«, hörte sie Ken sagen. »Wenn ich hier fertig bin, können wir zurückgehen und auf der Tanzfläche einen Boogie hinlegen. Inzwischen müssten die Tische abgeräumt sein. Das ist ein hübsches Fleckchen hier, nicht wahr? Es würde mir nichts ausmachen, an so einem Ort die letzte Ruhe zu finden. Aber da drüben ist es ein bisschen abschüssig. Komm, ich zeige dir den Teich am Fuß der Senke.«

Una musste sich erneut geirrt haben. Offenbar war Ken in Sicherheit, und bald würde er wieder unter den Hochzeitsgästen sein. Sie öffnete die Tür einen Spaltbreit und spähte hinaus. Anton und Ken standen jetzt am Rande einer hohen Böschung, direkt neben Sandras Grab.

Als sie auf die Schwelle des Schuppens trat, hielt sie sich an ihre neue persönliche Sicherheitsregel, die besagte: Schau an jeder Tür nach oben, um Verletzungen durch Blumenampeln oder Fußbäder zu vermeiden. Doch statt in den offenen Himmel blickte sie in ein bernsteinfarbenes Augenpaar, das sie anstierte. Ein sehr vertrautes Augenpaar.